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INTERVIEW/024: Krieg um die Köpfe - teile und kriege ...    Dr. Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)


Feindbilder dechiffrieren und Frieden ermöglichen

Interview am 5. März 2015 an der Freien Universität Berlin


Die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) hat mit der thematischen Wahl des Vortrags zum Auftakt ihres diesjährigen Kongresses, in dessen Mittelpunkt der Diskurs der "Verantwortungsübernahme" stand, ein Zeichen gesetzt. Der israelische Soziologe, Politologe und Historiker Dr. Moshe Zuckermann zählt seit Jahren zu den bekanntesten Kritikern der Regierungspolitik seines Landes, deren ideologische Maximen er auf fundierte Weise entschlüsselt. In seinem Referat zum Thema "Wie der Krieg die Gesellschaft Israels im Inneren verändert" legte er die Mentalität eines staatlich geförderten Militarismus' dar, der sich in alle Bereiche des zivilen Lebens einfräst, was sich in diversen Gewaltformen, mithin auch im virulenten Alltagsrassismus und der Entdemokratisierung der Gesellschaft, manifestiert.


Im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Über die Waffengänge hinaus zeugt der permanente Ausnahmezustand von einer Potentialität des Krieges, die Angst zu einer Matrix des gesamten Lebens ausformt. Die konkrete Angst wird zum Fetisch und übersetzt sich als solcher in Ideologie, so daß Angst nicht mehr als existentielles Problem auftritt, sondern als eines der politisch-ideologischen Verhandelbarkeit. Man will also den Krieg gar nicht abschaffen, weil man mit ihm Politik machen kann. Auf diese Weise lassen sich die drängenden sozialen Probleme durch den Primat der Sicherheitsfrage ausblenden.

Zugleich wendet sich die ursprünglich nach außen gerichtete Gewalt des Krieges unweigerlich nach innen. Wo Krieg nicht verwerflich ist, sondern als Manifestation der eigenen Macht hochgehalten wird, durchdringt Gewalt die Struktur der Gesellschaft und drängt nach ihrer Verwirklichung im sozialen Umfeld wie auch in weiteren Waffengängen. Der Ausnahmezustand des Krieges wird in einer Sozialisation hin zum Militarismus derart verinnerlicht, daß sich kaum Widerstand dagegen regt, daß Juden nirgendwo auf der Welt so in Gefahr sind wie in Israel.

Wollte man Frieden durch eine Zweistaatenlösung schaffen, setzte dies eine Räumung der besetzten Gebiete, den Abbau der Siedlungen, die Klärung der Frage Jerusalems und die politisch-symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts voraus. Dies tatsächlich anzustreben, würde in eine bürgerkriegsähnlichen Situation münden. Geht man die Zweistaatenlösung nicht an, entsteht objektiv eine binationale Struktur. Segnete man diese durch volle Gewährung der Bürgerrechte demokratisch ab, wäre der Zionismus am Ende. Andernfalls erklärte man sich offiziell zum Apartheid-Staat. Diese historische Sackgasse ist darauf zurückzuführen, daß Frieden nie eine Option war, so der Referent.

Der Zionismus war sich bei allen Errungenschaften nie sicher, daß sein Projekt nachhaltig sein würde. Das Versprechen auf eine sichere Heimstatt wurde nicht eingelöst, da man nicht an die Möglichkeit dauerhaften Friedens glaubte. So eroberte man und mauerte sich zugleich ein, die Ideologie der Selbstviktimisierung wurde zur Matrix des Selbstverständnisses. Der Krieg galt als Lösung einer problembeladenen Zivilgesellschaft, die man sich nicht leisten wollte. Nach fast 50 Jahren Okkupationsregime ist Israel kein demokratisches Land, weil man nicht in Begriffen des Menschen- und Bürgerrechts denkt.

Der Kriegszustand kann nur durch den tatsächlich angestrebten Frieden aufgehoben werden, nicht durch einen Waffenstillstand. So besteht die eigentliche Katastrophe darin, daß man den Krieg immer schon gewollt hat. Heute sagen Menschen aus der Holocaust-Generation zu ihren Kindern und Enkeln, beschafft euch deutsche und polnische Pässe. Immer mehr junge Israelis emigrieren nach Berlin, was früher ein Skandal gewesen wäre. Es sei wesentlich zu erkennen, welche Ideologien, geheimen Bestrebungen und verdeckten Strategien perpetuiert werden, um den Krieg als Möglichkeit zu erhalten. Im Falle Israels könnte dies das Schicksal des Landes bestimmen, schloß Moshe Zuckermann seinen Vortrag. Wenngleich die deutsche Gesellschaft ungleich friedlicher als die israelische anmutet, kann man seine Ausführungen durchaus als Warnung vor den drohenden Konsequenzen jenes Kriegskurses auffassen, den die Berliner Regierungspolitik im Kontext der NATO einschlägt.


Moshe Zuckermann im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ideologische Zumutungen zurückweisen
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie hatten eingangs in Ihrem Vortrag gesagt, wenn man die Frage des Krieges lösen wollte, müßte man bei der neoliberalen Gesellschaft anfangen. Kann man Krieg und Frieden überhaupt auseinanderdividieren, so als wäre der Frieden ein Gegenentwurf zum Krieg?

Moshe Zuckermann (MZ): Ich weiß nicht, ob der Frieden ein Gegenentwurf des Krieges ist, da sich beides dialektisch durchdringt, aber ich kann sagen, daß man den Krieg nur durch einen Friedenszustand abschaffen kann. Dabei ist der Friedenszustand für mich nicht eine Frage des Nicht-Krieges, sondern ein Zustand, in dem man den anderen bzw. das andere nicht mehr bekriegen will. Die große Frage, die sich auch auf dem Kongreß heute abend gestellt hat, lautet: Ist ein solcher Zustand überhaupt menschheitsgeschichtlich denkbar? Dem Anspruch der Aufklärung, von der wir mittlerweile wissen, daß es eine Dialektik dieser Aufklärung gegeben hat, lag ein solches Verständnis zugrunde. Das heißt, wie ließe sich eine solche Gesellschaft - und nicht eine menschliche Natur - herstellen, in der der Grund zum Krieg mehr oder weniger aufgehoben wäre? So setzt der Begriff des Reichs der Freiheit voraus, daß der Privatbesitz und damit die Klassengesellschaft abgeschafft würde. Daran müßte noch eine ganze Menge gearbeitet werden. In diesem Sinne meine ich in der Tat, daß die Voraussetzung für den Nicht-Krieg der Frieden ist.

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht historische Beispiele, die dem Entwurf des Friedens nahegekommen sind?

MZ: Ich kann nur sagen, daß alle Friedensabschlüsse, die ich bis jetzt erlebt habe, unter gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen stattgefunden haben, die im Grunde genommen die Anlage für einen potentiellen Interessenkonflikt in sich bargen. Ich rede dabei nicht von solchen Friedensabschlüssen wie dem Versailler Vertrag. Frieden würde beispielsweise bedeuten, daß sich das Bedürfnis nach Kohabitation auch strukturell, das heißt, ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell und interkulturell niederschlägt. In dieser Hinsicht mag es Visionen dieser Art gegeben haben, aber historisch ist es noch nirgends in der Welt eingetreten. So gesehen ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ein utopisches Moment.

SB: Sie hatten von der Präsenz des Krieges in der Gesellschaft gesprochen, die auch in vermeintlichen Friedenszeiten weiterbesteht. Wenn man die deutsche Gegenwart mit der Dämonisierung Putins und der Befürchtung, an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg zu stehen, mit der deutschen Geschichte in Beziehung setzt, könnte man dann von einer historisch durchgängigen Linie sprechen oder kommt da eine neue Qualität hinzu?

MZ: Im Moment kommt, zumindest was Deutschland anbelangt, eine neue Qualität hinzu, denn die Kontinuität, mit der sich in der Moderne die Bedingungen in Deutschland für einen Krieg akkumuliert haben, war immerhin 60, 70 Jahre unterbrochen worden.

Allerdings wäre zu fragen, inwieweit die Stellung Deutschlands in der EU eine Voraussetzung für neue Konfliktherde darstellt. Nur wäre es dann nicht mehr der aggressive deutsche Militarismus, der die Perpetuierung des Kriegszustands betreibt, sondern die Tatsache, daß sich aus der Logik einer EU mit deutscher Hegemonialstellung solche Möglichkeiten, beispielsweise in bezug auf Länder wie Griechenland, herausbilden. Für mich war es ohnehin eine paradoxe Meisterleistung, aus geopolitischen Bedürfnissen heraus eine Gegenposition zum Kommunismus zu konstruieren. Der Marshallplan wurde in Deutschland in einer Weise umgesetzt, daß er in der Tat zu einem Faktor im Kalten Krieg geworden ist. Man muß sich fragen, was es in den Begriffen der Weltpolitik zu bedeuten hat, daß Deutschland innerhalb von zehn Jahren zu einer echten Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist. Die Putin-Frage ist dabei nur ein Symptom für etwas, was bei weitem darüber hinausgeht.

SB: Am Beispiel des Konflikts in Israel hatten Sie ausgeführt, daß Feindbilder geschaffen werden, weil man sie aus ideologischen Gründen braucht. Wir erleben heute fast schon im Weltmaßstab, wie der propagierte Antiislamismus, der vor zwei Jahrzehnten in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielte, zum Hauptfeindbild des Westens geworden ist und im IS eine Form angenommen hat, die sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung ausnimmt.

MZ: Sie haben vollkommen recht, wenn es die Taliban und später den IS als Inbegriffe des Islamismus nicht gegeben hätte, hätte man sie erfinden müssen, um die hegemoniale Stellung des Westens zu rechtfertigen. In der westlichen Welt wiederum macht man sich keine Gedanken darüber, wie die Heraufkunft des Islamismus mit der Kolonialgeschichte zusammenhängt, was aber aufzuarbeiten wäre, wenn man das aktuelle Phänomen anpacken wollte. Daß der Islamismus als Feindbild aufgebaut wird, hat im deutschen Zusammenhang damit zu tun, daß man den Antisemitismus nicht mehr ausleben darf. Antisemitismus und Antiislamismus ziehen ihre Kraft aus dem gleichen Ressentiment. Das fügt sich in den Zusammenhang ein, den ich in meinem Vortrag darzustellen versucht habe.

SB: Ein weiterer Punkt, auf den Sie in Ihrem Vortrag zu sprechen kamen, betraf die Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft durch die Präsenz des Krieges. Sind diese Auswirkungen mit Propaganda oder Ideologie, wie man sie aus der Geschichte kennt, vergleichbar?

MZ: Für mich ist Ideologie nicht nur ein kognitives Problem, sondern Ideologie ist, mit Althusser gesprochen, eine Frage der Struktur. Das heißt, die Struktur selber ist Ideologie. Und in dieser Hinsicht glaube ich, daß fortwährend neue Qualitäten entstehen, schon aus der Tatsache heraus, daß Ideologie nicht nur als Überbau gegenüber der Basis zu verstehen ist, sondern daß in der Struktur das Ideologische selber gelebt wird, weil die Basis selber zur Ideologie geworden ist. In diesem Sinne haben wir es mit einem Grundmuster zu tun, das sich in jeder historischen Phase aufs neue formiert und von daher, mit Hegel gesprochen, in eine bestimmte neue Qualität umschlägt. Im Begriff der Kulturindustrie von Horkheimer und Adorno ist bereits angelegt, daß Kultur eben nicht abgehoben, sondern selber Teil des Herstellungsprozesses ist. Was dabei qualitativ neu ist, müßte man aus der historischen Perspektive beurteilen. Für meine Begriffe ist die Funktion, die der Antiislamismus in der heutigen Politik der westlichen Welt spielt, von gravierender Tragweite.

SB: In vielerlei Hinsicht verhält sich die heutige Generation gegenüber gesellschaftlichen oder kulturellen Veränderungen weitgehend kritiklos. Was in der Welt geschieht, scheint sich für sie auf einem anderen Planeten abzuspielen. Wie erklären Sie sich die entpolitisierte Haltung der Jugend?

MZ: Was Sie angesprochen haben, schließt auch meine Studenten nicht aus. Auch wenn es in einer unzulässigen Weise pauschalisierend und generalisierend ist, wage ich einmal die Behauptung, daß das kritische Bewußtsein, das Leute meiner und Ihrer Generation noch umgetrieben hat, bei sehr vielen jungen Menschen von heute abhanden gekommen ist. Die Frage ist, ob sie sich aus einem genußorientierten Lebensgefühl heraus oder als Folge der Perspektivlosigkeit ihrer Zukunftschancen nicht mit strittigen Themen auseinandersetzen wollen. Generation X nannte man das noch vor einigen Jahren. Aber vielleicht ist es auch so, daß die Verdummung durch Kulturindustrie und Wohlstandsgesellschaft dazu geführt hat, daß die Leute ihr Reflexionsvermögen ad acta gelegt haben. Ich glaube, es hat nicht nur mit Ausbildung, sondern auch mit einer Art Lifestyle zu tun, was mich sehr bedenklich stimmt.

SB: Der klassische Kriegsfilm war im Grunde, resultierend aus dem millionenfachen Leid des Zweiten Weltkrieges, ein Antikriegsfilm. Wenn man sich dagegen die Verarbeitung des Themas Krieg im modernen Film anschaut, bekommt man den Eindruck einer Glorifizierung des Tötens. Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach die Kulturindustrie beim Desinteresse der heutigen Generation an den Fragen von Krieg und Frieden?

MZ: Sie spielt eine sehr zentrale Rolle, denn ein Teil von dem, wie sich Bewußtsein heute bildet, geht über Bilder. Ich meine damit keineswegs nur die von oben verordneten Bilder. In diesem Sinne hat sich das, was Adorno unter dem Kulturindustriebegriff subsumiert hat, gewandelt, weil durch die Demokratisierung der Bildvermittlung im Internet und infolge der neuen Technologien ein ganz neuer Impact entstanden ist, der allerdings die Grundstruktur dessen, was vermittelt wird, nicht verändert hat. Daher glaube ich in der Tat, daß ein Teil der Introjektion und Verinnerlichung dessen, was die Potentiale der Gewalt und des Bedürfnisses, Gewalt zu praktizieren, ausmacht, auch heute noch mit dem Kulturindustriebegriff erklärbar ist.

SB: Analog zur Ideologie könnte man die Okkupation wichtiger gesellschaftlicher Fragen durch die Kulturindustrie auch als äußeren Einfluß beschreiben, was im Sinne der Übernahme bestimmter Inhalte natürlich eine Beteiligung der Menschen voraussetzt. Der Lebensstandard in Deutschland ist im Verhältnis zu vielen anderen, auch westeuropäischen Staaten sehr hoch. Inwieweit könnte die bewußte oder intuitive Furcht, diesen Standard verlieren zu können, die Bereitschaft erhöhen, nötigenfalls auch Kriege in Kauf zu nehmen?

MZ: Ich glaube, das ist keine Frage, die spekulativ beantwortet zu werden braucht. Vielmehr läßt sich empirisch nachweisen, daß dem so ist. Das gilt auch für die Kriege, die der hochentwickelte Kapitalismus aus geopolitischen Interessen gegen Länder wie Irak und Afghanistan geführt hat. Ob direkte oder indirekte Beteiligungen aus der Vorstellung einer Bedrohung des Lebensstandards zum Beispiel von Deutschland ausgehen, ist mittlerweile nicht nur eine Frage des Kapitalismus im klassischen Sinne, sondern auch Bestandteil der Gegenentwürfe von Staaten, die in ihrer Geschichte nie an diesem Kapitalismus haben teilhaben können. Das heißt, eine in Rage geratene Dritte und Vierte Welt reagiert heute unmittelbar auf die Erste Welt, wobei man dazu sagen muß, daß die Dritte beziehungsweise Vierte Welt inzwischen durch dieselbe Kulturindustrie indoktriniert ist. Nehmen wir einmal Indien als Drittweltland. Wenn man sich die Armut dort anschaut, scheint so etwas wie Bollywood undenkbar zu sein, und doch hat die kommerzielle Massenkultur die Leute dort wertemäßig vollständig indoktriniert und läßt sie eben in diesen Kategorien denken.

SB: Wenn Feindbilder entstehen, werden dem politischen Gegner häufig bestimmte Defizite bis hin zu geistigen Krankheiten angedichtet. Lassen sich diese Feindbilder überhaupt mit psychologischen Kategorien aufschlüsseln, wenn die Grenze zwischen Vernunft und dieser Art von Pathologisierung ideologisch verschwindet?

MZ: Nur mit Psychologie ist nichts erklärbar, es sei denn, historisch gewachsene gesellschaftliche Strukturen würden die Grundvoraussetzung dafür sein, wie Psychologie sich auswirkt. Der autoritäre Charakter war die Grundvoraussetzung der Frankfurter Schule. Das von vornherein Gegebene, das bei Freud noch ein psychologisches Moment aufwies, ist jedoch nur im Zusammenhang von Schicht- bzw. Klassenbildung denkbar. Mit den Mitteln der Psychoanalyse läßt sich da nichts machen. Dennoch lassen sich solche Momente, in denen psychologische Impulse sich in Ideologien umsetzen, die dann wiederum Strukturen rechtfertigen, sehr schön damit beschreiben. In meinem letzten Buch habe ich dafür zwei Schuldmomente ausgewiesen, nämlich die Negation der Diaspora im Zionismus als Argument des symbolisch begangenen Vatermordes auf der einen Seite und auf der anderen die Tatsache zu wissen, daß man selber eine Souveränität erlangt hat, die es ermöglichte, den palästinensischen Feind zu erschlagen. Ich glaube, wenn man dieses geschichtliche Moment mit seinen gesellschaftlichen Strukturen, die unter anderem auch koloniale Momente mit einbeziehen müssen, und der Mentalität, die daraus entsteht, in Kauf nimmt, dann könnte man in dieser Hinsicht Psychoanalyse mit einer Makrosoziologie verbinden, so wie es die Frankfurter Schule für meine Begriffe getan hat.

SB: Nach den Anschlägen in Paris hat es ein großes Bekenntnis zur Presse- und Meinungsfreiheit gegeben. Gleichzeitig wurden in Frankreich ungefähr 270 strafrechtliche Verfahren gegen Menschen eingeleitet, die eine andere Meinung zu diesem Thema vertreten. Gibt es eine speziell psychoanalytische Deutungsmöglichkeit für diese Irrationalität, wenn einerseits die Presse- und Meinungsfreiheit aufs Banner gehoben und dies andererseits im gleichen Moment negiert wird?

MZ: Wenn ich das psychoanalytisch zu deuten hätte, würde ich sagen, daß diejenigen, die "Je suis Charlie" gesagt haben, genau wissen, daß sie letztendlich in einer Struktur leben, in der sie nicht Charlie sind. Das heißt, sie geben vor, Charlie zu sein und identifizieren sich mit etwas, das in der Grundstruktur dessen, was mit Charlie kodiert ist, den Kern des gesellschaftlichen Problems betrifft, der sich nicht nur auf das Bedürfnis beschränkt, den Islam herabzuwürdigen und Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen. Wenn ich das nun auf eine ganz allgemeine Ebene setze, dann wird praktisch ein Identifikationsmodell hergestellt, von dem man weiß, daß es auf ganz wackligen Füßen steht, denn in einer Gesellschaft wie der französischen müßte man sich über ganz andere Dinge einen Kopf machen, bevor man sagt: "Je suis Charlie". Womit man in Deutschland inzwischen begonnen hat, ist in Frankreich noch gar nicht geleistet worden, nämlich die Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte und die Bedeutung der Frage, wenn diese Leute eines Tages kommen und sagen: Ihr habt uns jahrhundertelang unterdrückt und kommt uns jetzt mit Mohammed-Karikaturen. Wer glaubt ihr zu sein? Wenn man diese Frage ganz offen stellen würde, käme man zu sehr unangenehmen Ergebnissen.

SB: Als Sie in Ihrem Vortrag die Situation in Israel schilderten, schienen Sie aus einem Gefühl der Betroffenheit heraus ziemlich zornig zu werden. Welche Qualität hat Zorn für Menschen, die unter bedrückenden Verhältnissen leben und dagegen aufbegehren?

MZ: Im Gegensatz zu Adorno, der gesagt hat, wenn man wütend ist, könne man nicht denken, bin ich der Meinung, um es einmal mit Benjamin zu sagen, daß das Moment des Hasses und des Zornes zum emanzipativen Denken dazugehört. Nur wenn man sich über den Weltzustand echauffiert und es nicht dabei bewenden läßt, wenn man also das große Weinen in der Welt, wie es einst Else Lasker-Schüler nannte, nicht übergeht, kann man das Leiden in der Welt beenden. Diese Welt muß nicht nur aufs neue gedeutet, sondern auch tatsächlich verändert werden. Dafür ist dieser Impuls des Zornes, der Wut und der Nichthinnahme des Bestehenden eine Grundvoraussetzung. In dieser Hinsicht ist mein Zorn ein Symptom für das Grundbedürfnis, nicht affirmativ zu argumentieren, sondern die Welt verändern zu wollen.

SB: Herr Zuckermann, vielen Dank für dieses Gespräch.


Blick aus dem Auditorium auf das Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Referent mit Moderator Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder
Foto: © 2015 by Schattenblick


Erster Bericht zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
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BERICHT/029: Krieg um die Köpfe - auf die Füße stellen ... (SB)

16. März 2015


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