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GESELLSCHAFT/308: Vom Atem der Stadtgesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016

Zusammenleben in der Stadt
Vom Atem der Stadtgesellschaft

Von Wolfgang Kaschuba


Städte im Allgemeinen und urbane Räume im Besonderen sind heute hoch attraktiv. Das wissen nicht nur Planer und Spekulanten, sondern längst und vor allem auch Bewohnende sowie Besuchende, die sich in überfüllten Innenstädten begegnen und oft genug auch gegenseitig auf die Füße treten. Denn was die einen Urbanität nennen und als öffentliches Leben feiern, nämlich die vielfältigen sozialen und kulturellen, dabei auch manchmal lauten Nutzungsformen urbaner Räume, das beklagen die anderen als eine ärgerliche Ausweitung urbaner Partyzonen und neigen ihrerseits zu öffentlicher wie rechtlicher Gegenwehr. Manchmal ist schon die Rede von "zu viel Urbanität?" - immerhin meist noch mit einem Fragezeichen.

Wenn so kontrovers über aktuelle wie zukünftige Stadtperspektiven nachgedacht wird, lohnt zunächst ein kurzer Blick zurück in die Vergangenheit. Denn dass unsere Stadtwelten heute so vielfältig und lebendig daherkommen, ist selbst in einer kurzen zeithistorischen Perspektive keineswegs selbstverständlich. Noch in den 50er bis 70er Jahren war nämlich mit Blick auf viele deutsche wie europäische Innenstädte eher der Begriff "Friedhofsruhe" als "Party" angebracht. Die Folgen von Nationalsozialismus und Krieg hatten die materiellen wie die sozialen Stadtstrukturen weithin zerstört. Die Begleiterscheinungen von Betonmoderne und die Idee der autogerechten Stadt nach 1945 hatten dann zu jener "Unwirtlichkeit der Städte" geführt, von der Alexander Mitscherlich damals sprach. Innenstadt meinte eine rein funktionale Arbeits-, Verkehrs- und Schlafraumwelt, in der sich Familien mit Kindern oder junge Leute kaum wohl fühlen konnten. So entstand 1971 jenes berühmte "I love New York"-T-Shirt: Eine Marketingkampagne feierte damit (noch) nicht den Big Apple, sondern appellierte verzweifelt in einer seiner dunkelsten Stunden "Lasst uns hier nicht allein!". Wer konnte, zog weg in grüne Vorstädte oder aufs flache Land. Noch im selben Jahr forderte auch der Deutsche Städtetag: "Rettet unsere Städte - jetzt!"

Und sie wurden gerettet: durch eine neue und strategische städtische Kulturpolitik. Zunächst in Form einer systematischen "Kulturalisierung von oben", also einer kulturellen Aufforstung und Aufwertung urbaner Räume und Lebensstile. In den 70ern durch die Festivalisierung der Stadtkultur in Gestalt von Musik-, Theater- und Literaturfestivals; in den 80ern durch die Institutionalisierung dieser Kulturprogramme - etwa auch in Gestalt mehrerer Tausend städtischer Museumsbauten; in den 90ern durch die Eventisierung des Kulturbetriebs in Form von großen Festen, Ausstellungen oder Konzerten mit internationaler Ausstrahlung und Anziehungskraft; und in den Nullerjahren schließlich mit der Mediterranisierung der Innenstädte, also mit der systematischen Verstrandung und Verpalmung von Flussufern und Parkplätzen.

Stadt als Lebenswelt

Letzteres vollzog sich durchaus mit einem leicht selbstironischen Augenzwinkern, weil das mediterrane Maß der gewollten Kulturtemperatur und der gefühlten Außentemperatur vor allem abends nicht immer übereinstimmte. Doch wurde diese Differenz leicht ausgeglichen durch die wärmende Begeisterung einer gleichzeitigen "Kulturalisierung von unten", die diese Angebote aufnahm und zunehmend selbst weiterverarbeitete und veränderte: in Gestalt von sozialen Bewegungen und kulturellen Initiativen, von ökologischen und politischen Konzepten, von sozialen und künstlerischen Interventionen, natürlich auch von Konsum und Lebensstil. Es war und ist ein dramatischer Paradigmenwechsel, der sich damit vollzog, von der fordistischen zur postfordistischen Stadt, also von der "Stadt als Arbeitswelt" zur "Stadt als Lebenswelt".

Erst all diese Faktoren zusammen schufen - deshalb der kurze Ausflug in die Geschichte - jene "öffentlichen Räume" in den Städten, die uns eine neue Vielfalt und Lebendigkeit ermöglichen. Dass das heute schon wieder beklagt wird, zeigt vielleicht ein wenig Geschichtsvergessenheit, vielleicht aber auch ein wenig Egozentrik. Denn nun wird eben oft einfach vorausgesetzt, dass sich die Stadt gefälligst unseren Bedürfnissen anzupassen habe. Im jüngeren Alter soll sie für uns laut und umtriebig sein, danach im Job und mit Kindern eher ruhig und friedlich und noch einen biografischen Abschnitt später barrierefrei und rollatorfreundlich. Um einen solchen Bedürfniswandel mitten in der Stadt verwirklichen zu können, musste man noch bis vor wenigen Jahrzehnten mindestens dreimal umziehen, weil keine Stadt all dies zugleich und überall anbieten konnte - und auch heute nicht kann.

Dennoch sei dies den Friedhofsfreunden nochmals ins Stammbuch geschrieben: Stadt war schon immer vielfältig und laut - das eben unterscheidet sie vom Dorf. Wie auch dies: Stadt war auch schon immer ein migrantisches Produkt, also das Ergebnis der Zuwanderung von neuen Menschen, neuen Ideen und neuen Waren. Und diese beiden gleichsam genetischen Eigenschaften der Stadt werden sie mit großer Gewissheit in der nahen wie fernen Zukunft weiterhin charakterisieren.

Auch deshalb, weil Wechsel und Wandel wesentliches urbanes Prinzip ist und weil wir dieses Prinzip längst auch zum Leitmotiv unserer eigenen Bedürfnisse und Lebensentwürfe gemacht haben, sind unsere Städte heute vor allem eines: Lebensstil-Gesellschaften. Wir sind, wo und was und wie wir leben, wo wir uns dabei mit anderen treffen oder uns von ihnen unterscheiden. Und wir integrieren uns und andere auch in diese Lebensstile, weil sie heute und in Zukunft wichtiger werden als die klassischen Bezugsgruppen: Schulklassen, Arbeitsgruppen und Nachbarschaften.

Dieser Grundsatz wird auch und gerade im Blick auf Migration und Flucht immer mehr zum Tragen kommen: Denn auch die Neuankommenden werden künftig leichter in unsere Lebensstil-Gemeinschaften integriert werden als in die alten Gruppen und Milieus. Sport und Musik, Mode, Ess- und Freizeitkultur sind als soziale Formationen wie als alltägliche Praxen eben bereits in vieler Hinsicht buchstäblich "interkulturell" aufgestellt - durch ihre lange medial vermittelte Weltoffenheit wie durch ihre neue räumliche Öffnung. Deshalb werden sie künftig noch wichtiger werden als zentrale urbane Integrationsschleusen.

Öffentlicher Raum meint damit freilich weniger eine planbare bauliche oder räumliche Struktur als vielmehr eine bestimmte soziale und kulturelle Qualität, die aus unterschiedlichen Nutzungsformen des Raumes entstehen kann. Entscheidend dafür sind die Akteure und ihre Formationen, ihre Bedürfnisse und ihre Praktiken, die in ihrem Zusammenwirken erst das Gesamtkunstwerk "Öffentlichkeit" zustande bringen. Und dies ist dann kein fertiges und stabiles Bauwerk, sondern meint einen stets unabgeschlossenen und prekären Prozess der Suche nach den Chancen und den Problemen eines urbanen "Wir". Gleichgültig, ob es dabei um große Planungsfragen oder um kleine Nachbarschaftsthemen geht.

Das urbane "Wir"

Künftig meint diese Öffentlichkeit damit aber auch in sozialer und politischer Hinsicht etwas tatsächlich Neues. Nicht mehr jenes "Justemilieu" der alten wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Stadtelite, also jenen Filz aus lokaler Politik, Verwaltung, Unternehmerschaft und Vereinswesen, der sich im Honoratiorengestus die Stadt zur Beute nahm. Vielmehr wird es nun immer deutlicher um eine tatsächlich "urbane" Öffentlichkeit gehen, die durch neue Mobilitäten und neue Lebensstile geprägt ist. Offen für alle, die hier aufgewachsen sind, wie für jene, die durch Bildungs- und Jobmigration, durch Flucht und Asyl neu ankommen. Und offen vor allem für stadtbürgerliche Aktivitäten und zivilgesellschaftliche Initiativen. Denn Stadtgesellschaft und Stadtkultur bauen in Zukunft mehr denn je auf einer gemeinsamen "Benutzeroberfläche" des Alltags auf, die offen und leicht zugänglich ist, die sich international und interkulturell darstellt und die sich von der Mediennutzung bis zur Politik in immer neuen Formaten und Netzwerken organisiert. Das bedeutet dann aber auch weder Friedhof noch Ponyhof, sondern meint auch Dissens und Konflikt, permanente Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse zwischen neuen Akteuren und in neuen Formen.

Kommunale Aushandlungen dieser Art aber benötigen Räume und Orte, die niedrigschwellig zugänglich und für alle offen sein müssen. Deshalb ist die alte Vorstellung von der "sozialen Stadt" als einer vor allem auch "offenen" Stadt so zentral für alle künftigen Überlegungen. Denn es ist das Prinzip "Vielfalt durch Unterschied", das im Blick auf Gesellschaft und Kultur wie auf Verwaltung und Politik das zentrale Zukunftskapital der Städte ausmacht. Nur wer Eigenes und Fremdes kennt, wer nach drinnen und draußen blickt, wer Neues lernt und Altes weitergibt, der macht sich und seine Stadt zukunftsfähig.

Dies gilt gerade auch im Blick auf jenes neue bürgerschaftliche Wissen, das nun als "civic science" und in Gestalt zahlloser zivilgesellschaftlicher Initiativen bereits wesentlich an der sozialen und politischen, der ökonomischen und ökologischen Zukunftsperspektive der Städte mitwirkt. Wenn kommunale Politik und Administration intelligent sind, nutzen sie diese Ressourcen der lokalen Erfahrungs- und Wissenskultur in Zukunft noch wesentlich intensiver als bisher - nicht nur in der Flüchtlingsfrage. Denn Offenheit und Moderationsfähigkeit werden im Blick auf zivilgesellschaftliche Bewegungen und Projekte künftig zur zentralen Legitimationsfrage von städtischer Planung und Politik werden.

Deshalb also sind die öffentlichen Räume unserer Städte so wichtig: weil sie Kontaktzonen und Bühnen unterschiedlicher Alltage und Lebensstile bilden, aber eben auch Labore des Politischen und Aushandlungsräume von Gemeinsamkeiten wie Differenzen. Öffentliche Räume aber kosten Geld - und zwar nicht wenig. Dafür ist es dann auch eine strategische Investition in die Zukunft. Denn - das zeigt die Stadtentwicklung heute - der Markt allein "richtet" es eben nicht. Er verhindert vor allem nicht Spekulation und Gentrifizierung auf Kosten urbaner Raum- und Lebensqualität. Das erreichen im besten Falle gemeinsam kluge Politik und aktive Zivilgesellschaft. Sonst entstehen jene Reichen-, Touristen- und Seniorenfestungen, wie sie heute bereits viele Innenstädte von Paris bis Moskau prägen. Und wir tun gut daran, diesbezüglich auch uns selbst gegenüber kritisch zu sein. Denn auch unsere eigenen Anforderungen an die Stadt tragen oft kräftig zu ihrer Gentrifizierung bei: Kein Coffee to go und kein veganer Imbiss, keine studentische WG und keine Dachterrassenwohnung darf sich da unschuldig wähnen.

"Stadtluft macht frei", lautete der Wahlspruch in Zeiten der Feudalgesellschaft. Um diese Freiheit zu schützen und zu erhalten, bauten die Städte um sich herum feste Mauern. Zukünftig brauchen wir im Gegenteil möglichst wenige Mauern um und in der Stadt, um die Stadtluft frei und offen zu halten. Wir brauchen umgekehrt möglichst viel öffentlichen und freien Raum, der als die "soziale Lunge" der Stadt wirkt. Und wir müssen uns einig darüber sein, dass, wer ihn verengt oder beschädigt, unserer neu erwachten Zivilgesellschaft in den Städten den Atem nimmt.


Wolfgang Kaschuba ist Professor für Europäische Ethnologie und Geschäftsführender Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin; Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission.
kaschuba@kaschuba.com

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016, S. 32 - 35
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas
Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2016

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