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FORSCHUNG/073: Auf den Spielfeldern der Subjektivierung (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 52/Herbst 2010

Auf den Spielfeldern der Subjektivierung

Von Thomas Alkemeyer


Wie wird ein Individuum zum Subjekt? Das geistes-, gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Graduiertenkolleg "Selbst-Bildungen" stellt sich aus interdisziplinärer Perspektive genau diese Frage. Im Fokus steht dabei nicht die bloße Analyse der Reproduktion sozialer Ordnungen, sondern auch jener Praktiken und Räume, in denen neue Subjektformen und damit eine andere Kultur entstehen - vorausgesetzt, eine grundlegende Eigenschaft ist mit an Bord: Spielwitz.

Montagmorgen, Grundschule, dritte Klasse. Frau H. bemüht sich lautstark um Ruhe. Für Sekundenbruchteile sinkt der Lärmpegel - um augenblicklich nur umso stärker anzuschwellen. Sie wird nervös. Es dauert gefühlte zehn Minuten, dann nimmt die junge Frau vor der Tafel Aufstellung - mit ostentativ unpersönlichem Blick, die Arme vor der Brust verschränkt, die Füße schulterbreit auseinander, das Kinn leicht nach vorn gereckt. Noch eine quälend lange Minute, dann hat auch der letzte Schüler reagiert. Ein absterbendes Kichern, noch einmal fällt scheppernd eine Flasche zu Boden - und dann kehrt tatsächlich ein Zustand ein, der sich mit ein wenig Wohlwollen als Ruhe interpretieren ließe.

Frau H. ist seit wenigen Wochen Referendarin. Wie viele ihrer Schicksalsgenossen ist sie verunsichert: Sie muss sich in unbekannten Räumen und Ritualen orientieren; Konferenzen und Fachbesprechungen, die nur unter Zeitnot zu bewältigende Unterrichtsvorbereitung und die mitunter harschen Kritiken ihrer Mentorin lassen sie kaum zur Ruhe kommen. In solchen Situationen ist man für jeden Strohhalm dankbar: Die "Dompteurspose", auf die Frau H. in ihrer Not zurückgreift, hat auch ihre Mentorin kürzlich in einer ähnlichen Situation eingenommen. Sicher, bei ihr wirkte das überzeugender, während man der Referendarin das Auferlegte der Pose noch ansieht. Aber immerhin: Es funktionierte - und kam offenbar auch den Erwartungen der Schüler entgegen.

Frau H. hat schnell gelernt, die praktischen Hilfsangebote der Institution Schule zu nutzen: Lehrertisch und Wandtafel, die Anordnung der Tischgruppen und tradierte Haltungen und Gesten sind Einladungen an den Lehrkörper, sich vor den Schülern in bestimmter Form zu positionieren, zu sitzen, zu stehen oder sich durch das Klassenzimmer zu bewegen. Wenn alles passt, wird das Klassenzimmer zur Bühne für einen stimmigen Auftritt: Die Lehramtsanwärterin ist auf dem besten Weg, ein authentisch wirkendes "Lehrer-Subjekt" zu werden.


Subjektivierung als soziale Praxis

Subjekte sind für die Wissenschaftler des Graduiertenkollegs nicht der Ursprung von Handlungen, sondern Produkte von (Selbst-)Bildungsprozessen. In dieser Sicht ist das Referendariat einem Trainingsprozess vergleichbar, in dessen Verlauf ein Individuum allmählich in eine neue soziale Welt eintaucht und dort eine Subjektposition bezieht. Darunter ist eine Art bewohnbare Zone zu verstehen, ein Platz, an dem es möglich ist, Anerkennung zu erlangen: als Lehrerin, Autorin, Sportler usw., das heißt in einer durch kulturelle Typisierungen gekennzeichneten, historisch entstandenen und wandelbaren Subjektform. Individuen müssen mit diesen Formen gleichsam verwachsen. Nur wenn es ihnen gelingt, sie durch charakteristische Gesten, ein symptomatisches Sprechen oder einen adäquaten Konsumstil glaubhaft zu verkörpern, erlangen sie den Status eines zurechnungsfähigen Subjekts.

Praktiken der Subjektivierung zeigen Regelmäßigkeiten. So zeichnet sich die in der Geschichte der Schule entstandene Praktik des Für-Ruhe-Sorgens durch identifizierbare Muster typisierter Bewegungen, Gesten, Sprech- und Handlungsweisen aus. Jeder Lehrer kann darauf zurückgreifen. Und jede Wiederholung variiert diese Muster. Indem ein Individuum eine Subjektform an sich selbst verwirklicht, verleiht es ihr ein eigenes, mitunter unverwechselbares Gesicht. Man muss jedoch als Lehrer (an-)erkennbar bleiben. Strukturvorgaben wie Gesetze, Normen, Regeln oder Lehrpläne, aber auch in Raumordnungen, Dingen und Sprache materialisierte Verhaltensmöglichkeiten stecken die Spielräume ab. Sie legen ein bestimmtes Agieren nahe, aber sie determinieren es nicht.

Subjektivierung ist kein individuelles Unternehmen, sondern ein vielfältig gerahmtes soziales Geschehen, in dem menschliche und räumlich-dingliche (Ko-)Akteure einander konditionieren. Indem die überforderte Referendarin das Sonderrecht des Stehens und Umhergehens im Klassenzimmer wahrnimmt, setzt sie sich zugleich schonungslos den Blicken ihrer Schüler und der Mentorin aus. Wortlos, aber unmissverständlich bedeutet man ihr, dass sie den Schauplatz des Klassenzimmers (noch) nicht stimmig zu nutzen weiß. Mentorin und Schüler agieren als Anwälte einer eingespielten wie gewünschten Ordnung. Sie zeigen der Novizin, was geht, was nicht geht und - nicht zuletzt - wie es geht. In nie vollkommen berechenbaren (Macht-) Spielen von Adressierungen und Re-Adressierungen knüpfen die Akteure ein Bezugsgewebe der Subjektivierung. Sie nehmen im Vollzug einer Praktik permanent aufeinander Bezug und unterscheiden dabei zwischen passenden und unpassenden Aktionen. Durch überwiegend implizite Kritiken, Korrekturen und Sanktionen wird ein praktisches Verständnis darüber hergestellt, was eine regelgerechte Ausführung der Praktik ist und was nicht.


Positionen, Dispositionen und Eigensinn

Ob und wie existente Spielräume ergriffen werden, hängt nicht zuletzt von den Fähigkeiten und Neigungen ab, die ein Individuum mitbringt. Subjektivierungstheoretisch interessant sind die Fragen, wie ein immer schon vergesellschaftetes Individuum eine Subjektposition konkret einnimmt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es überhaupt Zugang zu den Subjektpositionen einer sozialen Welt bekommt, und wie es beim Hineinwachsen in diese Welt ein deren Spielregeln entsprechendes Selbstverhältnis entwickelt.

Durch praktische Mitgliedschaft spielt sich die Referendarin allmählich in die Ordnung der Schule hinein. Zusammen mit einem körperlich-gestischen Standardrepertoire des Unterrichtens entwickelt sie einen "Lehrer-Blick", ein "Gefühl für Situationen", das ihr eine zunehmend selbstverständliche Teilnahme am Unterrichtsgeschehen gestattet. Das Selbstverständliche aber ist das fraglos Gegebene: Zu Beginn eventuell vorhandene Dissonanzen werden allmählich übertönt. Das Individuum muss sich den Praktiken des Spiels körperlich, geistig und affektiv so weit einschmiegen, dass Reibungsverluste tunlichst vermieden werden. Neigt ein Individuum diesen Formen nur schwach zu, ja stehen sich beide Seiten fremd, vielleicht feindlich gegenüber, dann scheitert die Subjektivierung womöglich. In weniger dramatischen Fällen können die von überschießendem Eigensinn belebten Ausgestaltungen einer Subjektform aber auch ihre Destabilisierung und Verschiebung im Verhältnis zu anderen Subjektformen ins Rollen bringen. Aus einem solchen, kaum vollständig zu vernähenden Riss zwischen Subjektform und sich subjektivierendem Individuum kann Neues erwachsen. Das mitunter explosive Miteinander von Mitspielkompetenz und Differenzerfahrung bietet hervorragende Voraussetzungen dafür, in eine alte Ordnung eingefaltete Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen - und damit auch sich selbst zu verändern. Eben dies ist das übergreifende Versprechen des subjektivierungstheoretischen Ansatzes für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften: Im Unterschied zu Handlungstheorien wird das Subjekt nicht als Ursprung des Handelns vorausgesetzt; und anders als in strukturalistischen Sichtweisen wird es nicht als ein bloßer Effekt vorgängiger Strukturen aufgefasst. Indem wir das Subjekt als ein stets wandelbares Produkt der Teilnahme an sozialen Praktiken untersuchen, dezentrieren wir es, ohne es jedoch zu verabschieden. Im Projekt "Selbst-Bildungen" konzentrieren wir uns nicht ausschließlich auf schriftlich-textuelle oder bildhaft-visuelle Subjektentwürfe wie das "unternehmerische Selbst" in der Soziologie. Wir fokussieren auch nicht allein die sozialstrukturellen Bedingungen von Subjektbildungen. Vielmehr lassen wir ebenso die Einflüsse konkreter Praktiken der Subjektivierung auf soziale Konstellationen und kulturelle Semantiken ins Rampenlicht treten. Der Begriff "Bildung" lenkt die Aufmerksamkeit dabei ausdrücklich auf Formungs- und Erfahrungsprozesse, die man in der Teilnahme an sozialen Praktiken an und mit sich selber macht. Selbst-Bildungen sind in diesem Sinne Entdeckungs-, (Er-)Findungs- und Schaffensprozesse; sie schließen die Transformation bereits übend gebildeter praktischer Vermögen im Spielen und Sich-aufs-Spiel-Setzen mit ein. Die bloße Analyse einer Reproduktion sozialer Strukturen wird durch Untersuchungen ihrer Veränderungen durch Akteure ergänzt und erweitert, deren sozialisierter Eigensinn und Spielwitz sich vollständiger Subjektivierung sperren.


Befragen und Befremden

Dafür ist Interdisziplinarität unverzichtbar. Sie bedeutet für uns ein wechselseitiges Befragen und Ergänzen. Statt um die "Lösung" eines genau definierten Problems geht es darum, die jeweils anderen Perspektiven durch kluge Fragen zu verändern, die Praktiken der Subjektivierung durch aufeinander reagierende Sichtweisen zu umkreisen und ihrer Vielfalt gerecht zu werden. Wenn etwa die "Lehrer-Bildung" in der Schule mit einer sport- und körpersoziologischen "Brille" als Trainingsprozess beobachtet wird, dann helfen diese Befremdungen, einem informellen verkörperten Praxiswissen auf die Spur zu kommen, das sich der Bewusstwerdung und Versprachlichung sperrt, weil es in den Tiefenschichten des Körpers aufbewahrt wird und nur in passenden Situationen auf die Bühne tritt.

Oder es wird eine analytisch reflektierende Schleife durch die Geschichte gezogen: Gegenwärtige Subjektkonzepte dienen dann dazu, historische Subjektivierungsweisen zu erschließen und zu fragen, wie diese durch die Zeit und über verschiedene soziale Felder hinweg aufgegriffen, umgeformt und umgedeutet wurden. Damit wird zugleich die Historizität aktueller Subjektkonzepte aufgezeigt und das Instrumentarium strukturanalytisch verfahrender Disziplinen kritisch befragt. Der Wechsel zwischen den Fächern stellt sicher, dass die Schleife nicht zur Affirmation verkümmert.


"Doing subjects" als "doing culture"

Stellen wir uns nun zum Schluss vor, unsere Referendarin lotete die ihr gesetzten Spielräume immer mutiger aus und entfaltete dabei noch gestaltlose Spielformen des Lehrerseins. Und diese von Frau H. tastend ausprobierten Spielformen würden von Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen, in andere Schulklassen, vielleicht sogar Schulen getragen, dort weiter entwickelt, dann - ja, dann veränderte sich sanft aber stetig nicht nur die Subjektform "Lehrer", sondern auch deren Beziehung zum "Schüler", am Ende vielleicht sogar das, was man gern mit dem Sammelbegriff "Schulkultur" belegt. Genau darum geht es uns - um das spannungsgeladene Ineinander des "doing subjects" mit dem "doing culture".


Der Autor

Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Sportsoziologe am Institut für Sportwissenschaft und Angehöriger des Instituts für Soziologie sowie Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs "Selbst-Bildungen", studierte Germanistik, Sportwissenschaft, Philosophie und Qualitative Methoden der Sozialforschung an der Freien Universität Berlin, wo er 1995 promoviert wurde und sich 2000 habilitierte. Von 1986 bis 2001 war er dort am Institut für Sportwissenschaft und am Institut für Philosophie tätig, zwischenzeitlich vertrat er in Jena die Professur für Sportsoziologie. In Berlin war Alkemeyer leitender Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich "Kulturen des Performativen". Alkemeyer war bis 2008 Sprecher der Sektion "Philosophie des Sports" der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), bis 2009 im Vorstand der Sektion "Soziologie des Körpers und des Sports" in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) sowie DFG-Sondergutachter für den Bereich Sportsoziologie. Er ist Mitherausgeber der Fachzeitschriften "Sport und Gesellschaft - Sport and Society" und "SportZeiten".


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Quelle:
Einblicke Nr. 52, 25. Jahrgang, Herbst 2010, Seite 7-11
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011