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INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)


Kluft zwischen Professionalität und mitmenschlicher Solidarität

Gespräch mit Michael Winkler am 14. September 2012 in Hamburg

Michael Winkler im Portrait - Foto: © 2012 by Schattenblick

Michael Winkler
Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Michael Winkler hat Pädagogik, Germanistik, Neuere Geschichte und Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg studiert. Seine Promotion schloß er 1979 und seine Habilitation 1986 ab. Nach zwei Gastprofessuren und einer Lehrstuhlvertretung wurde er 1992 zum Professor für Allgemeine Pädagogik der Friedrich-Schiller-Universität in Jena berufen. Bis 2008 gehörte sein Lehrstuhl dort zum Institut für Erziehungswissenschaft, dessen Direktor Winkler zweimal war. Danach wechselte er als Direktor ins neugegründete Institut für Bildung und Kultur. Neben seiner anhaltenden Tätigkeit an der Universität Jena übte er Gastprofessuren aus, zuletzt im Sommersemester 2012 an der Universität Wien.

Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg hielt Michael Winkler eines der drei einführenden Impulsreferate. [1] Im weiteren Verlauf des Kongresses beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick: Beim gestrigen Auftakt des Kongresses stand der Begriff des Sozialen im Mittelpunkt. Ich hatte den Eindruck, daß Sie in Ihrem Impulsreferat das Thema der Tagung nahezu umgekehrt haben.

Michael Winkler: Es waren mehrere Gründe, die mich dazu bewogen haben. Zunächst einmal habe ich hervorgehoben, daß man über das Soziale wie ein Soziologe sprechen sollte, und in dieser Hinsicht ist meines Erachtens nach wie vor Émile Durkheim [2] das Vorbild. Dieser sagt, die Gesellschaft sei ein machtvoller Apparat, der sich auch in unserer Psyche festsetzt und hochgradig verdinglicht, verselbständigt sein kann. Das haben Durkheim und Noelle-Neumann [3] nachgewiesen, wobei letztere den schönen Spruch geprägt hat: Alle, aber nicht jeder. Da sind also Mechanismen am Werk, über die wir uns im klaren sein müssen. Wir dürfen uns nicht blind auf Gesellschaft verlassen, weil diese etwas Machtvolles ist, das sich ganz unabhängig von unseren Absichten durchsetzt. Insofern muß man in diesem Zusammenhang - und das war nicht zuletzt auch meine Intention - an die Kritische Theorie denken. Wenn man heute Adorno liest, ist man völlig überrascht, daß er immer wieder sehr kritisch über soziale Integration spricht. Während die Auffassung vorherrscht, man müsse sicherstellen, daß sich alle integrieren können, hat Adorno geradezu einen Horror davor und warnt entschieden vor einer gleichmachenden Struktur, die uns in dieses System hineinführt. Gesellschaft ist nicht per se etwas Gutes, da aus ihr auch massive negative soziale Mechanismen wie etwa rassistische Tendenzen hervorgehen können. Wir sollten uns daher hüten, von d e r Gesellschaft zu sprechen, ohne einen analytischen Schritt weiter zu gehen und zu fragen, um was für eine Gesellschaft es sich eigentlich handelt. Dann stellt sich eine weitere Frage ein, die wir letztendlich normativ beantworten müssen: Ist das die Gesellschaft, sind das die Formen des Miteinanders, die wir tatsächlich haben wollen?

SB: Also darf man diese Begriffe nicht unhinterfragt oder ungeklärt in der Debatte voraussetzen und verwenden?

MW: Das ist ganz entscheidend. Man kann deswegen bei den Eröffnungsveranstaltungen des Kongresses niemandem böse sein, da es im weiteren Verlauf zu einer immer weiteren Differenzierung kommen wird. Ich denke aber schon, daß wir heute oftmals dazu tendieren, sehr pauschal zu sprechen, weil wir andernfalls keine mediale Aufmerksamkeit bekommen. Alles, was länger als 20 Sekunden dauert, wird normalerweise sofort wieder abgeschaltet oder beschleunigt reproduziert. Man sollte bei allem, was man formuliert, immer wieder nachfragen, was man eigentlich gesagt hat und was als Zusatzbemerkung erforderlich wäre. Man müßte es also wie Hegel halten, der in seiner Rechtsphilosophie Zusatzbemerkungen eins, zwei, drei und vier macht, weil es anders für das Denken nicht funktioniert. Das beißt sich natürlich mit den Erfordernissen eines solchen Kongresses, in der Außendarstellung schlagkräftig zu argumentieren.

SB: Ist denn die Frage überhaupt gewürdigt worden, in welchem Maße Sozialarbeit in ihrer integrativen Funktion so weit geht, gesellschaftserhaltend oder gar staatstragend zu werden?

MW: Also in meiner Wahrnehmung nicht. Und das ist eigentlich eine geradezu paradoxe Erfahrung. Ich bin geprägt von den Nachklängen der 68er Bewegung und insbesondere dem Jugendhilfetag 1971 in Nürnberg. Eines war in meinem Studium ein völlig selbstverständlicher Satz: Pädagogik genauso wie Sozialpädagogik und Soziale Arbeit ist im Grunde dazu da, sich überflüssig zu machen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal mit Blick auf die Gesellschaft, weil diese nach dem damaligen politischen Verständnis der Sozialen Arbeit dahingehend geändert werden müsse, daß sie ihrer nicht mehr bedarf. Und genauso hinsichtlich der Pädagogik: Kindern müsse ermöglicht werden, selbständig und mündig zu werden. Heute heißt es hingegen in der Sozialen Arbeit immer, es müsse noch mehr von ihr geben, und dies ohne nachzufragen, was das eigentlich bedeutet. Produzieren und reproduzieren wir nicht dasselbe, was wir in der Gesellschaft täglich erleben, indem wir uns zugute halten, noch professioneller geworden zu sein? Wenn wir es rundweg begrüßen, mehr denn je in Anspruch genommen zu werden, erinnert mich das an die Kontroverse um Katharina Rutschky [4], die damals herbe Kritik einstecken mußte, als sie im Kontext der Kinderschutzdebatten warnte, daß es dabei nicht zuletzt darum gehe, professionelle Themen und Arbeitsplätze sicherzustellen. Ich fürchte, das ist nicht von der Hand zu weisen und gerät zunehmend in Vergessenheit.

Natürlich ist es eine schwierige Geschichte, wenn Studierende der Sozialen Arbeit als ersten Satz im Studium hören, es sei ihre Aufgabe, sich im Grunde überflüssig zu machen. Da kriegt man einen Horror und sagt sich, mein Arbeitsplatz ist futsch. Dennoch müssen wir mit Blick auf unsere grundsätzliche Haltung darüber nachdenken, daß wir eigentlich überflüssig werden sollten. Menschen sollen auf uns nicht mehr angewiesen sein und zwar weil sie in Verhältnissen leben, die sie selber bestimmen, weil sie in einer Gesellschaft leben, die ein einigermaßen gutes Leben ermöglicht.

SB: Könnte das nicht, was eine zugewandte Arbeit betrifft, sehr viel intensiver sein, als nach positiven Idealen zu streben? Es muß ja nicht bedeuten, daß man in der Negation untätig würde.

MW: Das ist etwas, was mich des öfteren fürchterlich umtreibt. Wenn ich mich im Feld gründlich umsehe, was empirisch gemacht wird, erkenne ich eine Spaltung. Es gibt einerseits die modernen Sozialtechniker, Verwaltungsfüchse, Manager des Sozialen und auf der anderen Seite diejenigen, die beispielsweise in der Straßensozialarbeit oder in der Heimerziehung tatsächlich mit Menschen zusammenarbeiten. Hans Thiersch [5] hat immer wieder von einer gewissen Form der Banalität gesprochen, die hilfreich sei. Eine mitmenschliche Solidarität, mit dem anderen Konflikte auszuhalten, sich zu streiten oder, wie das von einer Schweizer Kollegin für die Heimerziehung beschrieben worden ist, stundenlang nebeneinander zu sitzen.

Ich habe es im eigenen familiären Kontext erlebt, daß man in einer Station mit Demenzerkrankten zunächst einmal völlig irritiert ist, weil es nach Urin riecht. Die Station hat fürchterlichen Ärger bekommen, weil die Hygienebestimmungen nicht eingehalten worden sind. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man einem Menschen fortgesetzt deutlich machen muß, daß er die Selbstbestimmung über seinen Körper verloren hat, indem man ständig die Windeln wechselt. Dann ertrage ich lieber den Geruch, damit die Menschen ihr Leben in dieser ganzen Eingeschränktheit der Demenz leben können. Diese Alltäglichkeit wird meines Erachtens nicht mehr angemessen beschrieben. Die Banalität des Alltags, bestimmtes Leiden ertragen zu können, sich mit jemand anderem auseinanderzusetzen, indem man sich nicht auseinander setzt, indem man nebeneinander sitzt - das alles kommt nicht mehr so rüber. Wir haben, glaube ich, manchmal eine fürchterliche Angst vor bestimmten Worten und trauen uns nicht mehr, von Menschen zu reden. Es menschelt in der Sozialen Arbeit so sehr, daß man es vorzieht, nur noch einen pathologisierten Fall zu sehen. Wir trauen uns auch nicht mehr, von Seele zu reden. Heute denkt man in ICD-10 und DSM IV-Kategorien [6], und da ist dieses alltägliche, banale Miteinander völlig getilgt.

Ich erlebe es in der Ausbildung, wenn man den Studierenden sagt, ihr habt es mit Menschen zu tun. Was heißt das eigentlich, mit einem Menschen zu tun zu haben? Dann suchen sie im Handbuch und fragen, ob das Prüfungswissen ist. Da geht etwas verloren, und ich fürchte fast, daß dieser Prozeß unausweichlich voranschreitet. Man spricht von Professionalisierungs- und Scientifizierungsprozessen, während die Substanz, von der die Soziale Arbeit eigentlich lebt, dabei in erheblichen Teilen auf der Strecke bleibt. Oft bekomme ich bei meinen Vorträgen zu hören, ich rede zu pastoral. Dann sage ich mir, na gut, was soll ich denn eigentlich anders machen? Also ist man Pastor, hütet seine Herde und versucht, Menschen dazu zu bringen, nochmal über sich selber nachzudenken. Aber ja, da geht etwas verloren.

Werbetransparent des Berufsverbands - Foto: © 2012 by Schattenblick

Zwischen Standesinteressen und Klientel
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wenngleich auf dem Kongreß erfreulicherweise Deutsch gesprochen wird, stößt man doch allenthalben auf Anglizismen, die oftmals nebulös anmuten und an die Stelle präziser Festlegungen zu treten scheinen. Verkehrt sich der vermeintliche Zugewinn einer vereinheitlichten Sprache dabei nicht ins Gegenteil, wenn man beispielsweise Begriffe wie "Transformation" verwendet, die der Beliebigkeit Vorschub leisten?

MW: Was die Anglifizierung betrifft, bin ich mir in der Mehrzahl der Fälle inzwischen völlig sicher, daß diejenigen, die vermeintlich englischsprachige Ausdrücke verwenden, gar nicht wissen, was sie da formulieren. Ein bekanntes Beispiel ist natürlich das "Handy", das im Englischen "mobile" oder "cellphone" genannt wird, wobei "Handy" ironischerweise schon als Fremdwort im Englischen aufgetaucht ist. Sie haben die problematische Verwendung von Begriffen wie "Transformation" angesprochen, was mich zu einem zentralen Begriff führt, der für geradezu katastrophale Veränderungen sorgt. Der Begriff "education" wird hier mit "Bildung" übersetzt, was genauso wenig wie "Erziehung" stimmt. Das trifft einfach nicht die Sachverhalte, da es im Englischen eine hochgradig diffizile Begrifflichkeit gibt, um pädagogische Prozesse zu bezeichnen, die keineswegs deckungsgleich mit dem ist, was ins Deutsche übersetzt wird. Wenn wir nun, wie das vorgestern der Fall war, Education at a glance [7] von der OECD bekommen, dann werden schwierige Debatten über Sachverhalte geführt, die international sehr, sehr unterschiedlich sind. Man muß schlicht und einfach festhalten, daß die OECD - auch wenn das jetzt konservativ klingen mag - das duale Ausbildungssystem, wie wir es in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben, einfach nicht begriffen hat und alles auf dem akademischen Level zählt, der wiederum nicht zu vergleichen ist. Das sind ganz unterschiedliche Sachverhalte.

Wenn wir daher über den Bundeskongress Soziale Arbeit sprechen, fürchte ich, daß diese pseudo-englische Sprache tatsächlich zu einer Art Entpolitisierung führt. Man glaubt in globalen Kategorien zu sprechen, tut es aber nicht. Man verwendet eine Synthesesprache oder fiktionale Sprache für Sachverhalte, die überhaupt nicht klar sind. Im internationalen Vergleich begreifen wir die immensen mentalen Unterschiede nicht. Wenn man mit Engländern oder Franzosen spricht, man muß erst einmal verstehen, daß bei ihnen ganz andere Traditionen dahinterstehen. Mich wundert, warum man in Deutschland nicht sagt: Laß uns zunächst die Begriffe klären und versuchen, sie so zu übersetzen, daß sie in all ihrer Komplexität sichtbar werden, damit man sich dann darüber verständigen kann, ob es in anderen Diskussionen womöglich Anschlußpunkte gibt. Es herrscht ein ganz massives Mißverstehen historischer Traditionen, mentaler Traditionen, unterschiedlicher Glaubensentwicklung vor, da man immer wieder ignoriert, daß die Positionen in Fragen von Bildung, Kultur und Gesellschaft ganz erheblich von Glaubensentwicklungen, von religiösen Einstellungen geprägt worden sind. Man muß sich nur einmal das Verhältnis von Engländern und Schotten ansehen. Die Engländer stehen in der anglikanischen Tradition, die Schotten hingegen in einer stark presbyterianisch-reformierten Tradition, die auf John Knox [8] zurückgeht. Das sind unterschiedliche Welten, die gegenwärtig dazu führen, daß die Union aus Engländern und Schotten auseinanderdriftet.

SB: Es wäre also voreilig anzunehmen, wir müßten umgehend einen Konsens finden. Könnte man sagen, daß die Annahme, man könne sehr schnell eine Übereinkunft herbeiführen, sogar kontraproduktiv wäre?

MW: Ich würde erst einmal die Dissense, die Unterschiede markieren. Ganz wichtig ist letztlich, sich gegenseitig zu beäugen, als käme man als Anthropologe in eine andere Gesellschaft. Das müssen wir begreifen, und zwar in gewissem Umfang sogar in Deutschland selbst. Es herrschen massive Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden - manchmal sogar größere als zwischen dem Osten und dem Westen. Man muß da zuschauen, zuhören und sich tatsächlich bis hinein in die Mikrostruktur des Alltagslebens einlassen, was für uns ganz schwierig ist, weil wir gerade auch in der Sozialen Arbeit sehr viel mehr als wir uns eigentlich eingestehen wollen mit spezifischen normativen Gerüsten wie Fortschrittlichkeit oder Demokratie operieren. Um es einmal sehr platt zu formulieren: Der Hamburger versteht Demokratie ganz anders als der Bayer und zwar aus guten Traditionen. Bayern hat eine ganz andere geschichtliche Tradition, es haderte zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Napoleon, mußte sich damit auseinandersetzten und hatte die Spaltung in sich. Trotz aller Globalisierung und Vereinheitlichung etwa durch den Konsummarkt wirken solche Muster der Mentalität sehr tief und prägen unsere alltäglichen Auseinandersetzungen. Während der Hamburger oder der Berliner über die Bayern sagt, das seien immer noch die Lederhosenheinis, machen diese vehement für sich geltend, sie seien längst die modernen Technologen. Solche Unterschiede sind ganz entscheidend für die Soziale Arbeit, weil diese an den basalen Gefühlswelten der Menschen ansetzt. Sich als Ausgegrenzter zu fühlen hängt, so paradox das erscheinen mag, nicht zuletzt von ganz unterschiedlichen Geschichten ab, in denen man aufgewachsen ist.

SB: Ich hatte in der Diskussion über Postdemokratie, die vorhin im Workshop geführt wurde, den Eindruck, daß Sie mit dem Verlauf der Debatte nicht ganz einverstanden waren.

MW: Ich glaube, daß wir in der politischen Wissenschaft zu stark einer sehr eng geführten, stark westlich-philosophischen Denklinie verhaftet sind. Diese ist natürlich sehr wichtig - damit ich nicht mißverstanden werde - da darin wesentliche Kriterien für das Verständnis von Demokratie entwickelt worden sind. Wir haben jedoch nicht gesehen - ich bin selbst erst in den letzten Wochen so richtig darauf gestoßen worden -, daß es Formen sehr radikaler Demokratie in Gesellschaften gibt, die wir vorschnell als primitiv abtun. Es existieren Formen der Abstimmung von Menschen untereinander, die spontan geschehen, die nicht formalisiert vollzogen werden, die aber gleichwohl bei den Beteiligten das Gefühl von Gerechtigkeit, von Solidarität, von gutem Miteinander auslösen. Ein solches Gefühl ist wiederum die Basis von Gesellschaftlichkeit, und ich glaube, daß wir uns tatsächlich von Anthropologen oder Menschen belehren lassen sollten, die sehr genau die Abstimmungsprozesse in mikrosozialen Zusammenhängen daraufhin untersuchen, was Demokratie konkret bedeuten kann, bevor wir die edle Demokratie formulieren oder das Verschwinden von Demokratie beklagen, weil spezifische Institutionen geändert oder bestimmte Figuren, die als repräsentativ für Demokratie zumindest in ihrer institutionellen Bedeutung gegolten haben, in Frage gestellt werden. Sehr spannend an der Diskussion vorhin war der Blick auf Konflikte, auf Dissens, auf Auseinandersetzungen. Ich war insofern ein bißchen grantig, weil man dabei nicht immer ehrlich ist. Wenn beispielsweise vom Aufstand in einem Heim die Rede ist, kommt in diesem Konflikt möglicherweise ein Ausdruck von Demokratie zum Tragen. Ich würde das nicht so schnell, wie es formuliert wurde, in gute Bahnen bringen wollen. Es kann durchaus sein, daß da etwas Neues entsteht. Wenngleich durchaus aufmerksam und kritisch diskutiert wird, scheint mir doch auch die Angst mitzuschwingen, daß etwas aufregend Neues passieren könnte, das wir noch gar nicht ahnen.

Wie schnell solche Debatten abgetan werden, konnte man vor einigen Wochen zum Jahrestag der "London Riots" verfolgen. Die Berichterstattung beschränkte sich darauf, diejenigen zu zeigen, die vor einem Jahr vor ihrem ausgebrannten Möbelhaus gestanden hatten und nun wieder davorstehen und sagen: Ach, wie schön, wir haben wieder ein neues! Der politische Gehalt solcher Auseinandersetzungen wird sehr schnell abgetan, und man folgt der Regierung Cameron in deren Kriminalisierung des Aufstands. Ernsthaft zu fragen, ob da etwas geschehen oder entstanden ist, was Veränderung bedeutet, traut sich offensichtlich keiner. Obwohl ich vom Naturell her ein extremer Pessimist bin - als Wiener hat man ja immer seinen Blick auf den Zentralfriedhof -, würde ich doch sagen, daß da viel mehr in den mikrostrukturellen Zusammenhängen in Gange ist, als gemeinhin wahrgenommen wird.

SB: Im Frühjahr wurde eine Studie veröffentlicht, in der man die Angaben jener Leute ausgewertet hatte, die im Zusammenhang der Riots verurteilt worden sind. Dabei zeichnete sich ein Bild ab, das erheblich von dem abwich, das zuvor propagiert worden war. Beispielsweise konnte die angebliche Bandenstruktur, von der vielfach die Rede war, nicht nachgewiesen werden.

MW: Das hatte sich für den Beobachter schon von vornherein abgezeichnet. Die Berichterstattung war verzweifelt bemüht, die Ereignisse bis hinein in die Bilddarstellung zu kategorisieren. Man hat damals vom Hubschrauber aus Bilder von den Londoner Vorstädten aufgenommen. In einem geradezu klassischen Fall von Framing versuchte man, mit dem Scheinwerferkegel Gruppen zu identifizieren, um dann Polizeiketten in Marsch zu setzen, ohne zu überlegen, ob das tatsächlich Bandenstrukturen waren, für die es übrigens weder vorher noch im nachhinein irgendwelche Nachweise gegeben hat. Natürlich herrschte eine sehr massive Angst, daß es tatsächlich aus der Gesellschaft heraus zu spontanen Aktionen kommen könnte. Das wurde völlig verdrängt, obwohl wir aus der Sozialpsychologie wissen, daß Gruppenereignisse hochgradig kollektiv sein können. Das gilt schon für jedes Stadionerlebnis, wenn man plötzlich in der La-Ola-Welle mitschwimmt und sich hinterher fragt, ob man jetzt völlig verrückt geworden sei. Ebenso wissen wir um Formen, die gerne als Dissolutionen oder Auflösung begriffen werden. Es könnte sich jedoch um Tendenzen handeln, die Gesellschaft nur vordergründig desintegrieren, jedoch tatsächlich neue Formen des Sozialen in diesen Prozessen entstehen lassen. Ich bin da sehr vorsichtig mit einer Bewertung solcher Prozesse. In einigen Jahren wird man sicher bei einer erneuten Untersuchung zu dem Schluß kommen, daß da tatsächlich etwas Neues geschehen ist.

Michael Winkler am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Impuls für einen ergiebigen Kongreß
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Können Sie den Eindruck bestätigen, daß einem die jüngeren Generationen in der Art und Weise wie sie reagieren, sprechen und offenbar auch denken etwas fremd geworden sind? Haben sich da möglicherweise Verflachungen oder Verarmungen abgespielt, indem Dinge verlorengegangen sind, die man früher als selbstverständlich empfunden hat?

MW: Ich stimme Ihnen ein wenig zu, aber im großen und ganzen widerspreche ich Ihnen. Natürlich geht etwas verloren, aber das ist ein Generationenproblem. Wir sind alte Krauter, und alle alten Krauter waren früher in derselben Situation, weil sie sagten: "Oh, die Welt geht verloren!" Aber es sind ja auch viele Gewinne zu verbuchen. Die Welt ist nicht schlechter geworden, und die Weine sind besser geworden, die Fahrräder auch. (lacht) Also das ist toll, was passiert. Nein, ich stimme Ihnen bei dem Blick auf junge Menschen überhaupt nicht zu. Die ticken anders, und das ist auch prima so, denn wie wir alten Krauter ticken, war auch nicht gerade heilsam, wenn wir uns sozusagen kollektiv eingestehen, welche Schuld wir auf uns geladen haben. Im Grunde zeigen alle Untersuchungen, daß die Sensibilität junger Menschen enorm gewachsen ist. Sie drücken es anders aus, manchmal ein bißchen direkter - was wir übrigens früher zum Leidwesen unserer Eltern auch gemacht haben. Es zeigt sich jedoch durch die Bank, daß sie sensibel, aufmerksam, ausgesprochen sorgend mit anderen umgehen. Das wurde erstmals im 9. Kinder- und Jugendbericht nach der Wende dokumentiert. Kinder in den neuen Bundesländern waren ungeheuer besorgt, was mit ihren Eltern geschieht. Die Kinder selbst haben das besser als eine Veränderung verarbeitet, die nun mal passiert. Sie haben jedoch ausgesprochen familienorientiert wahrgenommen, was ihre Eltern an Leiden ertragen. Inzwischen wissen wir auch, daß diese Kinder manchmal überfordert sind, weil sie versuchen, ihre Eltern zu umsorgen und mit ihnen gut umzugehen.

Uns macht zu schaffen, daß Kinder nicht mehr so stark an strengen und für uns sofort nachvollziehbaren Normen orientiert sind. Sie denken sehr viel nach und sind deswegen mitunter auch labiler. Bei meinem psychoanalytisch arbeitenden Kollegen Martin Dornes [9] kann man Überlegungen zu dieser Entheroisierung der Person sehr gut nachlesen. Im Sommer ist sein Buch "Die Modernisierung der Seele" erschienen, das neben viel empirischem Material auch eigene theoretische Überlegungen enthält. Ich finde es hochüberzeugend, wie er beschreibt, daß die Kinder heute nicht mehr so stark normativ ausgerichtet, dafür eher reflexiv, nachdenklich, sensibel sind. Allerdings gibt es eine kleine Gruppe, die an diesen für sie äußerst anstrengenden Verhältnissen zerbricht. Das normative Gerüst, das den einzelnen von Gewalttätigkeit abhält, bricht dann weg. Was Dornes in diesem Zusammenhang beschreibt, kann ich aus vielen Beobachtungen bis hinein in schulversicherungsrechtliche Fragen unterstreichen: Gewaltaktionen einzelner Kindern in Schulen sind heute sehr viel gravierender als in der Vergangenheit, weil man die Kinder nicht normativ einbremsen kann. Diese Stärke und Wirksamkeit der Norm gibt es nicht mehr - Gott sei Dank! Das ist zivilisatorisch ein ungeheurer Fortschritt, wenn wir lernen, daß Normen nicht strikt, also konventionell mit Kohlberg [10] gesprochen gelten. Wir sind zu einer postkonventionellen Moral und das heißt Reflexion, aber eben auch Empfindlichkeit und Instabilität übergegangen, und das ist für den Menschen im Grunde gut. Ich glaube sogar, daß die vermeintliche Politikverdrossenheit vieler jungen Leute genau damit zu tun hat: Sie kritisieren an den Politikern deren fehlende Sensibilität und Verletzlichkeit, und erkennen, daß sie selber in ihrer Entwicklung viel weiter als diese Typen sind, deren einzige Norm darin besteht, den eigenen Vorteil zu sichern.

SB: Ich würde Sie gerne abschließend fragen, welchen Eindruck Sie vom bisherigen Verlauf der Tagung haben.

MW: (lacht) Das ist schwierig! Man nutzt ja solche Tagungen auch immer für soziale Kontakte und Gespräche, wozu ich schon Gelegenheit hatte. Also um es mal sehr platt zu formulieren: Es ist eine ganz normale Tagung - und das ist auch gut so. Ich hätte mir vielleicht ein wenig mehr gewünscht, was aber ein bißchen idiosynkratisch ist: Ich gehe gern zu Tagungen, von denen ich hinterher sagen kann, jetzt habe ich nochmal etwas gelernt. Dieser Kongreß ist stärker diskursiv und weniger informativ. Das ist aber normal in sozialwissenschaftlichen Bereichen, und man muß ohnehin erst einmal abwarten, wie es weitergeht. Davon abgesehen fand ich die Veranstaltung, an der ich heute teilgenommen habe, sehr spannend und anregend und ich weiß genau, daß ich morgen etwas müde nach Hause fahre und mir das alles erst mal durch den Kopf gehen lassen muß - ich bin also völlig zufrieden.

SB: Herr Winkler, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:
[1] BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
Emanzipatorisches Potential? Der Blick auf "das Soziale" macht blind
http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorboo16.html

[2] David Émile Durkheim (1858-1917) war ein französischer Soziologe und Ethnologe. Er gilt heute als ein Klassiker der Soziologie, der mit seiner Methodologie ihre Eigenständigkeit als Fachdisziplin zu begründen suchte.

[3] Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010) war Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Mainz und Gründerin des Instituts für Demoskopie (IfD) in Allensbach. Sie gilt als Pionierin der Demoskopie in Deutschland.

[4] Katharina Rutschky (1941-2010) war eine deutsche Publizistin, die als streitbare Intellektuelle und Essayistin sowie durch die Prägung des Begriffs Schwarze Pädagogik hervortrat.

[5] Prof. Dr. Hans Thiersch ist ein seit 2002 emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der Universität Tübingen. Er leitete auf dem Bundeskongreß Soziale Arbeit einen Workshop und hielt die Abschlußrede.

[6] ICD - Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben.

DSM - Das Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung dient einer Vereinheitlichung der Beschreibung und Interpretation psychischer Störungen.

[7] Education at a glance - Bildung auf einen Blick ist eine jährlich erscheinende Sammlung mit grundlegenden Daten zu den Bildungssystemen der OECD-Länder. Der Bericht erfaßt alle Aspekte der Bildungspolitik, wie zum Beispiel Abschlußquoten, Beteiligung an Weiterbildung sowie Finanzausstattung und Ressourcenverteilung in den Bildungssystemen.

[8] John Knox (um 1514-1572) war ein schottischer Reformator und Mitbegründer der Presbyterianischen Kirchen.

[9] Martin Dornes ist Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut. Er ist ein Vertreter der Psychoanalyse und gehört zu den gegenwärtig wichtigsten Repräsentanten der Säuglings- und Kleinkindforschung im deutschsprachigen Raum.

[10] Lawrence Kohlberg (1927-1987) war ein US-amerikanischer Psychologe und Professor für Erziehungswissenschaft an der Harvard University School of Education. Er begründete eine Theorie, die die moralische Entwicklung von Menschen in Stufen einteilt.

Gut gefüllte Ränge - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aufmerksame Zuhörer im Audimax
Foto: © 2012 by Schattenblick

29. Oktober 2012