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GESELLSCHAFT/232: Politik in der digitalen Gesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2011

Politik in der digitalen Gesellschaft

Von Ute Pannen


Digital Natives sind bereits unter uns: Sie adden Freunde, skypen, bookmarken und twittern ganz selbstverständlich. Digital Natives werden die Gesellschaft der Zukunft prägen. Aber wer sind diese Ureinwohner der digitalen Gesellschaft? Und welche kommunikativen Chancen und Herausforderungen für Politik und Gesellschaft gehen mit dem digitalen Wandel einher?


Die Generation der nach 1980 Geborenen ist die erste, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Laut ARD-Studie nutzen 85% der 14- bis 19-Jährigen täglich soziale Netzwerke. Damit hat sich im Vergleich zu früheren Generationen nicht nur ihr Kommunikationsverhalten geändert, sondern auch ihre Medienrezeption, ihre Organisation von Arbeit und Beziehungsstrukturen sowie ihr Identitätsmanagement. Die Nutzungsgewohnheiten der Digital Natives sind durchaus ernster zu nehmen als jugendliche Spleens. Mittelfristig betrachtet regen sie gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse an, die unser Leben in den bisher gewohnten Abläufen deutlich verändern. Arbeitsprozesse, soziale Interaktion, zwischenmenschliche Kommunikation, Medienrezeption, politisches Verständnis sowie das Konsumverhalten befinden sich in einem signifikanten Veränderungsprozess. Überall dort, wo sich Kommunikationsverhalten und die Organisation von Beziehungsstrukturen verändern, haben auch Parteien und Verbände ein Interesse, diese Veränderungen mit ihren traditionellen Strukturen zu vergleichen.

"Wenn eine Nachricht wichtig ist, kommt sie zu mir". Diese Form der Nachrichtenrezeption kennzeichnet das Medienverhalten in sozialen Netzwerken. Dort ist wichtig, was von Freunden empfohlen wird und sich in der community als Nachrichtenwert herauskristallisiert. Allein deshalb bringen soziale Netzwerke wie facebook mehr als reinen Unterhaltungsmehrwert: die Möglichkeit, sich mit Freunden auszutauschen, oder die Nutzung diverser Informationskanäle. facebook läutet einen Paradigmenwechsel in der Medienrezeption ein, weil seine Nutzer Nachrichten nicht mehr aus der Zeitung beziehen, sondern von Freunden darauf aufmerksam gemacht werden. Der virale Effekt, von dem so oft die Rede ist, hat sich beispielsweise bei dem Aufruf zum Zeichnen der Online-Petition gegen das so genannte Zensurgesetz gezeigt. Binnen weniger Tage haben über 100.000 Bundesbürger die Petition unterzeichnet. Diese schnelle Verbreitung ist auf den viralen Effekt zurückzuführen, der beispielsweise entsteht, wenn ein facebook-Nutzer eine Pinnwandnachricht kommentiert und die Meldung auf diese Weise auch dem Netzwerk sichtbar wird. Dieser virale Verbreitungseffekt hat nicht nur der ePetition zum "Zugangserschwerungsgesetz" sondern auch vielen politischen Kampagnen eine enorme Reichweite verliehen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Chance wahrgenommen zu werden, ist bei facebook durch Empfehlungen weitaus höher als bei konventioneller Werbepost.

Die Reichweite von Nachrichten in sozialen Netzwerken wird oft unterschätzt. So wurde die facebook-Seite für Joachim Gauck während seiner Bundespräsidenten-Kandidatur nicht nur von seinen facebook-Freunden wahrgenommen, sondern auch von deren "Freundeskreisen", die evtl. ein gänzlich unpolitisches Selbstverständnis haben und über die klassischen Adressverzeichnisse und E-Mail-Verteiler der Parteien und Wahlkämpfer niemals von dem Kandidaten erreicht worden wären.

Die Medienrezeption der Digital Natives lässt sich so zusammenfassen: Sie steuern nur selten direkt Presseangebote an, sondern informieren sich hauptsächlich über die Vorauswahl ihrer facebook-Community. Sie vertrauen also der Meinung von Freunden weitaus mehr, als den vermeintlichen Expertenmeinungen.

Die Kommunikationsstrukturen in sozialen Netzwerken werden auch als Peer to Peer networking bezeichnet. Interessengruppen verbreiten innerhalb ihres Umfelds eine Nachricht. Die technischen Möglichkeiten von facebook, twitter, youtube und anderen Netzwerken erlauben es neben Texten auch Bilder, Videos und Links zu verbreiten und damit große Reichweiten zu erlangen.


Politische Kultur in der digitalen Gesellschaft

Auch zur Unterstützung von Joachim Gauck wurden diese Tools in großer Zahl eingesetzt. In kürzester Zeit organisierten sich Unterstützer im Netz und verliehen ihrem Grassroots-Engagement auf verschiedenen Webseiten Ausdruck, wie in der Kampagne "Mein Präsident". Dort konnten sie twittern, warum Joachim Gauck ihr Kandidat sei.

Gegenwärtig erleben wir diese politische Strategie der Internet-Mobilisierung bei fast allen Initiativen, insbesondere den Volksbegehren, den Studierendenstreiks und im Konflikt um "Stuttgart 21". Das vieldiskutierte neue Bürgerengagement beginnt heutzutage immer im Netz. Mobilisierung und Organisation von Unterstützern im Internet können somit sehr gut funktionieren, wenn die Kampagne auch gut gemacht ist. Dazu gehört immer eine Verknüpfung von Online- und Offlineaktivität - von Mobilisierung auf der Straße über das Netz, wie es zum Beispiel bei flash mob-Aktionen geschieht.

Auch politische Beteiligung jenseits der Kampagnenkommunikation spielt eine große Rolle. Unter dem Stichwort ePartizipation lässt sich die politische Beteiligung im Internet zusammenfassen. Ein mittlerweile sehr prominentes Format der Beteiligung von Bürgern an Haushaltsentscheidungen ist der Bürgerhaushalt. Die Stadt Köln hat sehr früh ihre Bürger aktiv in die Entscheidung über die Vergabe kommunaler Mittel eingebunden. Der Bürgerhaushalt ermöglicht es online darüber abzustimmen, für welche Zwecke gewisse Haushaltsmittel eingesetzt werden sollen. Auf diese Weise erreichen die Bürger nicht größere unmittelbare Entscheidungskompetenz, aber sie geben eine öffentlich einsehbare Empfehlung an ihre Abgeordneten ab. Damit wird der politische Prozess bürgernäher und transparenter.

Neben der Mobilisierung im Internet kann auch die ePartizipation zu mehr Beteiligung und Transparenz sowie mehr Machtausübung von unten führen. Aber was bedeutet dies für die Politik der Zukunft? Wie können politische Organisationen und Interessenverbände auf die Veränderungen von Kommunikation und politischer Kultur reagieren?


Wem gehört die Zukunft?

Wie bedeutsam lebendige Mitgliederparteien für das politische Leben sind, hat Knut Bergemann, Fellow der Stiftung Neue Verantwortung, in "Zehn Thesen für eine politische Partei mit Zukunft" zusammengefasst. Ein zentraler Aspekt seiner Analyse gilt dem Katalysieren bürgerschaftlichen Engagements. Dieses kanalisiert sich zunehmend jenseits der klassischen Milieus von Gewerkschaften, Kirchen und Parteien. Deshalb vernetze sich, so Bergemann, die Partei mit Zukunft idealerweise verstärkt mit den Organisationen, die keine formale Mitgliedschaft erfordern.

Genau diese informelle, anlassbezogene Bereitschaft des politischen Gestaltens entspricht auch der von den Digital Natives gepflegten Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements: Ein ausgeprägtes Streben nach Selbstbestimmung und Selbstorganisation wird dabei respektiert, ihre Eigenständigkeit wird akzeptiert und Wirksamkeit erfahrbar gemacht.

Für traditionelle Parteien und Organisationen heißt das: eigene Steuerungs- und Kontrollreflexe im Zaum zu halten. Ihre Rolle fällt vielmehr in den Bereich der Förderung von bereits aufkeimenden Engagements. Dort agieren sie ermutigend, verstärkend und befähigend.

Auch die von Bergemann geforderte Nutzung unterschiedlicher Beteiligungsformen lässt sich in Bezug auf die Kommunikationsgewohnheiten von Digital Natives weiterentwickeln. Die von ihm erwähnten virtuellen Mitgliedschaften und Verbände bieten mobilen Menschen die Chance zu parteipolitischem Engagement. Daran anknüpfend können Möglichkeiten der Liquid Democracy (Mischform zwischen direkter und indirekter Demokratie) genutzt werden, um Abstimmungsprozesse zu vereinfachen und transparenter zu gestalten.

Digital Natives haben ihre eigene Art der Kommunikation. Sie nutzen das so genannte "Mitmach-Internet" und veröffentlichen Informationen und leiten sie in Peer to Peer weiter. Daraus leitet sich eine eigene politische Kultur ab, die geprägt ist von Transparenz, dem Vertrauen in Gruppen- oder "Schwarmintelligenz", Selbstorganisation und dem "Erfahrbar machen" von Wirksamkeiten.

Auch in den Augen von alten Parteisoldaten könnte dieses Szenario recht sympathisch anmuten, wäre da nicht dieser Kontrollverlust.


Ute Pannen (* 1976) berät Akteure in Politik und NGOs bei ihrer Social-Media-Kommunikation. Sie ist Fellow bei der Stiftung Neue Verantwortung und leitet das Projekt "Neue digitale Gesellschaft".
(up@stiftung.nv.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2011, S. 58-60
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2011