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GESELLSCHAFT/271: Immigration - Die Verteilung liberaler Werte (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 142/Dezember 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Verteilung liberaler Werte

Elite und Bevölkerung in Deutschland denken unterschiedlich über Immigration

von Céline Teney und Marc Helbling



Kurz gefasst: Die allgemeine Bevölkerung in Deutschland ist stark gespalten, wenn es um Immigrationsthemen geht, während die Elite fast einstimmig eine Grenzöffnung für Migranten unterstützt und diese als Bereicherung für die Gesellschaft und die Wirtschaft sieht. Diese Kluft zwischen Elite und allgemeiner Bevölkerung kann nicht vollständig durch Bildungsunterschiede erklärt werden. Eine wichtige Rolle spielen auch Sozialisierungseffekte innerhalb der Elite.


Die Kluft zwischen den Meinungen von Elite und Bürgern und ihre Auswirkungen auf die Demokratie sind seit Langem ein Kernthema in den Sozialwissenschaften. Aufgrund des wachsenden ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierungsdrucks scheint die Spaltung zwischen den politischen Eliten und der allgemeinen Bevölkerung sogar noch größer zu werden. Diese wachsende Kluft, die in mehreren Ländern nachweisbar ist, gilt als eine der Ursachen für die steigende Politikverdrossenheit und den zunehmenden Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa. Einstellungen der Elite zu Themen wie Umweltschutz, Geschlechtergleichheit oder Verbrechensbekämpfung scheinen wesentlich liberaler als die der allgemeinen Bevölkerung. Seit den gescheiterten EU-Referenden in Frankreich und den Niederlanden erhalten insbesondere die unterschiedlichen Einstellungen zur europäischen Integration die Aufmerksamkeit der scientific community in Europa. So wurde beispielsweise argumentiert, dass die politischen Eliten den europäischen Integrationsprozess ohne öffentliche Unterstützung vorantreiben. Das Projekt Europäische Union, so die Kritik, spiegle allein die Interessen der proeuropäischen politischen Eliten wider.

Was allerdings, wenn die Meinungskluft zwischen Eliten und Bürgern zur europäischen Integration nur Teil einer weitergehenden Spaltung ist, wenn die europäische Integration nur eines von vielen umstrittenen Themen im Kontext der Denationalisierung ist? Die Eliten wären dann nicht nur starke Befürworter des europäischen Integrationsprojekts, sondern befürworteten außerdem die Öffnung der nationalen Grenzen für den Austausch von Waren, Menschen und Normen, während die allgemeine Bevölkerung in solchen Denationalisierungsfragen viel stärker gespalten wäre. Um diese Hypothese zu prüfen, wollen wir mit unserer Studie die Einstellungen der Eliten und der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland zu einem anderen hochgradig politisierten Thema im Kontext der Denationalisierung vergleichen: die Einstellungen zur Immigration.

Die Kluft zwischen Elite und Bevölkerung ist bislang im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückgeführt worden. Erstens haben Eliten im Durchschnitt eine höhere Bildung als die allgemeine Bevölkerung. Da Bildung bei der Ausformung liberaler und progressiver politischer Meinungen eine entscheidende Rolle spielt, könnten solche Bildungsunterschiede die Kluft zwischen Elitenmeinung und Mehrheitsmeinung erklären. Allerdings gibt es Belege dafür, dass die Eliten sich hinsichtlich ihrer allgemeinen politischen Positionen auch deutlich von denen der höher gebildeten Bürger unterscheiden: Die Einstellungen der Elite sind sehr viel liberaler als die der höher gebildeten Bürger. Der Faktor Bildung allein kann also die Meinungsdifferenzen zwischen der politischen Führung und der allgemeinen Bevölkerung nicht vollständig erklären.

Eine Erklärung liefert eventuell der zweite Faktor: Sozialisierungseffekte innerhalb der Elite. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung müssen sich die Eliten einer political correctness anpassen. Sie sehen sich gezwungen, sich die in Westeuropa vorherrschende Ideologie, also liberale Werte und Normen, zu eigen zu machen (Schimmelfennig 2001). Im Zeitalter der Globalisierung gehören zu dieser vom westeuropäischen Führungspersonal getragenen Ideologie auch Fragen der Denationalisierung wie die europäische Erweiterung oder über den Nationalstaat hinausgehende moralische Verpflichtungen (zum Beispiel Kosmopolitismus). Dementsprechend gehen wir davon aus, dass die Eliten sich stärker dafür einsetzen, die nationalen Grenzen für Migranten zu öffnen, als der Durchschnitt aller höher gebildeten Bürger.

Dass sich Eliten in solch starkem Maße mit einer vorherrschenden Ideologie identifizieren, ist über ihre Sozialisation zu verstehen. Robert Putnam zufolge können die Interaktionen innerhalb der Elite die Einheitlichkeit ihrer Werte erklären. Persönliche Kommunikationsnetzwerke und Freundschaften tragen dazu bei, einen Konsens hinsichtlich der Werte und Meinungen zu erzeugen. Diese Interaktionen beschränken sich in der Regel nicht auf einflussreiche Personen innerhalb derselben Institutionen, sondern umfassen auch Eliten aus anderen Bereichen. Dieses auf gegenseitigem Vertrauen und Solidarität beruhende Netzwerk entsteht umso leichter, als die Eliten im Hinblick auf Bildungshintergrund, sozialen Status, Rekrutierungsmuster oder ideologische Affinitäten sehr homogen sind.

Unsere Studie basiert auf dem Vergleich von Fragen zu Einstellungen und Werten aus einer neueren Umfrage unter Eliten mit entsprechenden Daten aus Befragungen der allgemeinen Bevölkerung. Die Studie "Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen" wurde vom WZB 2011/2012 deutschlandweit unter Inhabern von Spitzenpositionen durchgeführt. Diese WZB-Elitestudie umfasst lediglich die Kerneliten: Die ursprüngliche Stichprobe bestand aus 956 obersten Führungskräften in elf Sektoren. Der Rücklauf war angesichts der Schwierigkeit, diese höchst privilegierte Zielgruppe zu befragen, mit 37 Prozent relativ hoch. Der Datensatz besteht aus Daten von 354 Inhabern von Spitzenpositionen in den folgenden Sektoren: Wirtschaft, organisierte Interessensvertretung, Politik, Verwaltung, Justiz, Militär, Wissenschaft, Medien, Gewerkschaft, Kirche und Zivilgesellschaft.

Ziel der Elitestudie war es, präzise Informationen über die soziodemografischen Eigenschaften der Befragten zu gewinnen und die Einstellungen der Führungskräfte zu wichtigen innen- und außenpolitischen Themen zu erfassen. Der Fragebogen enthielt drei geschlossene Fragen zum Thema Immigration, die in früheren Befragungen bereits der allgemeinen Bevölkerung gestellt worden waren. Bei den allgemeinen Studien, in denen die entsprechenden Fragen enthalten waren, handelt es sich um den World Values Survey von 2006 und den European Social Survey von 2010. Je nach Fragestellung beträgt der zeitliche Abstand zwischen der Elitestudie und den allgemeinen Studien also zwischen zwei und sechs Jahren.

Der besseren Vergleichbarkeit halber zeigt die Grafik (s.u.) alle Fragen auf einer Skala von 0 bis 1, wobei 1 für die stärkste Befürwortung der Öffnung nationaler Grenzen für Migranten steht. Die roten Balken im Schaubild repräsentieren die durchschnittliche Meinung zu den drei Immigrationsfragen unter der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland. Die schwarzen Balken zeigen die durchschnittliche Meinung der allgemeinen Bevölkerung mit einem tertiären Bildungsabschluss. Die weißen Balken schließlich zeigen die durchschnittliche Meinung der deutschen Eliten. Da 88,4 Prozent der deutschen Eliten über einen tertiären Bildungsabschluss verfügen, ähnelt die durchschnittliche Meinung der Eliten mit tertiärem Bildungsabschluss stark der Meinung der Elitestichprobe insgesamt, so dass diese Werte nicht separat ausgewiesen sind.

Graphik: © WZB

Einstellungen von Eliten und allgemeiner Bevölkerung gegenüber Migranten
Graphik: © WZB

Die drei ersten Balken am oberen Ende der Grafik zeigen die Ergebnisse für die Frage, ob Einwanderung gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft ist. Wie man sieht, herrscht unter den deutschen Eliten weitgehend Einigkeit darüber, dass Einwanderung gut für die deutsche Wirtschaft ist, während die allgemeine Bevölkerung in dieser Frage stärker gespalten ist. Selbst wenn wir nur die Eliten und die Bürger mit tertiärem Bildungsabschluss vergleichen, bleibt die Meinungskluft in dieser Frage groß. Für den zweiten Punkt wurde den Interviewpartnern die Frage gestellt, ob Einwanderung das Zusammenleben bereichert oder die Homogenität Deutschlands unterminiert. Wiederum treten große Disparitäten zwischen den Eliten und der allgemeinen Bevölkerung hervor: Die Eliten stimmen in deutlich höherem Ausmaß der Aussage zu, dass Einwanderung das Zusammenleben bereichert. Ein Großteil dieser Kluft lässt sich jedoch anhand von Bildungsunterschieden erklären: Vergleichen wir nämlich die Eliten und die allgemeine Bevölkerung mit tertiärem Bildungsabschluss (also die weißen und die schwarzen Balken), so verringert sich diese Kluft erheblich.

Schließlich sollten die Befragten zu der Frage Stellung beziehen, ob die Regierung die Zuwanderung strikt begrenzen sollte oder ob jedem, der nach Deutschland kommen möchte, um hier zu arbeiten, die Einreise ermöglicht werden sollte (solange Arbeitsplätze vorhanden sind). Auch zu dieser Frage zeigt sich unter den Eliten ein äußerst homogenes Meinungsbild: Nahezu alle teilen die Ansicht, dass jedem die Einreise ermöglicht werden sollte (solange Arbeitsplätze vorhanden sind). Die allgemeine Bevölkerung hingegen ist in dieser Frage gespalten: Rund die Hälfte der Befragten in der allgemeinen Studie denkt, dass die Regierung die Zahl der Zuwanderer strikt begrenzen sollte; die andere Hälfte teilt die Meinung der Eliten. Konzentrieren wir uns auf die Meinung der allgemeinen Bevölkerung mit tertiärem Bildungsabschluss, so verringert sich die Kluft zwischen Elite und Bürgern nur geringfügig.

Unsere Studie ist die erste, die die vermeintlich wachsende Kluft zwischen Eliten aus verschiedenen Sektoren und der allgemeinen Bevölkerung in der Frage der Einwanderung einer empirischen Prüfung unterzieht. Nach unseren Ergebnissen scheinen diese Meinungsunterschiede zur europäischen Integration Teil einer breiteren ideologischen Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Führungspersonal und der allgemeinen Bevölkerung hinsichtlich der zunehmenden Durchlässigkeit nationaler Grenzen zu sein. Wenn es darum geht, die nationalstaatlichen Grenzen für übergeordnete politische Instanzen (zum Beispiel die Europäische Union) oder Menschen (zum Beispiel Migranten) zu öffnen, zeigt sich nicht nur eine Polarisierung innerhalb der öffentlichen Meinung, sondern auch eine schwerwiegende Kluft zwischen der Bevölkerung und ihren Eliten. In Einklang mit den Forschungen von Frank Schimmelfennig und Craig Calhoun weisen unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Unterstützung für eine weitere Öffnung der nationalen Grenzen als Teil der vorherrschenden Ideologie zu sehen ist, die von den Eliten weitgehend geteilt wird. Die allgemeine Bevölkerung hingegen ist in Fragen der Denationalisierung hochgradig gespalten.

Die Meinungskluft zwischen Eliten und Bürgern hinsichtlich der Denationalisierung ist wahrscheinlich in Deutschland stärker ausgeprägt als in anderen westeuropäischen Ländern. Nach dem Trauma von Nationalsozialismus und Krieg war die Neuerfindung der deutschen Identität explizit auf europäische und internationale Elemente ausgerichtet. Die Verantwortung Deutschlands gegenüber Ländern, die unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben, ist ein Kernelement des Diskurses unter deutschen Eliten, wenn es um die Unterstützung des europäischen Integrationsprojekts geht. Der normative Druck auf die deutschen Eliten, einem kosmopolitischen Ideal zu entsprechen, ist in Deutschland wahrscheinlich weitaus stärker als in anderen europäischen Ländern. Um die Besonderheiten des deutschen Falls genauer zu beleuchten, müsste die Kluft zwischen Elite und Bevölkerung im Blick auf die Überwindung nationaler Grenzen in einem nächsten Schritt in anderen Ländern Westeuropas untersucht werden.


Céline Teney ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung und im Brückenprojekt Die politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Im März 2014 wird sie die Leitung einer kooperativen Nachwuchsgruppe Transnationalization of Society, Politics, and the Economy an der Universität Bremen übernehmen.
celine.teney@wzb.eu

Marc Helbling leitet seit 2011 die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe Einwanderungspolitik im Vergleich. Der Politikwissenschaftler forscht zu Immigrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, zu Islamophobie und Nationalismus
marc.helbling@wzb.eu

Literatur
Allmendinger, Jutta/Bunselmeyer, Elisabeth/Ecker-Ehrhardt, Matthias/Helbling, Marc/Holland-Cunz, Marc/Teney, Céline/Weßels, Bernhard: Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2013.

Bunselmeyer, Elisabeth/Holland Cunz, Marc/Dribbisch, Katrin: Projektbericht "Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen". WZB Discussion Paper P 2013-001. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2013.

Calhoun, Craig: "'Belonging' in the Cosmopolitan Imaginary". In: Ethnicities, 2003, Vol. 3, No. 4, pp. 531-553.

Putnam, Robert D.: The Comparative Study of Political Elites. Englewood: Prentice Hall 1976.

Schimmelfennig, Frank: "The Community Trap: Liberal Norms, Rhetorical Action, and the Eastern Enlargement of the European Union". In: International Organization, 2001, Vol. 55, No. 1, pp. 47-80.

Teney, Céline/Lacewell, Onawa P./de Wilde, Pieter: "Winners and Losers of Globalization in Europe: Attitudes and Ideologies". In: European Political Science Review (forthcoming).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 142, Dezember 2013, Seite 12 - 15
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2014