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FORSCHUNG/070: "Globalisierung" und "Weltgesellschaft" (Uni Bielefeld)


BI.research 35.2009
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Globalisierung" und "Weltgesellschaft"

Von Mathias Albert und Bettina Mahlert


Im Zuge der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise wird immer wieder in verschiedenen Variationen folgende Geschichte erzählt: Die Generationen der heute über Vierzigjährigen haben zunächst in nationalen Gesellschaften gelebt. Sie sind in einer Welt von Nationalstaaten aufgewachsen, ein jeder mit seiner eigenen Sprache, Kultur und Geschichte. Zwischen diesen Nationalstaaten bestanden zwar seit jeher zahlreiche Verbindungen - von Handel und Tourismus über internationale Kulturavantgarden und Auslandsnachrichten bis hin zur internationalen Politik und zwei verheerenden Weltkriegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch und insbesondere mit dem Fall des Eisernen Vorhangs treten Globalisierungsschübe mit einer ganz neuen Qualität an die Stelle dieser älteren Verflechtungen. Insbesondere ein sich global rasch integrierendes und von örtlichen Gegebenheiten abhebendes Finanzsystem wirkt dabei als Motor für das globale Zusammenrücken von Raum und Zeit. Der Nationalstaat verliert in der sogenannten Time-Space-Compression einer globalistischen Hypermoderne seine Handlungsmacht - der wild gewordene Liberalismus, eine sich daran nur noch anpassende Politik und das Vordringen "westlicher" Konsumprodukte in den letzten Winkel der Erde führen drastisch vor Augen, dass rücksichtslose Globalisierungsprozesse die geschützte Welt des Nationalstaats aufgebrochen haben und an seiner Stelle nun das Schicksal des Einzelnen bestimmen. In Zeiten der Krise freilich ruft sich der Nationalstaat dann wieder lautstark in Erinnerung.


Frühe Globalisierung

Diese Geschichte kann allerdings auch ganz anders erzählt werden: Eine Ära des "Vor-Globalismus" hat es zwar gegeben, sie liegt aber viel länger zurück. Bereits vor mehreren Jahrhunderten begannen sich die isoliert voneinander existierenden Gesellschaften, die bisher die Geschichte der Menschheit bestimmt hatten, miteinander zu verflechten. Dabei sind die Entdeckung der Neuen Welt im 15. Jahrhundert, der im Anschluss daran expandierende Welthandel einschließlich der Kolonialherrschaft oder weltweite Missionarstätigkeiten der christlichen Kirchen nur die bekanntesten Beispiele für einen vielschichtigen Globalisierungsprozess, der das Leben der lokalen Bevölkerungen in ebenso hohem Maße durcheinanderrüttelte wie die jüngeren Globalisierungsschübe, die wir aus eigener Anschauung kennen. Bereits mit diesen frühen Verflechtungen beginnt sich die moderne Weltgesellschaft herauszubilden.

Die neu entstehende globale Sozialordnung zeigt sich allerdings nicht nur in jenen handfesten Verflechtungen; sie realisiert sich ebenso wirkmächtig in Form eines neuen Bewusstseins von der Welt als einer Welt, als möglicher Horizont gesellschaftlicher (Selbst-)Beobachtung. Der erste Höhepunkt dieser Aktualisierung von Weltgesellschaft als Horizont gesellschaftlicher (Selbst-)Beobachtung und nunmehr auch Selbstbeschreibung lässt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten. Während auf der einen Seite etwa die Gründung des Weltpostverbandes, der Internationalen Telegraphen Union sowie die Einteilung des Erdballs in einheitliche Zeitzonen verdeutlichen, dass ein globales System umfassender Synchronisierungsleistungen bedarf, wird die Weltgesellschaft in geplanten "Weltereignissen" wie etwa Weltausstellungen und modernen Olympischen Spielen regelrecht für eine "Weltöffentlichkeit" inszeniert. Die Weltkriege unterbrechen diesen Prozess - und rufen den Gesamtzusammenhang der Weltgesellschaft auf ganz andere Weise ins Bewusstsein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kommt dabei dann zwar der Weltbegriff weitgehend außer Mode, nicht aber die erneute Arbeit an der Synchronisierung und an einer Semantik eines zusammenhängenden globalen Systems - nunmehr spätestens seit den 1990er Jahren gewandet im Begriff der Globalisierung. Der Nationalstaat ist in dieser Perspektive dann ebenfalls nichts, was im Zuge der Globalisierung irgendwie überwunden würde: Vielmehr erscheint er selbst als ein Globalisierungsphänomen, insofern er sich als das global alternativlos durchsetzende Modell zur Organisation politischer Herrschaft erweist (ein Siegeszug, der erst mit den großen Dekolonisierungswellen in den 1940er und 1960er Jahren abgeschlossen wird).

Als "Geschichten" können beide Geschichten so erzählt werden; keine von ihnen ist allein wahr oder der anderen überlegen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass jeder dieser beiden Geschichten eine anerkannte Forschungsperspektive entspricht. Inspiriert von unterschiedlichen Fragestellungen, unterscheiden sich diese beiden Perspektiven in den von ihnen abgedeckten Raum-, Zeit- und Sinnhorizonten und in den zu ihrer Bearbeitung (oder, um im Duktus zu bleiben: zu ihrer Erzählung) notwendigen theoretischen und methodischen Instrumentarien.


Weltgesellschaftsforschung

Die zweite Geschichte verweist auf eine dezidiert Bielefelder Perspektive und auf das seit acht Jahren an der Fakultät für Soziologie angesiedelte Institut für Weltgesellschaft (IW). Ziel dieser Forschungseinrichtung ist es, die moderne Weltgesellschaft im Prozess ihrer Entstehung und in ihrer gegenwärtigen Dynamik zu verstehen. Dabei legt das IW in der Tat als Ausgangsprämisse zugrunde, dass diese Gesellschaft sich schon sehr früh herauszubilden begann. Mit der Globalisierungsforschung, die stärker an der ersten Geschichte orientiert ist, verbinden das IW zwar zahlreiche thematische Überschneidungen. Während Erstere jedoch am Leitbegriff der Globalisierung orientiert ist und auch zeitgenössische Globalisierungsprozesse als Vernetzung diskreter Einheiten konzeptionalisiert, ist am Institut für Weltgesellschaft der Gedanke zentral, dass die umfassende Weltgesellschaft alle übrigen sozialen Phänomene - von der gegenwärtigen Finanzkrise über die Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Jubiläumsfeier der Universität Bielefeld - zu Teilen innerhalb eines Ganzen macht. In diesem Sinne wird der Bezug auf die Weltgesellschaft immer mitgeführt.

Eine weitere Besonderheit des Bielefelder Ansatzes der Weltgesellschaftsforschung gegenüber vielen Globalisierungsstudien besteht darin, dass hier unterschiedliche Bereiche - Wissenschaft und Technik, transnationale Räume der Migration und Entwicklungszusammenarbeit, Politik, Sport und Religion - einbezogen werden. Im Unterschied zu großen Teilen der Globalisierungsforschung wird dabei jedoch nicht von einem Primat der Ökonomie ausgegangen. Auch gibt das Leitprinzip des Weltgesellschaftsbezugs den am Institut angesiedelten Forschungen eine ausgeprägte Theorieorientierung. Der Anspruch, die eigenen Forschungen in einem (welt-)gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen zu verankern, produziert eine Kontinuität mit der herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, die sich traditionell auf den einzelnen Nationalstaat meist westlicher Prägung richtet. Diese Kontinuität schließt den Versuch mit ein, jenen Bestand vielfach sehr bewährter Forschungsinstrumentarien in einer Weise weiterzuentwickeln, die dem Faktum der Weltgesellschaft Rechnung trägt. Aus der Orientierung des Instituts für Weltgesellschaft an einer (welt-)gesellschaftstheoretischen Perspektive folgt allerdings nicht, dass nur noch "große" Sozialphänomene in sein Blickfeld geraten. Gegen den makrosoziologischen Schwerpunkt der Weltgesellschafts- und Globalisierungsforschung pflegt das IW auch die Perspektive einer Mikrosoziologie der Weltgesellschaft - denn auch aus kleinen Sozialphänomenen können globale Makrostrukturen entstehen, und auch Face-to-Face-Begegnungen leibhaftiger Menschen mag innerhalb der weiten Weltgesellschaft eine wichtige Ordnungsfunktion zukommen.

Zu den globalen Mikrostrukturen, die in diesem Sinne von Mitgliedern des IW analysiert wurden, gehört das Zweite Vatikanische Konzil - mit seiner durch die Interaktion unter den Teilnehmern ausgelösten Eigendynamik hat es die Zukunft der katholischen Kirche maßgeblich beeinflusst - gehören Fußballweltmeisterschaften - sie sind zwar nur von kurzer Dauer, erreichen aber ein globales Publikum - und gehören Migrantenforen im Internet - die Beschränktheiten elektronischer Kommunikation werden hier durch einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund kompensiert. Dass die transnationalen Räume, in denen sich Migranten bewegen, aber natürlich auch durch Spannungen gekennzeichnet sind, die ganz unterschiedlich bewältigt werden, zeigt eine weitere Gruppe von Studien am IW. Die Verbindungen von Unternehmerorganisationen unter türkischen Migranten im Herkunftsland gelten vielen Beobachtern als förderlich für die Integration von Immigranten, während sich manche religiöse Organisationen - herausgefordert durch die öffentliche Kritik am Islamismus - offiziell von grenzübergreifenden Kontakten distanzieren. Ein ganz anderer weltgesellschaftlicher Aspekt wurde am IW an internationalen Organisationen untersucht - nämlich ihre Verselbstständigung gegenüber den Nationalstaaten, denen sie ursprünglich einmal als Mittel für ihre eigenen Zwecke dienen sollten.

Solche und weitere Globalisierungsprozesse finden sich auch in einem gesellschaftlichen Bereich, der in diesem Zusammenhang bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden hat: in der Sozialpolitik. So zeichnet sich beispielsweise in der Ausbreitung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in Entwicklungsländern eine Globalisierung der Sozialpolitik ab, die darauf ausgerichtet ist, den sozialen Ungleichheiten und Unsicherheiten zu begegnen, welche durch ökonomische Globalisierung womöglich erst ausgelöst werden.

Globalisierung kommt jedoch nicht nur durch grenzüberschreitende Beziehungen zustande, sondern auch durch globale Vergleichs- und Beobachtungshorizonte, die die Weltgesellschaft erst als Einheit erfahrbar machen. Einen solchen Horizont spannen die Länderstatistiken der UNO auf, mit denen sich ein neueres Forschungsprojekt am IW befasst: Wie beobachtet und bewertet sich die moderne Gesellschaft in diesem Zahlenwerk, das seit Jahrzehnten alle Länder der Welt in einer kaum noch zu überblickenden Vielzahl von Hinsichten miteinander vergleicht, und wie haben sich diese Weltdeutungen von 1949 bis heute verändert?

Einen eng verwandten Forschungsschwerpunkt des IW bilden die Menschenrechte, die ja seit 1948 mit einem universellen Geltungsanspruch auftreten und damit einen globalen Ordnungsrahmen schaffen: Sind soziale Menschenrechte - wie etwa das Recht auf Grundsicherung - weltweit akzeptiert? Werden zivile Menschenrechte für Asylsuchende im nationalen Kontext real sichergestellt, und wie verhält es sich damit in den "rechtsfreien" Räumen internationaler Zonen?

Neben der Fortführung der Bielefelder Weltgesellschafts-Geschichte arbeitet das Institut gegenwärtig insbesondere an einer Reihe internationaler Kooperations- und Publikationsvorhaben, um hiermit als Katalysator der Weltgesellschaftsforschung in den angloamerikanischen Sprachraum hineinzuwirken.


Prof. Dr. Mathias Albert ist Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld sowie Honorary Professor an der Universität Arhus und Mitglied im Vorstand des Instituts für Weltgesellschaft. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Theorien der internationalen Politik und der Weltgesellschaft sowie Grenzbildungen und Konflikte in der internationalen Politik.

Bettina Mahlert, M.A., ist Geschäftsführerin des Instituts für Weltgesellschaft und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Bettina Heintz an der Fakultät für Soziologie. Sie arbeitet an einer Dissertation zu Fragen globaler Ungleichheit.


Weiterführende Informationen

Das Institut für Weltgesellschaft (www.uni-bielefeld.de/(de)/soz/iw/index.html) ist eine Einrichtung der Fakultät für Soziologie mit Mitgliedern aus anderen Fakultäten sowie einer Reihe kooptierter Mitglieder aus anderen Hochschulen im In- und Ausland. Zum Institut gehört auch das Graduiertenkolleg "Weltgesellschaft - die Herstellung und Repräsentation von Globalität". Eine ausführliche Darstellung der Aktivitäten des Instituts für Weltgesellschaft findet sich im Tätigkeitsbericht 2001-2008 (www.uni-bielefeld.de/soz/iw/publikationen/pdf/IW-WorkingReport_012509.pdf).

Für einen Überblick über die Bandbreite der Weltgesellschaftsforschung empfehlen wir die aus der Arbeit des Instituts heraus entstandene "Welt"-Trilogie:

Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische und empirische Problemlagen (Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie). Stuttgart: Lucius & Lucius 2005.

Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.). Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung. Wiesbaden: VS Verlag 2007.

Stefan Nacke/Tobias Werron/René Unkelbach (Hg.). Weltereignisse. Theoretische und empirische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag 2008.


Zur Illustration des Spannungsfeldes zwischen Weltgesellschafts- und Globalisierungsforschung (2. und 1. "Geschichte"):

Mathias Albert. "Past, against, or still before globalisation theory? Studying globalisation with social theory". International Political Sociology 1 (2007): 165-182.

Roland Robertson. "Differentiational reductionism and the missing link in Albert's approach to globalization theory". International Political Sociology 3 (2009): 119-122.


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Quelle:
BI.research 35.2009, Seite 56-63
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2010