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GESELLSCHAFT/230: Von der Last mit der Zeit (highlights - Uni Bremen)


"highlights" - Heft 23 / Dezember 2010
Informationsmagazin der Universität Bremen

Von der Last mit der Zeit


"Ich habe keine Zeit", "Die Zeit ist mir davongelaufen", "Mal sehen, ob ich noch ein Zeitfenster frei habe" - derlei Sätze hört man im Alltag fast täglich. Der Umgang mit Zeit und der vielfach empfundene Zeitmangel sind zu einem gesellschaftlichen Top-Thema geworden. Heerscharen von Autoren und Seminarveranstaltern verdienen ihr Geld mit Zeitmanagement-Ratgebern und den entsprechenden Kursen dazu; die Medien berichten regelmäßig über dieses Thema, das offenbar so viele Menschen bewegt. Auch für die Wissenschaft ist die Zeit ein Thema: Die Soziologin Dr. Nadine Schöneck-Voß von der Universität Bremen hat sich intensiv mit dem Zeiterleben und Zeithandeln von Erwerbstätigen beschäftigt. Wie empfinden arbeitende Menschen die vier aktivsten und unter zeitlichen Gesichtspunkten anspruchsvollsten Jahrzehnte ihres Lebens - wie denken sie über die Zeit, und wie gehen sie mir ihr um?


"Von einer Beschäftigung zur anderen wird das Leben gestoßen werden. Niemals wird man Ruhe haben. Man wird sie immer wünschen." Diese Worte stammen nicht etwa von einem zeitgestressten Menschen der Gegenwart, sondern vom römischen Philosophen Seneca, der in den Jahren kurz nach Christi Geburt lebte. Schon damals kannte man die Probleme im Umgang mit Zeit, schon damals verspürten Menschen oft einen Mangel daran. Doch in der globalisierten Welt von heute, in der moderne Technologien und Kommunikationsmittel alle 24 Stunden des Tages zur "nutzbaren" Zeit machen, scheint der Umgang mit den als "verdichtet" empfundenen Sekunden, Minuten und Stunden noch schwieriger geworden zu sein. Das gilt jedoch nur für Menschen, die einen Mangel empfinden. "Mit Zeit ist es ähnlich wie mit Gesundheit: Die wird oftmals auch erst dann zum Thema, wenn sie zu wünschen übrig lässt", sagt Nadine Schöneck-Voß, die am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Bremen International School of Social Sciences (BIGSSS) arbeitet. "Kranke gehen zum Arzt - und Menschen mit chronischem Zeitmangel müssen gegebenenfalls ihre Lebensweise spürbar ändern, um dem Zeitstress zu entfliehen. Sonst droht auch hier der Arztbesuch, denn anhaltender Zeitstress kann durchaus negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben."

In ihrer Studie zum Thema "Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger" wandte Nadine Schöneck-Voß sowohl quantitative als auch qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren an - eine in den Sozialwissenschaften noch immer recht selten verfolgte Strategie. Zum einen wertete die Soziologin mehr als 160 Fragebögen aus, in denen sie Zeiterleben und Zeitempfinden von Menschen erfasste. Zum anderen führte sie tiefergehende persönliche Gespräche mit 24 Männern und Frauen aus verschiedenen Sozialschichten und mit unterschiedlichen Berufen - vom Manager bis zur berufstätigen Mutter, vom Förster bis zur Professorin. Gerade die qualitativen persönlichen Gespräche führten oft dazu, dass Menschen ihre zunächst im Fragebogen gemachten Aussagen - etwa "ich fühle mich ständig gehetzt und getrieben" - relativierten. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie war daher, dass offenbar weniger Menschen als vermutet unter Zeitproblemen leiden: "Viele Menschen reflektieren über die Zeit und dem Umgang mit ihr. Aber längst nicht alle haben deswegen auch ein Zeitproblem", so die Soziologin. Sie fand heraus, dass letztlich nur ein Drittel der Interviewpartner tatsächlich "zeitgestresst" war.


Keine Zeit? Dann sind Sie wichtig!

Eine Erklärung dafür: Heutzutage ist es offenbar "in", keine Zeit zu haben. "Wer viel beschäftigt und sehr gefragt ist, muss wichtig sein - und hat dementsprechend kaum Zeit. Zeitknappheit ist also zu einer Art gesellschaftlichem Statussymbol geworden", folgert Nadine Schöneck-Voß. "Ein Beispiel: Wenn ich neu in eine Stadt gezogen bin und einen Arzttermin vereinbaren möchte, werde ich doch leicht misstrauisch, wenn es heißt: 'Sie können gleich vorbeikommen.' Die Tatsache, dass der Arzt sofort Zeit hat, signalisiert mir: Der ist nicht gefragt, hat kaum Patienten, ist demnach möglicherweise ein schlechter Arzt." Nach dieser Logik sei es nur zu verständlich, dass Manager, Hochschullehrer oder Prominente ständig wenig Zeit haben: "Schließlich sind sie wichtig." Der mögliche "Zugriff auf knappe Zeit" sei allerdings auch ein Ausdruck von Rangordnungen und Macht: "Ich würde heute Nachmittag mit Sicherheit keinen spontanen Termin bei der Bundeskanzlerin bekommen. Aber es gibt Leute, die ihn bekommen." Auch Vorgesetzte haben gegenüber Untergebenen meist einen Zugriff auf deren "Zeitkonto" - zumindest im beruflichen Bereich.

In ihrer Untersuchung macht die Wissenschaftlerin vier verschiedene "Zeit-Typen" aus, die unterschiedlich mit ihrer Zeit umgehen. Ohne größere Probleme und relativ gelassen gehen mit ihren Minuten, Stunden, Tagen die "zufriedenen Zeitstrategielosen" und "robusten Zeitpragmatiker" um. Anders die "reflektierenden Zeitgestressten" und die "egozentrischen Zeitsensiblen": Sie empfinden ihren Alltag als schnell und hektisch, sind ständig unter Zeitdruck und haben oft das Gefühl, nicht alle Herausforderungen und Aufgaben bewältigen zu können. "In der Tendenz sind es eher Menschen mit höherem Bildungsniveau, die über Zeitprobleme klagen und auch über ihren Umgang mit der Zeit nachdenken", so die Erkenntnis von Nadine Schöneck-Voß.


"Möglichkeitsüberschüsse" schaffen Zeitstress

Dass die Zeitproblematik in den modernen Industriegesellschaften für immer mehr Menschen ein Thema ist, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Es ist oft eine Folge von relativ großen Freiheiten, die heute im Erwerbsleben herrschen. "Es gibt viele Tätigkeiten, in denen man weitgehend selbst entscheiden kann, wann, wo und wie man an etwas arbeitet. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Möglichkeiten im selbstbestimmten Arbeits- und Privatleben kommen viele Menschen in Stress - weil sie viel mehr eigenverantwortliche Entscheidungen fällen müssen als früher", sagt die Wissenschaftlerin. Noch bei den Eltern seien ganze Lebenspfade vorgegeben gewesen: "Der Vater war Tischler, also wurde oft auch der Sohn Tischler. Viele Entscheidungen wurden einem abgenommen - oft auch, weil es gar keine Alternativen gab." Anders heute, wo die Menschen oft "Manager ihrer Lebenszeit" sind. "Man muss sich heute über unzählige Dinge des Berufs und des Privatlebens informieren, das Für und Wider von Entscheidungen abwägen, die richtigen Auswahlen treffen - all' das kostet unendlich viel Mühe und Energie und damit natürlich auch Zeit." Das "Management des Lebens" (bzw. der Lebenszeit) entspreche heute einer Art "Tanz auf vielen Hochzeiten", und die "Möglichkeitsüberschüsse" ziehen Zeitstress geradezu an. Nicht von ungefähr formiert sich auch eine Gegenbewegung dazu - Menschen, die bewusst langsamer leben und "entschleunigen", so genannte "Slobbies" (slower but better working people).

Im Februar 2011 veranstaltet Nadine Schöneck-Voß zusammen mit ihren Kollegen Herwig Reiter und Benedikt Rogge am Delmenhorster Hanse-Wissenschaftskolleg eine international besetzte Fachtagung zum Thema "Times of life in times of change". Dort soll der langjährige sozialpolitische Ansatz der Bremer Uni - die Lebenslauf-Forschung - mit Aspekten der Zeitforschung kombiniert werden.


Universität Bremen
Bremen International School of Social Sciences (BIGSSS)
Dr. Nadine Schöneck-Voß
Tel. (+49) 0421 / 218-66412
E-Mail: nsv@bigsss.uni-bremen.de
www.smau.gsss.uni-bremen.de


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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 23 / Dezember 2010, Seite 8-10
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2011