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INTERVIEW/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Heimkehr der Theorie (SB)


Soziale Arbeit kritisch in den Blick genommen

Interview mit Roland Anhorn am 15. September 2012 in Hamburg



Prof. Dr. Roland Anhorn forscht an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EFHD) zu Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Gesundheitswesen und ist im Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit (AKS) organisiert. Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg referierte er im Rahmen des Workshops "Zur Notwendigkeit einer kritischen Positionierung in den Forschungspraktiken und der Theoriebildung Sozialer Arbeit" [1]. Zum Abschluß des Kongresses beantwortete Roland Anhorn dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Roland Anhorn
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Anhorn, könnten Sie bitte erläutern, worum es bei dem kritischen Zugang zum Thema Soziale Arbeit geht?

Roland Anhorn: Wir knüpfen an eine Tradition der Sozialen Arbeit an, die in den 70er Jahren auch in Hamburg sehr stark gewesen ist. Sie war damals in Arbeitskreisen für eine Kritische Soziale Arbeit (AKS) organisiert. 2005 haben wir - Johannes Stehr und Kerstin Rathgeb gehören dazu - den AKS wieder ins Leben gerufen, nachdem er Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre von der Bildfläche verschwunden war. Daß wir den Arbeitskreis im Jahr 2005 gegründet haben, kam nicht von ungefähr. Angesichts der Hartz-IV-Reform waren wir der Ansicht, daß man zu diesen sozialpolitischen Entwicklungen wieder eine Gegenöffentlichkeit herstellen müßte. In der Folge haben sich inzwischen insgesamt 17 verschiedene regionale Arbeitskreise gebildet.

In diesem Kontext haben wir verschiedene Thematiken aufgegriffen, darunter auch die Frage der Forschung in der Sozialen Arbeit. Wie müßte eine Forschung ausgerichtet sein, die die Ansprüche einer kritischen Perspektive aufrechterhält bzw. weiterführt? Wir stehen in der Tradition der klassischen Kritischen Theorie von Marx, Horkheimer und Adorno bis hin zu neueren Vertretern wie Michel Foucault. Diese gehören für uns in die Tradition einer kritischen linken Position innerhalb der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis und eben auch in der Forschung.

SB: Würden Sie die Position ihres Arbeitskreises ganz allgemein als herrschaftskritisch bezeichnen?

RA: Natürlich. Unsere kritische Position knüpft an alte Traditionen an. Das ist nichts Neues. Mit kritischer Perspektive meinen wir Macht- und Herrschaftskritik. Unser Grundverständnis lautet, daß sich in Konfliktzusammenhängen immer Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausdrücken. Auf diese Weise lassen sich spezifische Interessen analysieren und zuordnen. Dementsprechend heißt für uns Kritik tatsächlich immer Kritik der Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

SB: Wie verorten Sie in diesem Rahmen die Profession der Sozialen Arbeit als einer im Grunde genommen ambivalenten Disziplin, die einerseits die herrschenden Verhältnisse insofern stützt, als sie die sozialen Probleme reguliert und, böse gesagt, entsorgt, auf der anderen Seite jedoch einen Anspruch an Emanzipation erhebt, die dem vorherrschenden Interesse an der umfassenden Verwertbarkeit des Menschen zuwiderläuft?

RA: Sie haben das Stichwort schon gegeben. Die Soziale Arbeit ist ein hochwidersprüchliches Geschäft. Der Mainstream der sozialen Arbeit zeichnet sich unter anderem dadurch aus, genau diese Widersprüchlichkeit, daß sie Ausschlußwissen produziert und Ausschlußverhältnisse erzeugt, zu verfestigen. Das sind alles Aspekte, die in der Sozialen Arbeit und in ihrem Selbstverständnis als Profession tendenziell zu kurz kommen. Das heißt nicht, daß sie nicht präsent sind, aber sie gehen in der Intention auf, ein professionelles Selbstverständnis aufzubauen. Natürlich wird dann die Perspektive, eine Kritik an der Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit zu formulieren, sehr häufig als nicht besonders hilfreich und wünschenswert empfunden.

Der Kollege Hans Thiersch, der gerade den Abschlußvortrag hält, stellt in diesem Sinne einen Prototyp dar. Er vertritt die Meinung, daß das Selbstbewußtsein der Sozialen Arbeit gestärkt werden muß. Das führt aber dazu, daß ein relativ eindimensionales Bild von der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin gezeichnet wird. Und genau das ist unser Ansatzpunkt. Wir richten das Augenmerk auch auf die Aspekte, in denen Soziale Arbeit Teil von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist und selber Ausschließungsverhältnisse herstellt und verfestigt.

SB: Sie verwenden nicht den Begriff des Klienten, sondern sprechen vom Adressaten oder Nutzer. Wie ist Ihr Verhältnis zu der Frage, inwieweit sich die oder der Betroffene selbst emanzipieren kann, letzten Endes natürlich auch von der Sozialen Arbeit, denn sobald sie die Mißstände, unter denen sie leiden, bewältigt haben, brauchen sie natürlich keine Hilfe mehr?

RA: Das ist tatsächlich ein Knackpunkt. Die kritische Position, wie wir sie vertreten, formuliert diesen Anspruch daher nicht. Das ist vielleicht eine Differenz, aber auch ein Lernprozeß, den wir im Vergleich zur früheren Linken der sechziger und siebziger Jahren durchlaufen haben. Wir können die Befreiung für die Betroffenen nicht durchexerzieren. Das ist Sache der NutzerInnen und AdressatInnen der Sozialarbeit selber. Wir dürfen nicht stellvertretend für die anderen sprechen. Das war ja gerade die Anmaßung der früheren linken emanzipatorischen Position, die auch ein gewisses autoritäres Potential in sich geborgen hat. Unsere Expertenschaft besteht darin, Räume zur Verfügung zu stellen, die es den Betroffenen möglich machen, ihre Interessen zu artikulieren und zu organisieren. Dafür kann Soziale Arbeit in unserem Verständnis wirklich eine hilfreiche Profession sein, aber nicht in dem Sinne: Wir wissen, ihr seid verblendet, und befreien euch aus diesen Verblendungszusammenhängen. Dieser Punkt ist erledigt. Da sind wir, glaube ich, einen Schritt weiter.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag auch Kritik an der Personalisierung bestimmter Symptomkomplexe bzw. sozialer Mißstände geübt. Wir leben in einer Gesellschaft, die stark individualisiert ist und im neoliberalen Sinne auf Eigenverantwortung setzt. Gleichzeitig gewinnt man den Eindruck, daß eine emanzipierte Subjektivität, die sich nicht herrschenden Standards und Normen unterwirft, alles andere als erwünscht ist. Wie verträgt sich dieser Widerspruch mit Ihrem Ansatz der Forschung?

RA: Ich würde einen Unterschied in der Personalisierung machen. Gerade in unserer Forschungs- und Theoriearbeit erforschen wir explizit die Prozesse, die letztendlich die individuelle Verantwortung für Armut und Arbeitslosigkeit immer bei sogenannten Problemgruppen verankern - an ihren spezifischen Defiziten, ihrer mangelnden Integrationsbereitschaft usw. Diese Art der Logik in der Sozialen Arbeit läuft darauf hinaus, daß man die entsprechenden Kompetenzdefizite wie Selbstwertgefühl, Bildung und Sprache zu kompensieren versucht, damit sich die Betroffenen in der Mehrheitsgesellschaft integrieren können. Das ist das traditionelle Muster, und genau dagegen richtet sich unsere Kritik. Das meinen wir mit Personalisierung.

Der andere Aspekt ist, daß wir natürlich auch von der Grundidee einer Autonomie und selbstbestimmten Subjektivität ausgehen. Nur können wir das nicht mit Inhalt füllen. Uns geht es darum, Rahmenbedingungen auch über die Soziale Arbeit hinaus zu schaffen, die eine Vielfalt von Subjektivitäten zulassen, ohne daß sie mit Ausschließung, Stigmatisierung oder Strafe belegt werden. Um es ganz konkret zu machen: Drogenpolitik heißt Legalisierung von Drogen, daß es keinen Unterschied macht, ob die Droge meiner Wahl nun Kokain oder Alkohol ist, sondern daß eine subjektive Lebensform bezogen auf Drogen eine entsprechende Anerkennung in unserer Gesellschaft findet, ohne daß sie mit Gefängnis bedroht wird. Dafür Rahmenbedingungen zu schaffen, daß sich eine Vielfalt von Subjektivitäten entfalten kann, ist unser Anliegen. Aber wir können es nicht inhaltlich füllen. Das ist tatsächlich eine individuelle oder kollektive Frage auch von Gruppen, was für Subjektivitäten entwickelt werden sollen, können, müssen, dürfen.

SB: Es gibt Fälle, in denen Sozialwissenschaft auf ganzer Linie gegen die Betroffenen eingesetzt wird, wenn zum Beispiel bei Hartz IV aufgrund der Bezichtigung des einzelnen, selbst an seiner Lage schuld zu sein, Mittel gekürzt werden und ihm aufgenötigt wird, sich als Opfer darzustellen, um überhaupt Leistungen in Empfang nehmen zu dürfen. Wo würden Sie mit Ihrer Kritik an einer Forschung, die solchen Formen der gesellschaftspolitischen Stigmatisierung zuarbeitet, ansetzen?

RA: Ich denke, die Mehrzahl der Forschungsarbeiten, die unsere AdressatInnen oder NutzerInnen in den Blick nehmen, ist tatsächlich durch das gekennzeichnet, was wir Soziale-Probleme-Perspektive nennen. Christoph Butterwegge gilt als Linker, aber die Art und Weise, wie er zum Beispiel Kinderarmut thematisiert, ist dennoch nicht unproblematisch. Daß er von strukturellen Bedingungen ausgeht, ist zunächst einmal ein sehr sympathischer Zugang, aber am Ende bleibt es bei einer Skandalisierung. Überhaupt ist der Begriff Kinderarmut an sich schon problematisch. Nicht Kinder sind arm, sondern Familien, deren Lebenszusammenhänge von Armut gezeichnet sind. Jetzt Kinder da speziell herauszupicken, darüber läßt sich natürlich gut skandalisieren. Kinder und Tiere eignen sich immer gut, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Das ist ein gängiger Mechanismus.

Aber dann kommen bei Butterwege solche Logikschlüsse zustande, daß Kinder, die in Armut aufwaschen, Entwicklungsdefizite haben. Es ist eine höchstproblematische Konstruktion, aus Armut Entwicklungsdefizite abzuleiten. Das ist schlicht nicht zulässig, wird aber in dieser Form der Forschung regelmäßig praktiziert. Schließlich kommt man dann zu dem Punkt, daß sie früher oder später aufgrund ihrer Anfälligkeit für Ausländerfeindlichkeit, Rechtsradikalismus und Gewalt eine Bedrohung für die Demokratie darstellen. Und was macht man mit sozialem Sprengstoff? Man entschärft ihn. Und wie entschärft man ihn? Durch Repression. Daß am Ende gutgemeinte, auf struktureller Ebene beginnende Ansätze letztendlich doch wieder bei den Betroffenen landen und zum Teil sehr repressiv ausgerichtete Maßnahmen in die Diskussion bringen, ist das Muster der gängigen Forschung und Wissenschaft bis hin zur vordergründig emanzipatorisch ausgelegten Sozialforschung.

SB: Mitunter begründen Forschungsergebnisse den Ausbau repressiver Verfügungsformen. Können Sie sich im Wissenschaftsbetrieb eine Position vorstellen, die solchen Entwicklungen einen Riegel vorschiebt, oder hat die Wissenschaft in einer von Macht- und Herrschaftsdispositiven bestimmten Gesellschaft keinen Einfluß auf die weitere Nutzung ihrer Forschung?

RA: In der Sozialen Arbeit ist es relativ einfach. Die Erwartungen kommen im wesentlichen von der Praxis. Auch die Hochschulen haben sich die Forschung aus der Praxis für die Praxis zu eigen gemacht. Damit sind Abhängigkeitsverhältnisse gegeben, die über weite Strecken der Legitimationsforschung dienen. Die ganze Evaluationsforschung ist im Grunde nur auf die Bewertung und letztendlich Bestätigung der institutionellen Praktiken, die herrschaftlich organisiert und strukturiert sind, ausgerichtet. Wenn es gut geht, kommen dabei ein paar Modifikationen heraus, aber an der institutionellen Struktur wird darüber nichts verändert.

Ich komme von einer kirchlichen Hochschule. Einer unserer Träger ist das Diakonische Werk. Da werden natürlich auf eine bestimmte Art und Weise Erwartungen an Forschung und Wissenschaft formuliert, die letztendlich auf eine Legitimation der bestehenden Praxis und institutionellen Struktur hinauslaufen. Eigenartigerweise ist so etwas wie unser Arbeitskreis an einer evangelischen Fachhochschule möglich. Wir sind eine relativ starke Gruppe. Das dürfte diese Hochschule in der Zwischenzeit bedauern, aber damals war nicht absehbar, daß sich wirklich eine Gruppe formiert. Dennoch ist es eine Minderheitenposition. Deswegen waren wir auch gestern über den großen Zuspruch ziemlich überrascht. Es signalisiert aber auch, daß es wirklich das Bedürfnis gibt, aus diesem Einheitsbrei der Wissenschaft und des Wissenschaftsverständnisses herauszukommen.

Unter den institutionellen Bedingungen werden Professoren unter Druck gesetzt, in schneller Folge Ergebnisse zu liefern. Da bleibt keine Zeit mehr fürs Denken, geschweige denn fürs kritische Denken. Es geht nur noch darum, Drittmittel einzuwerben und Forschungsprojekte durchzuziehen, die entsprechend gestrickt sind. So geht Legitimationswissenschaft. Es gibt noch ein paar kleine Nischen, aber die Hochschullandschaft insgesamt ist schon ein trauriger Anblick. Wenn Professoren wie Heinz Steinert, der für uns alle in Frankfurt ein Referenzpunkt war - er ist letztes Jahr leider gestorben - , emeritiert werden, gehen die Lehrstühle den Bach runter. Das heißt, es gibt keine fortführende Tradition. Interessanterweise hat sich das zum Teil von den Universitäten auf die Fachhochschulen verlagert, aber dort fehlen natürlich die Bedingungen, um dem ein Fundament zu geben oder an Forschungsgelder heranzukommen. Wenn sie Forschungsanträge nach unserem Zuschnitt stellen, ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß sie die entsprechenden Geldmittel kriegen.

SB: Inwieweit reflektieren Ihrer Ansicht nach Professionelle, wie sehr ihr Lebenserwerb Einfluß auf ihre Positionierung im Politischen hat?

RA: Das gehört zu einer kritischen Position immer dazu. Aus welcher Position formuliere ich selber meine Kritik? In welcher Weise bin ich selber als Person oder Vertreter einer bestimmten Profession in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verwickelt? Aber was bedeutet das? Adorno hat einmal etwas gesagt, das für mich immer Gültigkeit hat. Die soziale Position eines Menschen - und damit meint er sich als Jude und Außenseiter in der Weimarer Republik - ist auch eine Erkenntnisposition. Das hat auch etwas mit der Erkennntnisperspektive zu tun.

Natürlich muß man immer darauf reflektieren, was die eigene Position und die eigenen sozialen Zusammenhänge in Hinblick auf Kritik und auch die Beschränkungen von Kritik bedeuten. Das gehört zum Grundbestand einer kritischen Theorie. Unsere Kritik richtet sich auch dagegen, daß man seinen eigenen Standpunkt im traditionellen Forschungsprozeß sehr häufig nicht mitreflektiert und nicht danach fragt, welche möglichen Einflüsse und Auswirkungen das auf die Forschungssituation hat. Diesen Punkt hat Johannes Stehr gut herausgearbeitet. Das wird sehr häufig ausgeblendet und stellt ein eklatantes Defizit im traditionellen Wissenschafts- und Forschungsverständnis dar. Die Frage: Was bedeutet meine soziale Position in Hinblick auf Kritik, Kritikfähigkeit und auch im Verhältnis zu den möglichen NutzerInnen und AdressatInnen unserer Arbeit? ist Teil einer unabgeschlossenen, nie abzuschließenden Reflexion.

SB: Herr Anhorn, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnote:
[1] https://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0023.html

12. Dezember 2012