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INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)


Zugespitze Verhältnisse, schweigende Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen

Gespräch mit Mechthild Seithe am 14. September 2012 in Hamburg



Die Diplom-Sozialarbeiterin und Diplom-Psychologin Prof. Dr. Mechthild Seithe lehrte bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2011 als Professorin für Sozialpädagogik an der FH Jena. Dank ihrer langjährigen Berufserfahrung in unterschiedlichen Feldern Sozialer Arbeit wie auch in der universitären Forschung und Lehre war ihr die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis stets ein besonderes Anliegen. Ihr Blog "Zukunftswerkstatt" dient der Reflexion aktueller Entwicklungen in dem Berufsfeld, und das von ihr mitinitiierte "Unabhängige Forum kritische Soziale Arbeit" bietet emanzipatorischer Sozialarbeit eine Plattform, sich auszutauschen, zusammen Strategien zu entwickeln und gemeinsam zu handeln. In ihrem 2010 erschienenen "Schwarzbuch Soziale Arbeit" [1] legte sie eine schonungslose Analyse des Zustands Sozialer Arbeit vor. In einer Verarbeitung von persönlichen Erfahrungen, Praxisbeispielen und theoretischen Analysen zeichnete sie ein düsteres Bild verheerender Zustände, versah diese mit verständlichen Analysen und zeigte konkrete Handlungsoptionen auf.

Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit vom 13. bis 15. September in Hamburg hielt Mechthild Seithe unter dem Thema "Repolitisierung und sozialpolitische Einmischung Sozialer Arbeit" eines der drei einführenden Impulsreferate [2]. Im weiteren Verlauf der Tagung hatte der Schattenblick Gelegenheit, ein Gespräch mit ihr zu führen.

Am Tisch sitzend - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Mechthild Seithe
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben in Ihrem gestrigen Vortrag angesprochen, daß sich die Verhältnisse, wie sie im Schwarzbuch Soziale Arbeit dargestellt werden, seither weiter zugespitzt haben.

Mechthild Seithe: Ich habe bei den damaligen Beispielen gedacht, trag nicht so dick auf, das glaubt dir keiner. Die Leser werden sagen, daß das nicht stimmt, zumal es demgegenüber sicher auch positive Beispiele gibt. Wenn ich heute Tagebuchgeschichten von SozialarbeiterInnen zusammenstelle und ausführliche Interviews über die aktuelle Situation mit ihnen führe, kann ich nur sagen, was habe ich damals für harmlose Geschichten geschrieben. Mitunter möchte man am liebsten alles hinschmeißen, wenn man das in aller Deutlichkeit hört. Teilweise erfahre ich dabei auch etwas über neue Entwicklungen, die mir bei Veröffentlichung des Schwarzbuchs noch nicht bekannt waren. Das allerschlimmste daran ist, daß die Erzähler zwar darunter leiden, aber keine Alternativen haben. Bei mir läuft ja immer der Film von einer Sozialen Arbeit ab, die ich 18 Jahre lang in Wiesbaden unter wesentlich besseren Bedingungen gemacht habe. Daher sehe ich den gravierenden Unterschied zu der heutigen Situation, von dem die meisten Leute in der Praxis inzwischen nichts mehr wissen. Andernfalls würden sie das wohl auch gar nicht aushalten. Ich möchte bezweifeln, daß ich das selbst heute aushalten würde.

SB: Können Sie diesen Unterschied für Leser, die nicht aus der praktischen Sozialarbeit kommen, noch etwas genauer beschreiben?

MS: Ich habe viele Interviews mit SozialarbeiterInnen geführt, die in der sozialpädagogischen Familienhilfe tätig sind. Das ist ein Sachgebiet, mit dem ich beruflich in Wiesbaden sehr viel zu tun hatte. Damals wurde diese Maßnahme gerade neu entwickelt, die man dann später ins Kinder- und Jugendhilfegesetz eingefügt hat. Wir konnten tatsächlich so arbeiten, daß die Familien einen Entwicklungsprozeß durchlaufen haben und unabhängig von der Hilfe wurden. Man konnte hinterher bei vielen Familien feststellen, daß sich nachweislich etwas verändert hatte und sie ein Zusammenhaltsgefühl entwickeln oder ihre innere Struktur verbessern konnten. Wir hatten einfach Zeit, solche Prozesse anzustoßen und sich entwickeln zu lassen, auch Widersprüche und Rückschläge zu verkraften und wieder neu anzufangen. Damals hatten wir mindestens 20 Stunden in der Woche für eine große Familie mit sechs Kindern. Heute erzählen mir die SozialarbeiterInnen, daß sie dreieinhalb Stunden haben und um die letzte halbe Stunde kämpfen, die ihnen auch noch genommen werden soll. Frage ich sie, wie sie das in dieser kurzen Zeit schaffen, läuft es darauf hinaus, daß sie einmal in der Woche und nur wenn es unbedingt nötig ist auch zweimal da sind. Sie führen dann eine Art Beratungsgespräch und haken im Wesentlichen nur ab, was die befragte Familie gemacht oder unterlassen hat. Im Grunde wird eine erwachsenenpädagogische Maßnahme auf eine drastisch verkürzte Fallmanagementsituation zurückgestuft, die keine Entwicklung mehr, sondern nur noch Kontrolle zuläßt. Wenn es einigermaßen gut läuft, kann man hier und da helfen oder Tips geben, aber von einer regelrechten Entwicklung kann nicht mehr die Rede sei. Die ist im Grunde als Prozeß aus der Sozialen Arbeit gestrichen worden. Sag den Leuten, wo's langgeht, gib ihnen ein paar Hinweise, was es gibt, oder vermittle ihnen etwas, droh ihnen auch ordentlich, daß sie sich benehmen und dann ist Schluß. So in etwa läuft es heute meistens ab.

Ich habe gerade ein Interview mit einer Sozialarbeiterin aus der Wohnungslosenhilfe geführt, die mir beschrieben hat, daß sie im Grunde nur noch danebensteht und als Puffer bestenfalls verhindern kann, daß die Leute völlig fertiggemacht werden und den Bach runtergehen. Wie sie im Jobcenter behandelt werden, das ist menschenverachtend und man kann gar nicht glauben, daß das in unserer Gesellschaft einfach so toleriert wird - aber es wird ja sogar gewollt. Wie diese Sozialarbeiterin berichtete, mache sie sich keine Illusionen über ihre Rolle. Sie könne allenfalls einzelne Menschen, die überhaupt nicht mehr weiter wissen, kurzfristig unterstützen, doch könne von einer Veränderung der Situation keine Rede sein. Diese Probleme sind längst tief in der Mittelschicht angekommen, da durch Hartz-IV immer mehr Leute auf der Straße stehen und so gut wie keine Hilfe zu erwarten haben.

Die Interviewpartnerin schilderte mir, daß die Leute, wenn sie ins Jobcenter kommen, von einer Art Pförtner angeschnauzt werden, wieso das soweit mit ihnen kommen mußte. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es vor allem darum geht, die Hilfesuchenden zu erniedrigen und abzuschrecken. Diese Schikane habe mit der vielbeschworenen Effizienz überhaupt nichts zu tun, zumal die Gelder, die alle aus der Agentur für Arbeit kommen, über verschiedene Töpfe laufen. Dadurch entstehen Zahlungslücken, die Leute müssen einen Übergangsantrag stellen, dann folgen wieder sechs Wochen Bearbeitungszeit, so daß sie sich verschulden müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

SB: Ist angesichts dieser Entwicklung der Bedarf an Sozialer Arbeit nicht im Grunde erheblich gestiegen?

MS: Er ist zum einen durch die um sich greifende Armut gestiegen, zum andern jedoch auch durch den Umgang mit den betroffenen Menschen. Nach Einschätzung der Sozialarbeiterin aus der Wohnungslosenhilfe wäre ihre Arbeit in großen Teilen überflüssig, wenn man die Menschen gleich in den Jobcentern besser behandeln und damit viele Probleme von vornherein ausschließen würde. Im Grunde müsse Sozialarbeit auffangen, was von den Jobcentern verursacht worden ist. Man wirft der Sozialen Arbeit ja immer vor, sie produziere ihre Arbeitsplätze selber, aber in diesem Fall produziert tatsächlich das sogenannte Hilfesystem die Arbeitsplätze für SozialarbeiterInnen, weil die Menschen andernfalls an diesem "Hilfesystem" kaputtgehen würden. Derart dramatische Entwicklungen und wirklich brutale Situationen habe ich im Schwarzbuch noch gar nicht erwähnt. Die Verschärfung schreitet in der Tat voran.

SB: Macht sich da eine Form sozialer Grausamkeit breit, die über die bei Leistungskürzungen vorgehaltenen ökonomischen Zwänge hinausgeht und selbst aus diesen nicht mehr zu begründen ist?

MS: Ja, die Gesellschaft hat sich an vieles gewöhnt, und gleiches gilt für die SozialarbeiterInnen, das ist ja das Furchtbare. Oftmals hat man das Gefühl, daß man die Grausamkeit nur etwas abschwächt, ohne sie ändern zu können. Zugleich werden gerade Hartz-V-Empfänger regelrecht verhöhnt. Und obgleich in manchen Bereichen wie etwa der Jugendhilfe schon noch Sinnvolles getan wird, läuft das nicht auf eine Entwicklung, sondern im Gegenteil auf die Verkürzung hinaus, Betroffenen vorzuschreiben, wo's langgeht. Hilfe, die auf einer Beziehungsebene stattfindet, wo tatsächlich Kommunikation stattfindet, gilt als suspekt und wird gestrichen. Beispielsweise hat man Hamburg den Familienhelfern Hausbesuche verboten. Das ist so, als sage man einem Läufer, er dürfe seine Beine nicht benutzen - also völlig absurd.

SB: Wie wurde das begründet?

MS: Zur Begründung wurde angeführt, Hausbesuche hätten keine Wirkung, und man gebe kein Geld für unsinnige Dinge aus. Die Wirkungslosigkeit ist jedoch in erster Linie eine zwangsläufige Folge zunehmend verschlechterter Arbeitsbedingungen. In zwei Stunden kann man unmöglich eine ganze Familie sanieren. Ich bin überzeugt, daß man gemeinsam mit Menschen daran arbeiten kann, Chancen zu entwickeln. Sie sind dazu in der Lage und wollen das auch. Dieser Ansatz ist jedoch aus der Sozialen Arbeit quasi herausgekürzt worden, und das nicht allein aus finanziellen Gründen. Ich glaube, dahinter steckt der gezielte Versuch, letztendlich einen Teil der Bevölkerung nicht nur auszuschließen, sondern diesen Menschen gleich so eins aufs Dach zu geben, daß sie froh sind, überhaupt noch, aber aus der Gesellschaft herausexkludiert, leben zu können.

SB: Wenn die Kontrollfunktion überhandgenommen hat oder vielleicht sogar fast ausschließlich das Feld beherrscht, könnte man mit Blick auf die rasant zunehmende Armut in Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien auf den Gedanken kommen, daß diese administrative Verschärfung auch in Deutschland nicht zuletzt als Bereitstellung gegen künftige Hungeraufstände zu sehen ist.

MS: Ich denke schon, daß man die Menschen in eine Situation bringt, in der sie kuschen müssen. Mir hat neulich eine Interviewpartnerin gesagt, daß es die Unterstützung hart am Existenzminimum gerade noch überleben, während man andererseits auch nicht darauf verzichten kann. In anderen Ländern bekommen die Menschen noch viel weniger oder gar nichts, so daß sie nichts mehr zu verlieren haben und gegen diese Verhältnisse aufbegehren. In Deutschland hetzt man mit hängender Zunge hinter dem Hartz-IV-Geld her, und wenn dann noch Sanktionen dazukommen, hat man das Gefühl, sich unterordnen zu müssen, um nicht auch noch das Existenzminimum zu verlieren. Die aktuelle Erhöhung um acht Euro ist so gesehen genau taxiert. So kommen die Leute noch nicht einmal auf den Gedanken, sich zu wehren können, und halten das System sogar für richtig, da sie im Bann der Schuldzuschreibung stehen.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Drangsalierung der Hartz-IV-Empfänger hat System
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Aus Sicht der Administration ist diese Bezichtigung offenbar sehr wichtig, da sie den Menschen lektionieren will, daß er keinen Anspruch auf ein angemessenes Leben hat, sondern im Grunde nur noch Fehler machen kann, für die er sich rechtfertigen muß.

MS: Es sei denn, er ist ein sogenannter Leistungsträger. Das Gefühl, Rechte zu haben, ist den Menschen ansonsten abhandengekommen, und das gilt selbst für viele SozialarbeiterInnen. Ich erzähle manchmal den Witz, der eigentlich keiner ist, daß es nämlich in den frühen sechziger Jahren ein Wahlplakat der CDU mit der Aufschrift gab: "Sozialhilfe - Ihr gutes Recht". Das ist offenbar vollständig zurückgenommen worden und in Vergessenheit geraten.

SB: Was hat sich aus Ihrer Sicht geändert, wenn Sie an die siebziger Jahre zurückdenken, in denen bei vielen Menschen eine regelrechte Aufbruchstimmung geherrscht hat und man dachte, die neue Gesellschaft stehe vor der Tür? Wie konnte es in der Folge zu den gravierenden Veränderungen kommen, über die wir gesprochen haben?

MS: Ich stand damals noch mitten im Studium und war sowohl am Psychologischen Institut als auch jenseits der Tagespolitik eingebunden in die Diskussionen der 68er-Bewegung. Ich lebte in dem Gefühl, frei zu sein und gemeinsam mit anderen all das umsetzen zu können, was wir wollten. Nach ein, zwei Jahren sortierte sich das dann, und es gab Leute, die politische Ansätze weiterverfolgten, während andere nur noch ihre Musik oder irgendetwas anderes im Sinn hatten. So endete das einheitliche Lebensgefühl und die einheitliche Bewegung. Ich persönlich habe mich nie der Illusion hingegeben, daß wir die Welt komplett neu aufmischen könnten. Es war jedoch in manchen Bereichen alles lockerer als früher, man konnte offen seine Meinung sagen und autoritäre Strukturen hatten vorerst keine Chance mehr. Andererseits gab es bereits Berufsverbote für Kommunisten, und die linke Bewegung war weit davon entfernt, die Macht zu übernehmen. Der Marsch durch die Institutionen war ja immer mit einer kleinen Gehirnwäsche verbunden.

SB: Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon die Absicht gehabt, in die Sozialarbeit zu gehen?

MS: Ich wußte damals gar nicht, was das ist. Mein Schwerpunkt war Sozialpsychologie und darüber kam ich zur Erziehungsberatung. Da die ÖTV damals Regionalgruppen für Sozialarbeit in jeder Stadt hatte, brauchte man nur hinzugehen, um SozialarbeiterInnen kennenzulernen. Die haben mir dann beigebracht, worum es bei ihrer Tätigkeit geht. In der Erziehungsberatungsstelle bekam ich es bald mit Problemen zu tun, die ich mit Psychologie absolut nicht bewältigen konnte. Während meiner Arbeit in Wiesbaden legte ich deswegen die Externenprüfung zur Diplom-Sozialarbeiterin in Frankfurt ab. Ich war trotz meiner Ausbildung zur Gesprächspsychotherapeutin ohnehin nie eine klassische klinische Psychologin gewesen, da mein Psychologieverständnis immer stark von sozialen Fragen geprägt war. Das besondere Augenmerk in meiner Praxis galt besonders jenen Menschen, die als "sozial benachteiligt" bezeichnet wurden. Damals hat mich niemand daran gehindert, soviel Zeit in die Arbeit mit einer Familie zu investieren, wie ich für erforderlich hielt. Ich bin dann beim Jugendamt gelandet und war mit diesen Problematiken sehr direkt konfrontiert. Ich habe mir also mit der Sozialen Arbeit einen Schwerpunkt gesetzt, der mich ohnehin immer beschäftigt hatte.

In den 68er-Jahren glaubten viele SozialarbeiterInnen, sie könnten die Weltrevolution ausrufen, das glaubten aber zum Teil auch die Psychologen, das glaubte sozusagen jeder. Was mir speziell an der sozialen Arbeit jedoch besonders gefallen hat, war ihre Ambivalenz. Man ist natürlich ein Instrument der Anpassung, da braucht man sich keine Illusionen zu machen. Andererseits hat man trotzdem immer die Möglichkeit, kritisch an die Arbeit heranzugehen. Niemand weiß so genau, was in diesem Lande passiert, wie die SozialarbeiterInnen, die die tatsächlichen Lebensverhältnisse kennen und nicht nur mit irgendwelchen Zahlen jonglieren. Deswegen ist es so ärgerlich, daß ausgerechnet die SozialarbeiterInnen heute schweigen.

SB: Sie hatten gestern in ihrem Vortrag gesagt, daß im Grunde jeder politisch handelt, selbst wenn er schweigt. Wie könnte ein politisches Engagement Ihres Erachtens aussehen?

MS: Die meisten Leute bringen diesbezüglich zum Ausdruck, daß sie nichts von Parteien halten. Parteipolitik ist daher das letzte, woran ich in diesem Zusammenhang denke. Wir haben von keiner Partei nennenswerte Unterstützung bei unserer politischen Arbeit erfahren. Zuerst an Gewerkschaft und Berufsverband zu denken, hieße für mich aber auch, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Entscheidend ist meines Erachtens, daß die Leute anfangen, nicht im stillen Kämmerlein rumzumeckern, sondern sich auszutauschen und zu merken, daß sie alle dieselben Probleme haben und gemeinsam etwas unternehmen können. Wir haben einmal in einer Gruppe von Familienhelfern diskutiert, was wohl geschähe, wenn sich alle sieben Träger, die es damals in Jena gab, nicht länger gegeneinander ausspielen ließen und einen einheitlichen finanziellen Standard einforderten. Dann müßte das Jugendamt einlenken, da es keine anderen Träger fände. Es handelt sich um eine Machtfrage, bei der alle sieben geschlossen auftreten müßten. In der Realität sieht es jedoch so aus, daß jeder hofft, etwas abzubekommen, und fürchtet, komplett rauszufliegen. Wenn dann einer der sieben anbietet, es zum halben Preis zu machen, bekommt er alles.

SB: Man müßte also zuallererst diese Spaltung, dieses
Konkurrenzverhältnis überwinden?

MS: Das fängt bei der eigenen Haltung an. Solange alle von ihrem Unternehmen reden und selbst so denken wie die Verwaltung, kommt man nicht weiter. Zunächst muß den SozialarbeiterInnen klar werden, daß nicht in Ordnung ist, was da läuft. Erst dann können sie einen Schritt weitergehen und überlegen, was zu tun ist. Wir sind ja viele, und wenn wir wirklich an einem Strick ziehen würden, könnten wir etwas erreichen, da bin ich ganz sicher. Nur sehe ich den einen Strick noch nicht in aller Hände. Viele SozialarbeiterInnen haben Hemmungen und nicht selten große Angst, öffentlich in Erscheinung zu treten. Ich mußte regelrecht um Interviewpartner kämpfen, obwohl ich alles anonymisiere und kein Name, Träger oder Ort erkennbar ist. Wenn sie mir dann doch etwas erzählt haben, sage ich hinterher: "Das war jetzt der Bericht für den Träger, nun erzählen Sie mir bitte alles noch einmal, wie es tatsächlich aussieht." Es ist unglaublich, aber viele können gar nicht anders. Vorauseilenden Gehorsam findet man überall.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vorauseilenden Gehorsam findet man überall
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Ist aus Ihrer Sicht vielleicht auch ein politischer Zusammenschluß mit den Betroffenen in diesem Arbeitsfeld möglich?

MS: Das ist eine schwierige Frage. Es klingt immer so toll, und ich bin natürlich sehr dafür, daß wir in unserer Arbeit gemeinsam mit den Betroffenen Entwicklungen einleiten. Andererseits kann ich zwar Jugendliche aus dem Jugendzentrum motivieren, mit mir eine Demo zu machen, doch kann ich nicht ausgegrenzte Familien dazu bringen, ihr Elend auf die Straße zu tragen. Das finde ich unmoralisch. Wir dürfen weder die Früchte unserer Arbeit vorführen noch die Menschen, mit denen wir arbeiten, da wir sie schützen müssen. Leider gehen manche Leute sogar selbst ins Fernsehen und zeigen ihr Elend. Das ist ungefähr so, als führe man Behinderte mit ihren Einschränkungen öffentlich vor. Dagegen würde man doch Sturm laufen und entschieden protestieren. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, sind zumeist so klein und geduckt, daß es unglaublich mühselig ist, mit einem Klienten auch nur einen Widerspruch vor Gericht durchzufechten. Ich halte es daher für eine Illusion, auf diese Weise eine politische Initiative ins Leben zu rufen, und bezweifle grundsätzlich, daß das wirklich ein guter Weg ist.

SB: Können Sie, wenn Sie auf die Jahrzehnte Ihrer Berufserfahrung zurückblicken, eine Veränderung bei den betroffenen Menschen ausmachen, die heute ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen, Angst haben und sich nicht wehren?

MS: Wenngleich es früher im Grunde nicht anders war, sind mir doch Beispiele bekannt, in denen es dank langwieriger Arbeit gelungen ist, bedeutsame Veränderungen herbeizuführen. Ich habe den konkreten Fall einer Obdachlosenarbeit in Wiesbaden vor Augen, die über 20 Jahre mit viel Geld und freien Trägern lief. Am Anfang war das eine Gegend, die das "Tal der langen Messer" hieß. Da ging man als SozialarbeiterIn nur mit der Polizei hinein. Sämtliche Kinder, die dort wohnten, wurden automatisch in der Sonderschule eingeschult. Zwei Jahrzehnte mühsamer Arbeit später sah es dort aus wie in einer kleinen netten Siedlung, und kein Kind ging mehr zur Sonderschule, etliche studierten sogar. Damit war der Nachweis geführt worden, wie sich eine durch kulturelle Bedingungen entwürdigte und zusammengepferchte Gruppe von Menschen zu ganz normalen Bürgern entwickeln kann. Das war harte Arbeit und brauchte Zeit, Geld und Handlungsfreiheit, wie man sie heute nicht mehr hat. Hätten die SozialarbeiterInnen heute noch soviel Zeit, könnten sie das genauso schaffen.

Hinzu kommt, daß in manchen Bereichen Leute ohne Ausbildung beschäftigt sind. Es werden beispielsweise sechs Leute, die keinerlei Ausbildung haben, unter der Leitung eines Sozialarbeiters eingestellt, und das Jugendamt zahlt, als wären es alles qualifizierte Mitarbeiter. Das ist nicht immer und überall üblich, wird aber durchaus gemacht, um an den Gehältern zu sparen. Die Träger kassieren Pauschalen, und was sie dann an die Mitarbeiter auszahlen, ist ihre Sache.

Generell herrscht in der Sozialen Arbeit die Grundhaltung vor, daß man alles kontrollieren und im Griff behalten müsse. Damit denkt man nur noch von oben nach unten und schließt jede Entwicklung aus.

SB: Dann ist die Sozialarbeiterin oder der Sozialarbeiter nichts anderes mehr als der verlängerte Arm der Administration. Wird das auch so wahrgenommen?

MS: Bei den Todesfällen von Kindern, die ständig durch die Medien gehen, prangert man die Versäumnisse der SozialarbeiterInnen an, die solche Gefahren nicht erkannt und abgewendet haben. Die einzige Konsequenz ist der Ruf nach einer stärkeren Kontrolle, während weitgehend ausgeblendet wird, warum der betreffende Sozialarbeiter die Situation nicht überblickt hat. Die Probleme werden nicht behoben, sondern mit einem Kontrollnetz überzogen, um sie kurz vor der Explosion auffangen zu können. Das ist von einer emanzipatorischen Position aus gesehen nicht nur Schwachsinn, sondern sogar gezielt beabsichtigt. Diese Herangehensweise produziert ihrerseits natürlich neue Probleme, so daß man von einem Faß ohne Boden sprechen muß.

SB: Ich habe gestern mit Leuten aus der offenen Sozialarbeit hier in Hamburg gesprochen. Sie haben ebenfalls berichtet, daß sie kurzfristige Erfolge vorweisen müssen, während die Erfordernisse einer mittel- und langfristigen Arbeit nicht zur Debatte stehen. Auf diese Weise werde verhindert, daß man Beziehungen aufbauen und Vertrauen schaffen kann, wie sie für eine gute Sozialarbeit unverzichtbar seien.

MS: Daß Kontinuität eine der Grundvoraussetzungen für gute Sozialarbeit ist, hat die Verwaltung offenbar nicht begriffen - jedenfalls handelt sie dagegen. Projekte werden immer nur für ein Jahr genehmigt und müssen danach neu beantragt werden. Teilweise kündigt man Mitarbeiter, um sie wieder einstellen zu können. Niemand weiß, ob und wie es weitergeht. Da wird aufgebautes Vertrauen zerstört und Erreichtes weggeworfen. Wenn man nicht möchte, daß sich Menschen weiterentwickeln, und zufrieden ist, wenn sie sich fügen, braucht man natürlich den Firlefanz vernünftiger Sozialarbeit nicht. Dann kann man sofort die moralische Pistole hochhalten und seine Forderungen an die Klienten durchsetzen.

SB: Könnte man von einer politisch-strategischen Ausrichtung der Gesellschaft sprechen, längerfristige Verbindungen zwischen Menschen und deren gemeinsames Handeln zunehmend zu untergraben?

MS: Ja, das denke ich auch. Das Wort "Beziehungsarbeit" darf man in solchen Zusammenhängen gar nicht benutzen, da man sofort den Vorwurf zu hören bekommt, man betreibe "Kuschelpädagogik". Man müsse hart durchgreifen und Grenzen setzen. Natürlich brauchen die Menschen Grenzen, aber die müssen gemeinsam erarbeitet und dürfen nicht aufgezwungen werden. Die Pädagogik ist gestrichen, und aus der früheren Sozialarbeit ist das Fallmanagement geworden.

SB: Würden Sie angesichts dessen, wie sehr Soziale Arbeit behindert wird, sagen, daß sie als Berufsstand insgesamt gefährdet ist und um ihr Überleben kämpfen muß?

MS: Es gibt tatsächlich ganze Bereiche, die ausgehungert werden. Das sind solche, die sich angeblich nicht rechnen und in denen die Klienten nicht für wert erachtet werden, daß man etwas für sie tut. Insgesamt gesehen ist die Soziale Arbeit meines Erachtens jedoch als Berufsstand nicht bedroht, da es viele Bereiche gibt, in denen SozialarbeiterInnen weiterhin gesucht und eingesetzt werden. Allerdings kann man geteilter Meinung darüber sein, ob ihre Tätigkeit noch Sozialarbeit im Sinne unserer Profession ist. Es gibt zunehmend Bereiche, in denen man nicht studiert haben muß. Dort bekommt man ein Mitarbeiterhandbuch, in dem alles drinsteht. Da darf man auch nicht mehr darüber nachdenken, ob das alles richtig ist, sondern es wird einfach gemacht. Es handelt sich um eine Art Anlernberuf, und eigenständiges Denken ist nicht das, was sich die Träger wünschen. Gott sei dank gibt es natürlich auch Fälle, in denen alles viel besser ist, aber die sind eher die Ausnahme als die Regel.

SB: Wir hatten bei Ihrem gestrigen Impulsreferat den Eindruck, daß Sie nicht die allerbesten Erfahrungen mit den Gewerkschaften gemacht haben.

MS: Natürlich wäre es gut, wenn wir stärker gewerkschaftlich organisiert wären. Ich habe überhaupt nichts gegen Gewerkschaften, aber sie sind weder das A und O, noch elementar nötig, damit sich etwas entwickelt. Vor allen sollten sie sich selber weiterentwickeln, um sinnvoll mitmachen zu können. Das ist meine Grundhaltung. Im Unabhängigen Forum kritische Soziale Arbeit gehen Gewerkschaftsmitglieder und Unorganisierte problemlos miteinander um. In Berlin räumen die Gewerkschaftler unverhohlen ein, daß ihre Gewerkschaft von den gemeinsamen Aktionen profitiert. Sie merken einfach, daß es weiterführt, miteinander zu reden. Wir haben ein bundesweites Bündnis für Kinder- und Jugendhilfe gegründet, bei dem tatsächlich der Berufsverband DBSH und sämtliche Gewerkschaften alle am Tisch sitzen und an einem Strick ziehen. Man merkt, wie stolz sie darauf sind, das geschafft zu haben. Wir haben uns einmal in einem DBSH-Haus getroffen, und dann klingelte noch jemand von der GEW, der zu spät kam, worauf der Verdi-Mann rausging und ihm die Tür öffnete. Da waren sie selber ganz begeistert.

Ich denke aber, daß man nicht auf die Gewerkschaften warten kann. Man kann sie nur von unten ein bißchen anschubsen, damit etwas passiert. In Jena habe ich einmal Gewerkschaften in die Hochschule eingeladen und mußte ein Jahr kämpfen, bis sie endlich kamen. Dann saßen sie alle nebeneinander und spulten ihre Werbesprüche ab. Sie ins Gespräch einzubeziehen, war kaum unmöglich. Dennoch haben sie sich gewundert, als die Studenten erklärten, sie hätten noch nie einen Gewerkschaftsvertreter gesehen und wüßten gar nicht, wozu das gut sein soll. Die Gewerkschaften geben sich der Illusion hin, daß sie sehr wichtig sind. Immerhin hat sich Verdi inzwischen die Sozialarbeit auf ihre Fahnen geschrieben.

Die meisten Leute wollen sich aus unterschiedlichen Gründen nicht organisieren, und ich halte es auch zunächst nicht für erforderlich. Wenn man erst einmal aktiv geworden ist, kann man immer noch entscheiden, ob man eine Organisation braucht. Ich bin auch nicht für eine Sozialarbeitergewerkschaft, weil es uns um viel mehr als Tariffragen geht. Es geht uns um die soziale Frage in dieser Gesellschaft, die eine Gewerkschaft erfahrungsgemäß nicht ganz oben auf ihre Tagesordnung setzt.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Politisches Engagement beginnt an der Basis
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Würden Sie Ihre Vorstellung von politischer Arbeit eher als Basisarbeit in dem Sinne verstehen, daß sich die Menschen, die sich in Sozialer Arbeit engagieren, zusammenschließen, die Richtung vorgeben und gemeinsam überlegen, was zu tun ist?

MS: Ja klar. Mir geht es darum, daß bei möglichst vielen Menschen ein Denkprozeß einsetzt und sie erkennen, daß es nicht so sein muß, wie es ist. Das ist schon schwer genug. Ich würde nicht ausschließen, daß man in einem ganz konkreten Fall auch bestimmte Dinge durchsetzt oder sich zur Verfügung stellt, in Konfliktfällen zu intervenieren. Wir haben in Berlin vor Ort viele topaktuelle Probleme, bei denen wir uns direkt an Aktionen beteiligen. Wir rufen auch selber zu Aktionstagen auf und hoffen, auf diesem Weg viele Menschen zu erreichen. Für mich persönlich wäre es wichtig zu merken, daß die Menschen die Verhältnisse nicht länger schlucken und normal finden, sondern anfangen nachzudenken. Wenn das erreicht wäre, würde ich einer jüngeren Generation gern das Feld überlassen. Ich habe lange genug Sozialarbeit gemacht und natürlich jetzt, wo ich nicht mehr arbeite, einfach mehr Freiheit, in Alternativen zu denken. Auch an der Hochschule war man natürlich eingespannt, da in der Hochschulpolitik genau dieselben Prozesse ablaufen wie in der Sozialen Arbeit. Im Kontext Soziale Arbeit ist die Entwicklung allerdings besonders schlimm, weil es die Ärmsten der Armen trifft, immer gleich an die Existenz geht und die Soziale Arbeit gewissermaßen das letzte Bollwerk vor dem Zusammenbruch der Moral ist. Wenn sich Soziale Arbeit nicht mehr für jene Menschen einsetzt, die in dieser Gesellschaft nichts zu lachen haben, sondern von oben auf sie herunterschaut, hat die Gesellschaft etwas verloren. Und das ist keine Schönheitsfrage, sondern eine existenzielle in einer Gesellschaft, sofern diese tatsächlich noch so etwas wie Gerechtigkeit als Wert hochhält.

SB: Frau Seithe, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] Mechthild Seithe: Schwarzbuch soziale Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010

[2]
Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)

12. November 2012