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FORSCHUNG/074: Analyse neuer sozialer Formationen - Stories machen Märkte (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Stories machen Märkte

Relationale Soziologie hilft, neue soziale Formationen zu analysieren

Von Sophie Mützel


Neue soziale Formationen wie Gruppen, Märkte oder Netzwerke entstehen nicht nur aus direkten Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Akteuren, sondern auch aus den Geschichten, die die daran beteiligten Akteure erzählen. So entsteht ein neuer Markt zunächst aus den erzählten Geschichten über zukünftige Produkte und Ergebnisse, die Interpretationen und Erwartungen generieren und finanzielle Ressourcen mobilisieren. Der Theorie- und Forschungsansatz der relationalen Soziologie, der kulturelle und strukturelle Aspekte miteinander verknüpft, zeigt sich als besonders geeignet, Entstehungsprozesse sozialer Formationen zu erklären.


In den vergangenen 20 Jahren hat sich die relationale Soziologie zu einem wichtigen und innovativen Theorie- und Forschungsansatz in der nordamerikanischen Soziologie entwickelt. Ausgangspunkt und Orientierungspunkt dieser Entwicklung ist die Veröffentlichung von Harrison C. Whites "Identity and Control" aus dem Jahr 1992 (überarbeitet 2008). Die relationale Soziologie baut auf der klassischen soziologischen Netzwerkforschung auf: Deren Stärke ist es, Beziehungsstrukturen zwischen Akteuren formal zu analysieren und aufzuzeigen, wie sich Beziehungen auf Handlungen auswirken. Beziehungen in diesem klassischen Sinne entstehen durch direkten Austausch von Gütern und Ressourcen wie Geld, Freundschaft oder Informationen. Das klassische Programm fokussiert auf Eigenschaften von Beziehungen und ihren strukturellen Mustern - und klammert kulturelle Elemente explizit aus. Die relationale Soziologie erweitert nun diese rein strukturalistische Perspektive und bezieht kulturelle Aspekte in die Analysen mit ein.

Besonders hilfreich ist die relationale Soziologie, wenn es darum geht, das Entstehen neuer sozialer Formationen zu untersuchen. Eine exemplarische Forschungsfrage, die den Ansatz verdeutlichen soll, kommt aus dem Bereich der neuen Wirtschaftssoziologie und lautet: Wie koordiniert sich ein Markt, der gerade erst entsteht? Ein Markt also, bei dem noch offen ist, welche Akteure daran teilhaben werden, welche Ressourcen zur Verfügung stehen und welche Produkte gehandelt werden. Hier reicht ein strukturalistischer Blick nicht aus, denn dieser ermöglicht nur Aussagen über eine bereits existierende Ordnung. Alternative, kognitivorientierte Ansätze führen schon weiter, denn sie weisen auf die Rolle von Interpretationen und Zuschreibungen von Akteuren und Produkten hin. Ein Schlüsselelement, das bei diesen kognitiven Wahrnehmungs- und Interpretationsaufgaben eine Reihe von heterogenen Akteuren verbindet, trennt und damit koordinierend wirkt, sind erzählte Geschichten (stories). Durch diese Geschichten nehmen Akteure Zuschreibungen von sozialen Beziehungen und von ihrer eigenen Position in diesen Beziehungen vor.

So liefern Geschichten von wirtschaftlichen Akteuren - das sind beispielsweise Presseinformationen von Unternehmen - der Konkurrenz informative Hinweise, wie ein Beziehungsgefüge wahrgenommen wird, und helfen so den Konkurrenten, sich selbst zu präsentieren. Auf der Grundlage solcher Erzählungen können sich wirtschaftliche Akteure mit den Konkurrenten vergleichen und ihre eigene Position im Marktgefüge genauer einschätzen.

Die soziale Formation eines Marktes, soziologisch verstanden als eine sich gegenseitig beobachtende Gruppe von Konkurrenten, entsteht somit aus gemeinsam konstruierten Bedeutungsnetzwerken. Die erzählten Geschichten schaffen die Verbindung zwischen den Akteuren. Strukturelle und kulturelle Elemente sind gemeinsam konstitutiv für die Schaffung und die Erhaltung sozialer Formationen - so lautet die Kernidee der relationalen Soziologie.

Der neu entstehende Markt der innovativen Brustkrebstherapieforschung, die seit den 1990er Jahren als medizinisch und ökonomisch aussichtsreich gilt, kann beispielhaft verdeutlichen, wie die relationale Soziologie Erkenntnisse liefern kann. Anders als die Standardtherapieformen, die Symptome behandeln, widmen sich die innovativen Therapien den biochemischen Ursachen der Krebszellenentstehung. Wegen des großen medizinischen Bedarfs an nichtinvasiver Brustkrebstherapie und der damit verbundenen hohen finanziellen Gewinnchancen stehen die forschenden Unternehmen in einem intensiven risiko- und gewinnreichen Wettbewerb. Im entstehenden Markt werden jedoch keine verkaufsfähigen Produkte im üblichen Sinn gehandelt. Vielmehr ist es ein Markt, in dem Erwartungen an die Zukunft gehandelt und notwendige finanzielle Ressourcen mobilisiert werden.

Die folgende Analyse rekonstruiert einen Aspekt dieser Marktformation der innovativen Brustkrebstherapieforschung, wie sie sich zwischen nordamerikanischen und europäischen Firmen Anfang der 1990er Jahre bis 1998 entwickelt hat. Grundlage der Analyse ist ein Datensatz aus Presseinformationen von Unternehmen, Industrieanalysen, journalistischen und wissenschaftlichen Analysen zur Krebsforschung allgemein, den Forschungsstrategien und den forschenden Unternehmen im Besonderen seit Mitte der 1980er Jahre. Der Schwerpunkt liegt auf Mitteilungen der Biotech-Unternehmen selbst und deren Analysten sowie den Reaktionen der unterschiedlichen Marktteilnehmer darauf.

Wegbereiter einer genetischen Krebstherapie-Entwicklung ist das US-Unternehmen Genentech, das bereits 1991 die erste von drei zur Zulassung eines jeden Medikaments nötigen Phasen von klinischen Tests vornimmt. Konkret geht es darum, das Wachstum von Krebszellen zu hemmen. Die konkurrierende Firma British Biotech beginnt 1992 an einem neuen Enzymhemmstoff zu forschen, der nach Aussagen des Unternehmens "das Zellwachstum von festen Tumoren, wie Brustkrebs, verhindern soll". Als erstes Produkt dieses biochemischen Mechanismus durchläuft der Hemmstoff Batimastat erfolgreich die zweite Phase der klinischen Tests. Nach Einschätzungen des Unternehmens und von Wirtschaftskommentatoren ist Batimastat "ein potenzieller Blockbuster"; damit steigen die Aktienpreise von British Biotech.

Im Januar 1995 erklärt das ebenfalls britische Unternehmen Chiroscience, dass es mit der gleichen Zielsetzung in der Krebstherapie ein effektiveres Mittel als Batimastat entwickelt. British Biotech meldet derweil, dass es bei klinischen Tests von Batimastat zu massiven Nebenwirkungen gekommen ist und unterbricht die laufende Testreihe der dritten Phase - woraufhin die Aktienkurse fallen. Der Gründer von Chiroscience nutzt das Schwächeln der Konkurrenz für sich und erklärt im März 1995 in einer Pressemitteilung: "Wir haben die beste Entwicklungspipeline aller aufstrebenden Pharmaunternehmen mit einem Forschungsprogramm, das uns die Blockbuster-Medikamente der Zukunft liefern wird."

Doch British Biotech kontert prompt und startet im Mai 1995 die zweite Phase für einen weiterentwickelten Wirkstoff namens Marimastat. Positive Zwischenergebnisse aus den klinischen Tests für Marimastat und die Aussicht auf weitere Testphasen lassen im November 1995 die Aktienkurse und die Erwartungen der Analysten wieder stark ansteigen, wie ein Journalist schreibt: "British Biotech selbst wählte in seiner Präsentation zum Medikament Marimastat gegenüber City-Analysten nicht die Schlagzeile eines 'Durchbruchs' in der Krebsbehandlung. Doch ließ diese Präsentation einige der Analysten die Luft anhalten. Der Aktienkurs stieg von 1043p auf 1548p an. Ein atemloser Ian White der Flemings Bank schrieb hastig eine Notiz für seine Kunden. Es sei die 'Kaufgelegenheit des Jahrzehnts' notierte er. Das letzte Mal schrieb er eine solche, wie er sie nennt, Vier-Sterne-Notiz, kurz bevor Glaxo Zantac einführte, das weltweit profitabelste Medikament überhaupt."

In Anbetracht der erwarteten Jahresumsätze für das fertig entwickelte Medikament gerät die Londoner Finanzwelt in einen Rausch. Im April 1996 erklärt Chiroscience erneut, Tierversuche hätten gezeigt, dass "unser Produkt besser ist als Marimastat". Finanzanalysten empfehlen daraufhin den Kauf von Chiroscience-Aktien, deren Wert rapide steigt. Im Mai 1996 beginnen Tests der Phase drei für Marimastat. Finanzanalysten reagieren darauf enthusiastisch: "Wir denken, es wird ein bedeutendes Krebsmedikament." Die Aktienkurse schnellen nach oben, und British Biotech ist kurzzeitig als Unternehmen ohne Produkt 2,5 Milliarden US-Dollar wert.

Die bislang von British Biotech präsentierten Studienergebnisse werden von der Wissenschaft jedoch scharf kritisiert: Sie basierten auf Daten, die natürliche Schwankungen im Hormonhaushalt messen würden, nicht jedoch einen Stopp des Tumorwachstums. Finanzanalysten werfen British Biotech daraufhin Täuschung vor. British Biotech verteidigt sich zwar und erklärt: "Wir waren vorsichtig mit unseren Aussagen. Wir haben nie behauptet, dass Marimastat Krebs heilen kann, aber wir hoffen, dass es ein nützliches Mittel wird." Doch im Herbst 1996 fällt der Aktienkurs.

Die aufwendigen klinischen Studien für Marimastat liefern keine befriedigenden Ergebnisse. Dagegen meldet der amerikanische Konkurrent Genentech Ende 1997 via Pressemitteilung erfolgreiche Ergebnisse aus der dritten, entscheidenden Phase der klinischen Tests: "Die Antikrebsaktivität des investigativen monoklonalen Antikörpers Herceptin kann sowohl zu einer Verlangsamung des Krebswachstums führen als auch zu einem prozentualen Anstieg von Frauen, die eine Tumorschrumpfung erleben. Obwohl es kein Heilmittel ist, weisen diese ermutigenden Resultate für Frauen mit metastasierendem Brustkrebs darauf hin, dass bessere Kontrolle dieser Krankheit möglich ist." Der Druck auf British Biotech, gute Studienergebnisse zu liefern, erschüttert das Unternehmen: Das Management geht im Streit über die Publikationen von Ergebnissen auseinander, juristische Ermittlungen zur Richtigkeit von Pressemitteilungen und zu Insider-Geschäften laufen. Damit hat British Biotech im Juli 1998 nach Einschätzung von Finanzjournalisten seine Glaubwürdigkeit an der Börse verspielt.

Diese Entwicklungen während der ersten Phase der Entstehung eines Marktes der innovativen Brustkrebstherapieforschung zeigen, wie die Akteure über stories wie Pressemitteilungen, Massenmedien und Finanzanalysen miteinander kommunizieren und wie dies ihr Handeln beeinflusst. Über die Verflechtung in ihren Geschichten und Handlungen schaffen sie eine soziale Formation: Der erste Entstehungszyklus des Marktes ist mit der Zulassung von Herceptin für metastasierenden Brustkrebs im September 1998 abgeschlossen. Die konkurrierenden britischen Unternehmen, die beide am selben Wirkungsmechanismus arbeiteten, konnten zeitweise voneinander profitieren. Beide Firmen nutzten die wachsenden Erwartungen an den Wirkstoff, um ihren Börsenwert in die Höhe zu treiben. Einige Geschichten in dieser Marktformation wurden zudem von Akteuren als Lügen entlarvt und von den Finanzanalysten und der Wissenschaft durch neue, negative Erzählungen ersetzt.

Der Blick auf erzählte Geschichten liefert einen analytischen Zugang zu dem neu entstehenden Markt, der jenseits von direkten Austauschbeziehungen auf das Knüpfen von negativen wie positiven Beziehungen hinweist. Aus der Perspektive der relationalen Soziologie zeigt sich, dass soziale Formationen eben nicht nur strukturell, sondern auch kulturell konstituiert sind. Oder anders gesagt: Kulturelle Elemente sind Quellen für die neu entstehende Formation eines Marktes der innovativen Brustkrebstherapieforschung.


Sophie Mützel ist seit Januar 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Wirtschaftssoziologie, Kultursoziologie und Netzwerktheorie. Sie untersucht. wie Märkte, Stile und neue Produkte entstehen.
muetzel@wzb.eu


Literatur

Fuhse, Jan/Mützel, Sophie (Hg.): Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

Mützel, Sophie: "Koordinierung von Märkten durch narrativen Wettbewerb". In: Jens Beckert/Christoph Deutschmann (Hg.): Wirtschaftssoziologie. Sonderheft 49 der KZfSS. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 87106.

White, Harrison C.: Identity and Control: How Social Formations Emerge. Princeton, NJ: Princeton University Press 2008.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 40-42
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2011