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FORSCHUNG/072: Gute Stadtplanung kann Kriminalität reduzieren (uni'leben - Uni Freiburg)


uni'leben - 02/2010
Die Zeitung der Universität Freiburg

Berlins neue Ghettos?
Gute Stadtplanung kann Kriminalität reduzieren - Dissertation von Tim Lukas

Von Benjamin Klaußner


"Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45.000 Menschen, dazwischen Rasen und Einkaufszentren", schreibt Christiane F. in ihrem Klassiker "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". "Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall." Der Freiburger Soziologe Tim Lukas ist fasziniert von Großsiedlungen, das Buch hat er als Jugendlicher immer wieder gelesen. Inzwischen hat er aus seinem Hobby eine Dissertation an der Universität Freiburg gemacht. Sie heißt "Kriminalprävention in Großsiedlungen" und beschäftigt sich mit der Angst von Siedlungs-Bewohnern vor Kriminalität. Und mit den Möglichkeiten, die der Städtebau bietet, um Überfällen, Einbrüchen und Gewalt entgegenzuwirken.


Modell-Viertel Gropiusstadt und Marzahn

Für seine Doktorarbeit, die er am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht geschrieben hat, war der Soziologe viel unterwegs in der Gropiusstadt im Westen Berlins und in Marzahn im Ostteil der Stadt. "Die Idee der Großsiedlungen in Deutschland war ja ursprünglich eine gute, praktisch aber ist sie gescheitert", sagt er. "Damals gab es - gerade im Fall der Gropiusstadt - diese großen Entwürfe und Ideen für ein besseres Leben." Grün und luftig sollte die vom Architekten Walter Gropius geplante Siedlung werden, doch mit dem Mauerbau 1963 wurden die Spielräume eng, es wurde "nachverdichtet": Die Wohnblocks wuchsen höher und rückten näher aneinander. Auch Marzahn-Nord war bei seinem Bau in den 1980er-Jahren ein Musterviertel: Moderne Plattenbauten für die Privilegierten der DDR.

In den Jahrzehnten nach ihren ruhmvollen Ursprüngen bröckelten beide Modell-Quartiere zu verwahrlosten Sanierungsfällen. In den frühen 1990er Jahren leerten sich ganze Blöcke in Marzahn, die Bewohner flohen aus der Plattenbautristesse. In die Gropiusstadt schickte die Berliner Regierung Sozialhilfeempfänger. Viele Einwohner der Großsiedlungen fühlten sich unwohl und unsicher, "obwohl die Großsiedlungen keine Kriminalitätsschwerpunkte sind, sondern eigentlich reine Schlafstädte", betont Tim Lukas.

Auf den Einwohnerschwund reagierte Berlin mit Verschönerungs-Programmen, spendierte Balkone, Aufzüge und Straßenlaternen, schnitt viele Hochhäuser auf fünf bis sechs Etagen zurück und ließ sie bunt anmalen. "Kosmetische Maßnahmen", sagt Lukas dazu, "ein sinnvoller Anfang": Stabilere Fenster und Türen erschwerten Einbrüche, verborgene Ecken wurden sichtbarer durch zurückgeschnittene Sträucher, gerade gezogene Wege, Balkone und bessere Beleuchtung. Die Stadt beseitigte Müll, Graffiti oder Spuren von Vandalismus, wodurch die Identifikation der Bewohner mit ihrem Viertel wuchs.

Die nach Lukas' Ansicht noch wichtigeren "sozialen Maßnahmen" folgten, zunächst in Marzahn, später auch in der Gropiusstadt: Die Politik finanzierte "Quartiersmanagements", in denen Anwohner mitbestimmen, wofür in ihrer Siedlung Geld ausgegeben wird. Die Polizei schickte Präventionsbeamte, die Schüler über Rechte und Gesetze aufklärten und sich mit schwierigen Jugendlichen auseinandersetzten. In vielen Hochhäusern wurden Pförtner eingestellt, die in ihren Logen Ansprechpartner für alle Hausbewohner sind und den Überblick darüber haben, wer das Haus betritt. Das führte dazu, dass sich die Menschen in ihren Vierteln heute wohler und sicherer fühlen.


Die neuen Ghettos?

Ein Grundproblem aber bleibt bestehen: "Die Politik laboriert nur an den Symptomen herum, nicht an den Ursachen", klagt Lukas. "Ursachen", das seien viele sozial schwache Menschen, Geringverdiener, Arbeitslose und Ausländer, die an den Rand der Stadt gedrängt würden. Dem könne man nur begegnen, indem man die Quartiere sozial mische, sie für Ärmere und Reichere, Ältere und Jüngere attraktiv mache. Heute leben jeweils etwa 17.000 Einwohner in Gropiusstadt und Marzahn-Nord, mehr als in Breisach. Noch sind sie keine sozialen Brennpunkte, wie man sie aus New York oder Paris kennt. Aber falls Berlin keine klügere Politik betreibe, fürchtet Lukas, "dann sind das möglicherweise die neuen Ghettos". So wie damals, als Christiane F. noch dort gelebt hat.


INFO:
Tim Lukas studierte an der Universität Bielefeld Soziologie und promoviert derzeit an der Universität Freiburg. Zwischen 2002 und 2005 leitete er das internationale Projekt "Crime Prevention Carousel - Sharing Good Practise in Crime Prevention". Daraus ging seine Dissertation "Kriminalprävention in Großsiedlungen" am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hervor, die im Sommer 2010 veröffentlicht wird.


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Quelle:
uni'leben - 02/2010, Seite 3
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
der Rektor, Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer
Redaktion: Eva Opitz (Redaktionsleitung),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2010