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INTERVIEW/034: Krieg um die Köpfe - Es kommt darauf an, warum ...    Jörg Hein im Gespräch (SB)


Herrschaftskritik im Spiegel philosophischer Positionen

"Krieg um die Köpfe - Der Diskurs der Verantwortungsübernahme"
Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie vom 5. bis 8. März 2015 in Berlin


Seit der Antike haben sich Philosophen mit dem Verhältnis des Menschen zum Staat auseinandergesetzt. Der frühe Herrschaftsdiskurs war von der Vorstellung eines weisen Monarchen bzw. klugen Staatsmannes gekennzeichnet, der die ihm verliehene Macht dazu nutzt, allen Menschen unter seiner Hoheit ein gutes Auskommen und Gedeihen zu sichern. Dieser frühzivilisatorische Versuch, Herrschaft und Verantwortlichkeit in einer Person zu bündeln, um das Toben der Kriege und willkürliche Blutvergießen aus dem Lebenszusammenhang des Menschen zu verbannen, erwies sich jedoch als Fehlkalkulation. Die Widersprüche des Machtmißbrauchs nahmen in der Geschichte der Staatlichkeit vielmehr eine sich qualifizierende Eigendynamik an, die auch durch die Kompromißformel der Gewaltenteilung nicht begrenzt werden konnte.

Kriege im Namen der kolonialistischen Eroberung und imperialistischen Aufteilung der Welt gingen stets einher mit der Ausbeutung der davon betroffenen Bevölkerungen. Sie bilden noch heute das Rückgrat des regionale und nationale Produktivitätsunterschiede zwischen den hochentwickelten Metropolengesellschaften und der globalen Peripherie nicht nur zementierenden, sondern vertiefenden Zugriffs auf natürliche und humane Ressourcen. Vor allem rational-aufklärerische Staatstheoretiker der Neuzeit konfrontierten sich daher mit der Frage, inwieweit Formen der Vergesellschaftung mit der Entwicklung von Machtpositionen und den in der Menschheitsgeschichte stets wiederkehrenden Kriegs- und Vernichtungsexzessen zusammenhängen.


Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Jörg Hein
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Frage, ob die politischen Eliten in einem Staatswesen möglicherweise Denkmustern folgen, die sich aus der konflikthaften, tendenziell gewaltförmigen Struktur von Gesellschaften selbst generieren, anstatt Ergebnis problematischer Persönlichkeitsmerkmale zu sein, scheidet bis heute die Geister. Der dem Vorstand der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) angehörende Psychotherapeut Jörg Hein warf sie im Rahmen des diesjährigen NGfP-Kongresses in seinem Vortrag "Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" auf. Anhand der denkgeschichtlichen Traditionen Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Michel Foucaults stellte er zwei Ansätze zur Untersuchung von Vergesellschaftungs- und Machtprozessen vor, die prägenden Einfluß auf die gesellschaftstheoretische Diskussion haben.

Als erster großer Theoretiker der modernen Gesellschaft hat Hegel die Entfaltung des einzelnen mit der Entwicklung der Gesellschaft als Ganzem zusammengedacht. Mittels der dialektischen Methode kommt er zu dem Schluß, daß die Vorstellung einer individuellen Freiheit Illusion sei, da die konkrete Freiheit, die alle Formen von Sittlichkeit und persönlicher Wertschätzung durchdringt, vollständig durch den Staat und seine Institutionen verkörpert wird. Inhalt und Konsequenz seiner Theorie, die bisweilen hart an die Grenzen allgemeiner wie auch akademischer Verständlichkeit stoßen, weil Hegel die Sprache selbst zum Medium seiner dialektischen Auseinandersetzung macht, werden bis heute kontrovers diskutiert. Das mag daran liegen, daß sich Hegel in seiner sachlichen Vernunft weitgehend von moralischen Imperativen freigemacht hat, so daß die Darstellung des von ihm hinterfragten Zusammenhangs zuweilen den Anschein fühlloser Abgeklärtheit erweckt. Wo Hegel den Krieg bis an den Rand der Verherrlichung gleichsam als reinigendes Gewitter rechtfertigt und die substantielle Pflicht des einzelnen darin sieht, sich für die Unabhängigkeit und Souveränität des Staates aufzuopfern, verweist Hein auf den Patriotismus und die machtpolitische Realität seiner Zeit, ohne allerdings den menschenfeindlichen Charakter einer solch staatstragenden Legitimationsstrategie zu rechtfertigen.

In Anlehnung an die antiken Philosophen Platon und Aristoteles geht auch Hegel vom Grundgedanken der Gemeinschaft aus, in die der einzelne eingebettet ist und die zugleich den Nährboden seiner Subjektivität stellt. Statt eines harmonischen und förderlichen Zusammenwirkens der einzelnen Glieder einer Gemeinschaft zeichnet Hegel zunächst eine Gesellschaft, die in der zunehmenden Polarisierung von Reichtum und Armut Kräfte von selbstzerstörerischem Ausmaß und nach außen hin Krieg und Verderben entfaltet. Dabei sei der Partikularismus bloßer Schein. Vielmehr stehe hinter der arbeitsteiligen Produktionsweise und der Marktkonkurrenz die Abhängigkeit der Individuen untereinander. Die Formation von Staat und Gesellschaft brauche indes zu ihrer Selbstbehauptung die Zurücknahme von Subjektivität in der Familie und in den Korporationen der Stände und schließlich ihre restlose Aufgabe im Militärapparat und der Fähigkeit zur entpersönlichten Kriegführung, weil der Staat nur so in seinen Funktionen bestätigt werden kann.

Michel Foucault gilt als wesentlicher Impulsgeber der postmodernen Diskussion und genießt unter linken Theoretikern den Ruf eines kritischen Geistes. Nach Ansicht Heins hat Foucault einen Begriff von Macht entwickelt, der quer zu soziologischen und politikwissenschaftlichen Vorstellungen liegt. Macht ist für Foucault ein ubiquitäres Phänomen und allem gesellschaftlichen Geschehen immanent, was insbesondere für die Wissensproduktion gilt. Hein zufolge ist das Hauptmerkmal im Foucaultschen Machtmodell nicht Repression oder rechtliche Regelung, sondern im Gegenteil Produktivität in einem ständig in Bewegung befindlichen System von Kräften, die sich fluktuierend mit Inhalten verbinden. Dabei gilt Foucaults Interesse in erster Linie der Entstehung und Veränderung von Wissensordnungen im Rahmen gesellschaftlicher Praktiken. So ist er bestrebt, Diskursformationen in einer Gesamtheit von historischen Spuren und Fakten aufzufinden.

Ausgehend von der Untersuchung der Arten des Wissens über die Sexualität seit dem Ausgang des Mittelalters zeigt Foucault auf, daß es dabei nicht um Unterdrückung oder Kampf um Emanzipation, sondern um Kontrolle, effiziente Nutzung und Vervielfältigung als Folge einer neuen hochabstrakten und strategischen Form von Macht geht. Das dynamische Spiel antagonistisch organisierter Kräfteverhältnisse verkette sich dabei zu Systemen mit dem Fluchtpunkt institutioneller Kristallisierung im Staatsapparat, in der Gesetzgebung und gesellschaftlichen Hegemonialformation. Hein zufolge hat Foucault durch die Beobachtung von Machtstrukturen in kleinen beschränkten Situationen auf eine Mikrophysik der Macht geschlossen, die er im Anschluß auf das zentriert habe, was er Biomacht nennt als dem umfassenden politischen Zugriff auf die Verwaltung des Lebens, sei es durch Gesundheitspolitik und Familienplanung bis zu DNA-Analyse, Manipulation des Genoms, Pränataldiagnostik oder dem Klonen als Möglichkeit der Lebensgenerierung in einem als Kontrollgesellschaft definierten Gattungskörper.

Um sich auf die Spur nach "der Sache selbst" zu begeben, bedarf es, so läßt sich im Anschluß an den Vortrag Jörg Heins sagen, des unbescheidenen Mutes, an den Fundamenten und Axiomen menschlicher Erkenntnis zu rühren. Macht und Vergesellschaftung nicht nur im Kapitalismus daraufhin zu untersuchen, inwiefern es dem Menschen überhaupt möglich ist, von Zwang und Enfremdung freie Subjektivierungs- und Emanzipationsprozesse zu vollziehen, bleibt mithin eine zentrale Aufgabe aller Kräfte, die sich der positivistischen Doktrin einer unabänderlichen, in ihren Herrschaftsverhältnissen wesentlich zu akzeptierenden Wirklichkeit verweigern. Die abstrakte Arbeit am Begriff auf die gesellschaftliche Wirklichkeit anzuwenden war denn auch eine Absicht des Gesprächs, das der Schattenblick am 7. März an der Freien Universität Berlin mit Jörg Hein führte.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Von der Gefahr unumkehrbarer Vereinzelung ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Hein, können Sie sich vorstellen, daß Marx, von dem immer gesagt wird, er habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, seine Kritik der politischen Ökonomie ohne den Einfluß von Hegels dialektischem Denken hätte entwickeln können?

Jörg Hein (JH): Marx hat in seiner Auseinandersetzung mit Hegel durchaus verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. Schon in seinen Frühschriften zwischen 1842/43 und 1844, aber vor allem ab seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 hat Marx sich immer mehr auf die politische Ökonomie kapriziert und dabei in allerdings abnehmendem Ausmaß Hegelsche Begrifflichkeiten verwendet, zum Beispiel, wenn er noch im Spätwerk von der Arbeit als der Substanz des Wertes und dessen Doppelcharakter spricht. Damit tut er ja so, als ließe sich die Hegelsche Terminologie in einen erfahrungswissenschaftlichen Bereich transformieren, wenn man jetzt Ökonomie als eine Erfahrungswissenschaft versteht.

Für mich ist interessant, daß Hegel in verschiedener Hinsicht hermeneutisch hilfreich ist, wenngleich nicht als logisches System oder Weltanschauung, sondern weil er die Dinge als Bewegung und nicht als Identitäten auffaßt. Wenn er es dann an manchen Stellen doch tut und identitäre Behauptungen aufstellt und etwa von den Korporationen der Stände als der "sittlichen Wurzel des Staates" spricht, oder davon, daß man nicht wählen braucht, weil die Standesvertreter per se bereits die Sittlichkeit verkörpern, wird es schwierig. Das gilt jedoch auch für Marx, wenn er Klassen als Identitäten unterstellt, weil damit ein mechanischer Materialismus ins Spiel kommt, wodurch der Überschlag in etwas Doktrinäres relativ naheliegt.

Im Verhältnis von Hegel und Marx fällt zudem auf, daß sich Marx' Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie gar nicht auf dessen philosophischen Ansatz bezieht, sondern nur auf das Staatsrecht, die zweite Hälfte seines philosophischen Werkes über Staat und Gesellschaft. Natürlich könnte man einwenden, daß beispielsweise die Vorstellung, dass das "Prinzip der modernen Welt, der Gedanke und das Allgemeine" das Feuergewehr hervorgebracht habe und nicht umgekehrt, oder daß der Staat den einzelnen ihre Sittlichkeit und Sozialität zuteile, etwas Verrücktes habe. Das kann man nur verstehen, wenn man bedenkt, daß er mit seinen Gedanken im Grunde auf Aristoteles zurückgreift, der die Vorstellung hatte, daß die Menschen überhaupt erst durch den Staat bzw. die Polis zivilisiert werden. Damit befaßt sich Marx erst gar nicht, sondern verwendet bestimmte dialektische Figuren zum Beispiel in seiner Religionskritik, ohne ihren Entstehungszusammenhang angemessen durchleuchtet zu haben.

SB: Wenn Marx diese dialektischen Figuren übernommen hat, ist es dann nicht plausibel zu sagen, daß seine Kritik auf der Philosophie Hegels aufbaut?

JH: Ja, aber Hegel ist religiös, wenngleich nicht in einem klassisch frommen Sinne, aber er versteht seine Philosophie auch als Teil von Religion. Marx verwendet sie aber zum Beispiel im Anschluß an Feuerbach antireligiös. Ich habe Hegels Philosophie eingebracht, weil ich denke, daß wir den Blick auf das Gesamte und die Komplexität dieser Phänomene verloren haben. So stellt die Politische Ökonomie ein reduktionistisches System dar, ist selber ein Abstraktum, weil damit behauptet wird, daß die gesellschaftlichen Prozesse sich ökonomisch erklären ließen, womit man ihnen jedoch nicht gerecht wird. Andersherum gibt es unter den Linken auch kulturalistische Traditionen, die sich mit Kulturprodukten wie zum Beispiel Filmen auseinandersetzen und in der Kultur den entscheidenden Gesichtspunkt sehen. Was aber zu leisten wäre und was Hegel sicher versucht hätte, ist, den Zusammenhang von Basis und Überbau zusammen- und nicht als ein irgendwie deterministisches Verhältnis zu denken.

SB: Sie sind in Ihrem Vortrag auch auf das Verhältnis vom Abstrakten und Konkreten eingegangen. Wie müßte Wissenschaftskritik Ihrer Ansicht nach konzipiert sein, um das Problem der durch Abstraktion bedingten Distanz zu den Interessen und Belangen der Menschen zu bewältigen?

JH: Ich kann das anhand meiner beruflichen Identität ein Stück erläutern. Als Psychotherapeut muß ich eine Entwicklung zur Kenntnis nehmen, die im Zusammenhang mit dem Psychotherapeutengesetz und den Bestrebungen auf politischer und gesetzlicher Ebene darauf hinausläuft, die Kompetenz von der Berufsgruppe der Therapeuten eher wegzunehmen und in einen wissenschaftlichen Apparat zu verlagern. Es gibt diagnostische Schemata und Manuale - in der Verhaltenstherapie ist das zum Teil hoch ausgeprägt -, in denen man vorgegeben bekommt, was man an welcher Stelle mit dem Patienten zu besprechen hat. Psychotherapie wird zu einem Lernprogramm und die Therapeuten in der Tendenz zu Anwendern scheinbar objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Ohne Kant nahe treten zu wollen, weil man ihm das letzten Endes nicht anlasten kann, ist dies im Grunde der Kantianischen Tradition zu verdanken. In tausend Bereichen wird Wissen objektiviert, was die Menschen dann zu bloßen Anwendern macht. Wenn man in der Psychotherapie mechanisch vorgeht und nicht auf sich selber als Person oder als erlebnisfähiges Subjekt zurückgreifen kann, das in Kontakt mit einer bestimmten anderen Person tritt, kann dabei nichts Gescheites herauskommen. In dieser Mikrosituation bildet sich dann meines Erachtens ein übergeordneter Zusammenhang ab, nämlich die Entfremdung bzw. der Diebstahl an der Möglichkeit, selbst Erfahrungen zu machen, zu verarbeiten und zu integrieren. Die Therapeuten und die Patienten werden ständig überstimuliert und sind gefordert, auf etwas zu reagieren, das gerade en vogue ist.

SB: Äußert sich diese Art der Anforderung auch im Umgang mit den Krankenkassen?

JH: Auf jeden Fall. So hat es in den letzten fünf Jahren jede Menge Veränderungen gegeben. Das Tückische daran ist u.a., daß man nicht mehr zur Dienststelle gehen kann, um mit der Sachbearbeiterin oder dem Sachbearbeiter die Probleme zu besprechen, sondern man muß zum Telefon greifen, kommt in eine Warteschleife, wird womöglich mit einer Stelle in Hamburg verbunden und dann nach Dresden weitergeleitet, bis alles in Anonymität versackt. Das ist natürlich ein kleines Beispiel, aber insgesamt sind wir in einer Situation, wo sich Persönlichkeit in einem anspruchsvollen Sinne nicht mehr ausbilden kann.

Und das wiederum berührt mein Interesse an Hegel, weil er diese Art und Potenz von Realitätskontrolle, die die Wissenschaft beansprucht und die uns dadurch immer weiter von uns selber wegbringt, in seinem System nicht vorsieht, sondern einen - wenn auch problematischen - Zusammenhang von subjektivem und objektivem Geist denkt. Das ist jetzt zwar eine individualpsychologische Ebene, aber ich finde, wir haben einen Anspruch darauf, uns nach unseren eigenen Erfahrungen zu entwickeln und diese dann zu kultivieren. Dazu gehört, daß man auch wissenschaftliche Dinge zur Kenntnis nimmt und nicht verleugnet, aber inzwischen stecken wir wie Ratten im Hamsterrad, weil wir ständig etwas Neues machen, ohne es wirklich durcharbeiten zu können. Weil dieses fehlt und dadurch Defizite entstehen, tun wir uns auch schwer, einen Horizont auf gesellschaftliche Makrostrukturen zu entwickeln.

Bei den normalen Durchschnittsbürgern hört man dies am krassesten. Urban Priol hat das Thema bei der Wahlkundgebung von Angela Merkel in Seligenstadt einmal aufgespießt, als drei Frauen von einem Reporter befragt wurden, was sie über die Bundeskanzlerin denken. Die Antwort war frappierend: Ah ja, die ist nicht so aufgetakelt, das ist doch angenehm, und deswegen wählen wir sie. Natürlich ist das auch ein soziales Schichtproblem, aber man erkennt daran einen Horizont, der auf einer psychologisch personalisierenden Ebene scheinbar zur Wahlentscheidung führt. Die Frage, was Frau Merkel überhaupt kann oder nicht kann, mit ihrer Politik auslöst oder verhindert, dringt gar nicht mehr durch, weil die Leute nicht mehr imstande sind, ihre eigene Situation zu reflektieren.

SB: Aber meinen Sie nicht, daß die Personalisierung in der Politik immer schon eine Strategie der Durchsetzung irrationaler oder widersprüchlicher Inhalte war? Hat sich daran Ihrer Ansicht nach etwas qualitativ verändert?

JH: Die Medienfachleute sagen an dieser Stelle immer, daß Politiker auch stilisiert werden. In einem der Vorträge ist zur Sprache gekommen, daß sie ein bestimmtes Image kultivieren und sich auch durch Fachleute beraten lassen, die wiederum die Wahrnehmung dieses Images bei den Leuten abfragen und entsprechend modellieren. Dies gilt vor allem für die Aussagen in Werbespots, die zudem immer kürzer geworden sind. Wenn man früher zwei Minuten auf die Präsentation verwendet hat, sind es heute nur noch 30 Sekunden. Da bleibt quasi nur noch Zeit für einen Halbsatz. Das heißt, man kommt im Grunde in die Position eines konditionierten Tieres oder Organismus, der auf bestimmte Signalreize reagiert.


Projektion aus dem Vortrag von Jörg Hein - Foto: 2015 by Schattenblick

Die Machtfrage postmodern entschärft
Foto: 2015 by Schattenblick

SB: Sie hatten Michel Foucault in Ihrem Vortrag als einen Philosophen der Abstraktion oder des Strategischen bezeichnet. Wie bewerten Sie bei ihm das Potential zur Kritik im Verhältnis zur möglichen Affirmation? So hat sich Foucault in seinen Vorlesungen zum Neoliberalismus wesentlich auf dessen Darstellung verlegt. Wenn er etwa sagt, daß sich die Machtbeziehungen auch auf ökonomische Prozesse auswirken, bleibt die Frage offen, was die Macht eigentlich bestimmt?

JH: Dieser Punkt des Verhältnisses von gesellschaftlichen Institutionen und dem strategischen Charakter von Machtstrukturen wurde in dem Referat nur angerissen. Foucault ging es darum, daß überall Macht im Spiel ist. Die Machtdynamik, die er beschreibt, ist ja grenzenlos. Das heißt, sie hat im Grunde etwas Krebsartiges an sich. Nach meinem Dafürhalten ist diese Sicht falsch. Foucault gefällt sich da in einem Kritizismus, der überall Machtrelationen aufdeckt, ohne sie jedoch in ihren Einzelheiten zu bewerten. Dennoch hat er sich als Person an manchen Stellen auch kritisch engagiert, aber das hat in gewisser Weise keine Richtung. Vielmehr problematisiert er mikrosoziale Situationen.

In meinen Augen besteht das Problem darin, daß er die Gewichtigkeit von Makrostrukturen unterbewertet. Bei Foucault gibt es Knotenpunkte der Macht, an denen sich bestimmte Tendenzen addieren, die dann ein Zentrum, meinetwegen so etwas wie eine herrschende Klasse bilden, das aber zugleich auch irgendwie dynamisch ist. Ich glaube, wir sind in einer Situation, wo wir die Stabilität von Herrschaftsstrukturen nicht unterschätzen dürfen, weil sie in ihrer Relevanz viel beständiger sind, als es eine Formulierung wie "überall ist Macht und überall ist Widerstand" erwarten läßt.

SB: Die These von der Biomacht scheint sich dagegen in großen Zügen insofern zu bewahrheiten, als die Verwertung des Menschen immer stärker auf den Körper selbst zugreift und den Menschen zum Beispiel zwingt, sich biomedizinischer Praktiken und Bewertungen zu unterwerfen. War Foucault damit der Wegbereiter einer kritischen Analyse dieser Entwicklungen?

JH: Sein Verdienst ist, daß er solche Vorgänge überhaupt ins Blickfeld gerückt und sie eben nicht in einen metatheoretischen Rahmen einsortiert, sondern als solche einfach festgestellt hat. Allerdings hat er sich keine großen Gedanken darüber gemacht, wohin das führt und ob man das wollen kann. Deshalb hat ihm Axel Honneth auch vorgeworfen, daß er sich für die Gesellschaft als Ganzes und deren Funktionsweise nicht interessiert. Ihm ging es eben um die Mechanismen der Macht, die er mehr oder weniger mit der Lupe untersucht hat. Damit hat er natürlich einiges aufgezeigt und gute Anstöße gegeben, um dort weiterzudenken.

Freilich hat er sich dazu verführen lassen, das von ihm Aufgezeigte als einzig relevante Struktur zu bewerten. Das ist ein generelles Problem bei den Philosophen, die einerseits, wenn sie etwas Gültiges sagen, Ausdruck einer Zeit oder Wissenslage sind und andererseits dadurch Rückkopplungen entstehen. Wenn die Wissenschaft bestimmten Positionen dieser Philosophien folgt und sich danach orientiert, hat das auch einen gesellschaftlichen Einfluß. In dem Sinne ist Foucault wirksam, aber eben auch ein Problem. Foucault hat strenggenommen keine Kritik verfaßt, seine Machttheorie weder eingehegt noch dargestellt, wohin sie führt. Aus sich heraus würde sie zu einem ständig steigenden Irrationalismus führen, worauf zum Beispiel Thomas Gebauer hingewiesen hat. Wenn ein Konzept nach dem anderen generiert wird, dem eine begrenzte Logik zugrunde liegt, wirkt es sich im weiteren Verlauf zugleich systemstabilisierend aus.

SB: Sehen Sie unter den zeitgenössischen Denkern oder Denkschulen wegweisende oder hoffnungsvolle Ansätze für eine Zukunft der Kritikfähigkeit?

JH: Diese Frage kann ich Ihnen nicht wirklich beantworten, weil ich in meiner eigenen Optik zu eingeengt bin. Neben meinem Beruf setze ich mich seit einigen Jahren mit genau diesen Fragen auseinander, indem ich herauszufinden versuche, was genau fehlt und wo eigentlich eingesetzt werden müßte. Wenn man die Oberfläche der politischen Auseinandersetzung betrachtet, sieht man im wesentlichen die Schwierigkeit bzw. Unfähigkeit von kritischen Bewegungen, sich in soziale Strukturen umzusetzen. Sie haben oft den Charakter von auf- und absteigenden Konjunkturen. Etwas anderes wäre es, wenn daraus tatsächlich veränderte soziale Institutionen etabliert würden, meinetwegen, indem das Justizministerium besetzt wird, um eine Justizreform zu machen, oder eine Regulierung von Banken oder Finanzmärkten wirklich einmal stattfände. Aber eine solche Entwicklung kann ich erst einmal nicht erkennen.

Man wird abwarten müssen, was Syriza und Podemos erreichen, aber ich fürchte, daß sie gegen diese Machtstrukturen auf Dauer den kürzeren ziehen werden. Hegel hat in diesem Sinne davon gesprochen, daß, wenn die Besonderung, also die Partikularisierung in der Gesellschaft, zu weit getrieben wird, dann das Zurückführen auf das Allgemeine nicht mehr möglich ist. Im Grunde genommen ist das eine apokalyptische Vorstellung. Es wird immer weiter ausdifferenziert. Ähnliche Gedanken habe ich jetzt bei Wolfgang Streeck gefunden. In der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik beschreibt er den Prozeß, daß der Kapitalismus zugrunde geht, indem er immer mehr anomische Tendenzen generiert. Aber was daraus werden soll, außer daß man sich abschlachtet und überall mafiotische Verhältnisse herrschen, weiß ich nicht.

SB: Herr Hein, vielen Dank für das Gespräch.


Bisherige Beiträge zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/029: Krieg um die Köpfe - auf die Füße stellen ... (SB)
BERICHT/030: Krieg um die Köpfe - Miles legalitus ... (SB)
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INTERVIEW/024: Krieg um die Köpfe - teile und kriege ...    Dr. Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)
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30. April 2015


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