Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT


INTERVIEW/043: Die Enkel der Frankfurter Schule - Karriere fordert den Rest ...    Prof. Dr. Andrea Kleeberg-Niepage im Gespräch (SB)



Aufbegehren in der Jugend? Fehlanzeige! - Zahnloser Widerstand und Angepasstheit dominieren. Ein Gespräch mit der Psychologin Prof. Dr. Andrea Kleeberg-Niepage

Von der Jugend wird in der Öffentlichkeit aber auch unter Forschern häufig Widerständigkeit erwartet. Die Ergebnisse der Befragungen, die Sie und ihre Kolleg/innen von der Europa-Universität Flensburg 2017 an Schulen und Universitäten durchgeführt haben, zeichnen ein anderes, ernüchterndes Bild. Wie sieht das aus?

Wir haben in kulturvergleichenden Erhebungen Kinder und Jugendliche in Deutschland und Ghana nach ihren Zukunftsvorstellungen gefragt. Entstanden sind in diesem Zusammenhang Zeichnungen, Fotografien, Essays und Interviews. Während die deutschen Befragten in den Interviews - abgesehen von einiger Unzufriedenheit mit der Institution Schule - kaum Veränderungswünsche oder Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen äußerten, sahen die ghanaischen Jugendlichen die gesellschaftliche Situation in ihrem Land durchaus kritisch. Ihre Kritik mündete allerdings auch nicht in Widerständigkeit, sondern in dem Bemühen, den widrigen Verhältnissen mit individuellem Einsatz, z.B. bei der eigenen Bildung, zu begegnen.

Sie werden beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie vom 8. bis 11. März in Berlin, der in seinem Titel "Paralyse der Kritik" die Abwesenheit von Opposition beklagt, ausführlichen darüber berichten. Konzentrieren wir uns heute vor allem auf die deutschen Stimmen. Sie schreiben, dass nur wenige Essays deutscher Jugendlicher so etwas wie Entschlossenheit zum Widerstand signalisierten.

Nach genauer Analyse erwies sich der Widerstand auch dieser Befragten als zahnlos. Auch bei ihnen fanden wir eher Angepasstheit; sie richteten sich in der jeweils zugewiesenen sozialen Position ein.

Worauf führen Sie das zurück?

Darauf würde ich zuerst gern mit einer Gegenfrage antworten: Wieso erwartet alle Welt, und da nehme ich uns Wissenschaftler gar nicht aus, von Jugendlichen überhaupt Widerständigkeit? Ich vermute, dass da zwei Dinge gleichgesetzt werden, die nicht gleich sind. Die Klagen um die Angepasstheit von Jugendlichen heute beziehen sich, wenn man genau draufschaut, auf Politik, auf mangelndes Engagement in Gewerkschaften und anderen Organisationen und auf ehrenamtliche Arbeit. Davon völlig verschieden sind die jugendtypischen Konflikte, die es braucht, um eine eigene Identität zu entwickeln. Sie sind ein Thema sowohl der Psychologie als auch der Erziehungswissenschaft. Die Veränderungen in dieser Lebensphase gehen einher mit einer neuen Aushandlung von Positionen unter den Generationen. Das ist unsere westliche Vorstellung von Jugend. Wir räumen ihr dafür einen besonderen Platz ein: das sogenannte Jugendmoratorium. Es gewährt eine relativ lange Zeit der Verantwortungslosigkeit, in der sich Jugendliche z.B. nicht um ihren Lebensunterhalt kümmern müssen.

Resultiert die Erwartung politischer Widerständigkeit unter jungen Leuten womöglich auch aus den 1960er Jahren und den damaligen Erfahrungen mit den Protestaktionen der Studenten?

Obwohl es 1968 vor allem Studentinnen und Studenten waren, die eine Veränderung der Gesellschaft forderten, hatte ihr Widerstand nicht in erster Linie mit ihrem Alter zu tun, sondern mit dem der Kriegs- und Nachkriegszeit geschuldeten Konflikt zwischen Generationen. Dass junge Menschen in Widerstandsbewegungen in der Regel gut vertreten sind, kann auch damit zusammenhängen, dass sie noch keine familiären Verpflichtungen haben, die Widerständigkeit durchaus beeinträchtigen können. Man muss noch nicht fürchten, dass - wenn man im Gefängnis landet - die Kinder nicht aus der Kita abgeholt werden oder man seinen Job und damit seine Existenzgrundlage verliert.

Meinen Sie, dass Bildung eine wichtige Rolle spielt und deshalb in der Schule damit begonnen werden sollte, kritisches Denken zu lehren?

Meine Kollegin, die Erziehungswissenschaftlerin Sandra Rademacher sagt: Jede Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient, also auch unsere. Diese Schule in ihrer gegenwärtigen Konstitution kann den Schülern kein widerständiges Denken beibringen, weil das gar nicht ihr Auftrag ist. Sie ist dazu da, Schüler in die Gesellschaft hinein zu sozialisieren, sie ein Stück weit anzupassen und - nicht zu vergessen - Selektion zu betreiben oder Lebenschancen zuzuweisen, wie der kritische Psychologe Klaus Holzkamp das nannte. Das zeigt sich z.B. in dem erwiesenen engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg. Das Abwägen von Positionen, das Erarbeiten eines eigenen Standpunkts, das Hinterfragen von angeblich Alternativlosem - all das geschieht ja nicht systematisch an Schulen. Wenn es passiert, dann ist es ein Zufallsprodukt, ein Glücksfall.

Schule, wie wir sie erleben, ist von defensivem Lernen, wie Holzkamp das nennt, geprägt; dabei geht es vor allem um gute Noten, um Täuschung und möglichst geringen Aufwand. Das Gegenstück - das expansive Lernen, bei dem es mehr um das Verfolgen von Interessen geht - ist gar nicht gewollt. Unter diesen Umständen kann Schule Jugendlichen kein widerständiges Denken beibringen. Ganz abgesehen, davon, dass Schulen ohnehin schon fortwährend zusätzliche Themen, wenn nicht gar Unterrichtsfächer aufgedrängt werden, wie Wirtschaft, Ernährung, Informatik, bei denen es immer um Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse geht und nicht darum, diese infrage zu stellen.

Lässt sich das nach der Bachelor/Master-Reform analog auf die Universitäten übertragen? Geht es auch dort immer mehr um Anpassung an die Bedarfe, die die Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft anmeldet und nicht um die kaum wiederkehrende Riesenchance, im Studium den Blick sowohl innerhalb des gewählten Fachs als auch darüber hinaus stark zu weiten?

Universität heute ist Fortsetzung der Schule. Defensive Lernstrategien - also: mit möglichst wenig Aufwand zum Ziel zu kommen - sind eins zu eins an die Universitäten übertragen worden. Die Lehre an den Unis ist total verschult. Die Frage lauten nicht: Welche Lektüre sollte ich mir noch erschließen? Sie lautet eher: Wie komme ich auch mit weniger Lektüre durch? Die wenigen, die etwas anderes wollen, müssen einen Wahnsinnsaufwand betreiben und brauchen zudem noch Glück, um überhaupt in die Seminare reinzukommen, die sie benötigen. Oft heißt es: Das Seminar ist voll. Sie brauchen zudem Flexibilität, um dann, wenn ihre Wunschvorstellung nicht realisierbar war, nicht aufzugeben, sondern eine andere interessante Ergänzung ihres Lehrstoffes zu finden oder auch entspannt eine längere Studienzeit zu akzeptieren. Letzteres kann sich jedoch kaum jemand leisten. Manchmal stehen Studenten bei mir im Büro und weinen, wenn sie nicht einmal in ihrem Pflichtfach einen Platz im Seminar erhalten haben. Sie kommen gar nicht auf die Idee, stattdessen einen anderen Kurs zu belegen, so sehr sind sie darauf fixiert, dem vorgegebenen Fahrplan zu folgen. Damit beschneiden wir viele Möglichkeiten.

Gab es in Ihren Befragungen auch Beispiele von Widerständigkeit und Anzeichen dafür, welche Bedingungen diese begünstigen?

Kein einziges Beispiel. Das Sich-Einrichten in den vorgefundenen Verhältnissen war allen gemein, milieuspezifisch gab es Unterschiede darin, wie man das tut. Selbst auf den Zeichnungen der Kinder zum gleichen Thema - "Wie stelle ich mir meine Zukunft vor" - erscheinen bei den deutschen Kindern viele Szenen auf Reisen, vor einem großen Haus und/oder mit einem Auto. Das fällt einem erst auf, wenn man diese Zeichnungen mit denen aus Ghana vergleicht. Dort haben die Kinder bei gleicher Aufgabenstellung überwiegend eine Person, sich selbst, gemalt und diese mit Berufsinsignien wie Arztkittel oder Polizeiuniform versehen. Das zeigt, dass die Kinder in Deutschland schon sehr, sehr früh ihre zumindest theoretisch bestehenden Optionen und das hierzulande geltende Wohlstandsideal für sich selbst verinnerlicht haben, während Kinder in Ghana erkennen, dass ein gut bezahlter und sozial anerkannte Job die ihre einzige Option und Chance ist.

Wie erklären Sie das?

Die Zeichnungen zeigen, wie der Diskurs um die vermeintlich vielen Möglichkeiten für alle in unserer Gesellschaft unser Aufwachsen prägt. Daran knüpfen später die verschiedenen Strategien zur Selbstoptimierung an, die uns quasi aufgedrängt werden mit der Begründung, man handle sonst verantwortungslos und dürfe sich am Ende nicht wundern, arm an Chancen zu sein. Dieses Thema würden wir gern weiter verfolgen. Wir fänden es interessant, sich das aus der Subjektperspektive anzuschauen und zu untersuchen: Wie werden diese Selbstoptimierungsdiskurse von den Subjekten integriert und verarbeitet? Wie kommt es, dass sich am Ende der Widerstand nur noch gegen das eigene Unvermögen richtet und nicht mehr gegen gesellschaftliche Verhältnisse? Und wie steht es um die Beteiligung der eigenen Berufsgruppe an diesen Prozessen und damit der Unterdrückung der Subjekte, die - wenn wir den Maximen der kritischen Psychologie folgen - für Psychologen tabu sein sollte?

Ihre Ergebnisse unterscheiden sich deutlich von der der Shell Jugendstudie 2015, in der von einem zunehmenden politischen Interesse und Gestaltungswillen die Rede war.

Beide sind nicht zu vergleichen, weder vom Studiendesign her noch von der Datenbasis. Unsere Untersuchung fand in Schulen statt. Vielleicht haben einige Schüler das aufgeschrieben, von dem sie meinten, wir wollten es hören. Denn so funktioniert Schule. Ich kann nicht ausschließen, dass Befragungen in einem anderen Rahmen - zum Beispiel in Jugendzentren / unter Jugendkulturen - zu etwas anderen Ergebnissen führen würden. Allerdings haben wir eine vergleichbare Untersuchung auch unter Universitätsstudenten, also in einem freieren Rahmen, durchgeführt und die Studierenden anschließend ihre Texte analysieren lassen. Sie waren von ihren eigenen Essays entsetzt.

Warum?

Auch in ihnen ging es nicht um gesellschaftliche Verhältnisse, um die großen Fragen der Zukunft wie Klimawandel, begrenzte Ressourcen, ungerechte Verteilung und darum, wie sie sich dazu stellen und verhalten wollen. Im Vordergrund stand, ob sie einen Master machen sollten oder nicht, welche Strategie karriereförderlich wäre und wie sie sich ein angenehmes Leben ermöglichen könnten.

27. Februar 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang