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BUCHTIP/041: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität (idw)


Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg - 11.04.2007

Ungleichheit fördert Gewalt


In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Gewaltkriminalität deutlich angestiegen. Schuld daran ist auch ein tiefgreifender ökonomischer und sozialer Strukturwandel. Das legen die Ergebnisse nahe, zu denen die halleschen Soziologen Professor Helmut Thome und Christoph Birkel bei ihren Forschungen gelangt sind. Ihr neues Buch "Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950-2000" könnte helfen, aktuelle Entwicklungen besser einzuschätzen. Die Autoren plädieren für neue kooperative Strukturen, um der Gewaltkriminalität Einhalt zu gebieten.

In dem soeben erschienenen Buch sind die Ergebnisse eines gleichnamigen Projektes zusammengefasst, das als Teil des Forschungsverbundes "Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse - Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften" vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Die beiden Soziologen stellen darin fest, dass die Gewaltkriminalität in Deutschland, England und Schweden wie in fast allen ökonomisch hoch entwickelten Ländern in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts deutlich angestiegen ist, nachdem sich seit Beginn der Neuzeit die individuelle Gewaltanwendung stark rückläufig entwickelt hatte.

Die im Buch vorgelegten Analysen von Kriminalstatistiken zeigen beispielsweise, dass die Häufigkeit von Raubdelikten bezogen auf die Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten drastisch zugenommen hat, am stärksten in England, wo die Rate in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mehr als 50-mal so hoch war wie zu Beginn der 50er Jahre. Aber auch in Schweden (Anstieg um das 21-fache) und (West-)Deutschland (Verdreizehnfachung) waren erhebliche Anstiege zu verzeichnen. "Die im Buch enthaltene Darstellung der langfristigen Entwicklung von Gewaltdelikten ist unverzichtbar für die Einschätzung aktueller Befunde zur Häufigkeit von Gewaltkriminalität", sagt Professor Helmut Thome. So zeige sich zum Beispiel, dass die derzeit stabilen oder sinkenden Raten bei einigen wichtigen Arten von Gewaltverbrechen (z.B. Raub) nur bedingt Anlass zur Entwarnung sind, da sie vor dem Hintergrund eines bis in die 90er Jahre reichenden erheblichen Anstiegs zu sehen sind.

"Der ökonomische und soziale Strukturwandel hat zum Anstieg der Gewaltkriminalität wesentlich beigetragen", stellt Thome fest. "Ökonomischer Erfolg zählte mehr und mehr, die soziale Ungleichheit wurde größer, gemeinschaftsbildende Milieus lösten sich auf und alte Wertorientierungen wurden in Frage gestellt." Im Zeitalter der Globalisierung sei zu befürchten, dass sich die gewaltfördernden gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen fortsetzen. "Das gilt insbesondere für die Verschärfung der Wettbewerbssituation und die Zunahme der Ungleichheit, die viele Menschen nicht nur in Armut abgleiten lässt, sondern auch ins gesellschaftliche Abseits stellt."

Thome und Birkel entwickeln in ihrem Buch für den Anstieg der Gewaltkriminalität einen Erklärungsansatz, der differenzierter ist als gängige Interpretationen. So betonen sie in Anschluss an Emile Durkheim gegenüber der gängigen These, dass "die Individualisierung" für den Anstieg der Gewaltkriminalität verantwortlich sei, die Unterscheidung zwischen einem (pazifizierenden) "kooperativen" und einem (gewaltaffinen) "desintegrativen" Individualismus. Gestützt auf diesen analytischen Rahmen wird die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Beziehung zu bestimmten Aspekten des ökonomischen und sozialen Strukturwandels in den drei Vergleichsländern gesetzt, die auf eine Veränderung des Integrationsmodus moderner Gesellschaften hinweisen: Änderungen in der Effektivität und Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols, den sozialstaatlichen Sicherungssystemen, den ökonomischen Ungleichheitsstrukturen, den Marktregulierungen und Arbeitsbeziehungen, den Familienverhältnissen sowie der Nutzung von Massenmedien und Informationstechnologien.

"Das von uns entwickelte Erklärungsschema ist beim Verständnis nicht nur des Anstiegs der Gewaltkriminalität in der Vergangenheit, sondern auch von aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Wirtschaft hilfreich und erlaubt es, ihre gesellschaftlichen Folgen einzuschätzen", erläutert Christoph Birkel. So sei die aktuell diskutierte Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung als eine Stärkung des "kooperativen Individualismus" zu interpretieren und als solche dem sozialen Zusammenhalt förderlich. "Weitere Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen und Kontrollen für Empfänger von Arbeitslosengeld II würden hingegen die gesellschaftliche Entwicklungstendenz in Richtung eines 'desintegrativen Individualismus' beschleunigen und wären mit hohen Nebenkosten in Form von unmittelbaren Kontrollkosten, aber zum Beispiel auch einer Verringerung des sozialen Kapitals verbunden."

Die Autoren sind sich einig: Um die Bereitschaft zur Gewaltkriminalität zu senken, müssten Solidarstrukturen neu aufgebaut werden. "Wir benötigen kooperative Strukturen. Aber natürlich ist es nicht nur die Aufgabe des Staates, sie zu schaffen. Bürger aller sozialer Schichten müssen sich dafür engagieren."


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Bibliographische Angaben:

Helmut Thome/Christoph Birkel
Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität.
Deutschland, England und Schweden im Vergleich, 1950-2000.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration)
ISBN 978-3-531-14714-7, 457 Seiten
Preis: 42,90 Euro.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Helmut Thome
Professur für Methoden
der empirischen Sozialforschung
Tel.: 0345 55 24260 oder 030 85076538
E-Mail: helmut.thome@soziologie.uni-halle.de

Christoph Birkel, M.A.
Tel.: 0345 55 24225
E-Mail: christoph.birkel@soziologie.uni-halle.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution167


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,
Dipl.-Journ. Carsten Heckmann, 11.04.2007
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2007