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JUGEND/060: Saufen bis der Notarzt kommt (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2009

Saufen bis der Notarzt kommt

Von Rainer Greca und Sandra Siebenhüter


Nach fünf Jahren Forschung zu Alkoholkonsum bei Jugendlichen legten Eichstätter Soziologen eine bundesweit beachtete Veröffentlichung vor. Zum Projekt ende fand eine Tagung mit Experten zur Suchtprävention sowie Vertretern von Getränkeindustrie und Gastronomie statt.


Die Informationen zum Thema Alkoholkonsum bei Jugendlichen sind auf den ersten Blick widersprüchlich: Die Medien haben in ihrer Berichterstattung die Schlagzeile "Jungendliche mit Vollrausch ins Krankenhaus eingewiesen" für sich entdeckt, so dass sich der Eindruck verfestigt, dass der Alkholkonsum bei Kinder und Jugendlichen massiv angestiegen ist. Ein Blick in den Bericht "Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2008" der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung vom Juni 2009 verweist hingegen auf einen Rückgang des regelmäßigen Alkoholkonsums bei Kinder und Jugendliche von 12-25 Jahren von 44 Prozent im Jahr 1979 auf 28 Prozent im Jahr 2008. Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts, das von der Südtiroler Bezirksgemeinschaft Unterland-Überetsch in Auftrag gegeben wurde, haben sich die Eichstätter Soziologen Prof. Dr. Rainer Greca, Dr. Sandra Siebenhüter und Stefan Schäfferling mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Nach einer ausführlichen Datenerhebungsphase mit mehr als 180 Interviews und der Auswertung einer Vielzahl von nationalen und internationalen Studien haben sie alternative Wege einer Präventionsarbeit vorgeschlagen. Denn bloße Aufklärung, wie Informationsveranstaltungen und Broschüren über die Folgen des Alkholkonsums, zeigen kaum präventive Wirkung - zumal viele Kinder und Jugendliche sehr genau über die negativen Folgen von Alkohol- und Drogenkonsum Bescheid wissen. Ein bloßes theoretisches Wissen ist, so zeigte es sich auch bei der Südtiroler Studie, nur wenig handlungsrelevant und hat kaum Auswirkungen auf das Trinkverhalten. Daher wählte das Forscherteam einen stark auf die kommunalpolitische Ebene fokussierten Präventionsansatz, der, ausgehend von einem Governance-Konzept sowohl die politische Ebene als auch das Gemeinwesen in die Pflicht nahm.

Die im vergangenen Herbst erschienene Dokumentation des Projektes bietet sowohl einen guten Überblick über die im Rahmen dieses Projektes gewonnenen Erkenntnisse, als auch wissenschaftliche und praxisrelevante Ergebnisse, die über diesen konkreten Anwendungsfall hinaus reichen: So wurden etwa die Vermutungen, wonach schlechte Zukunftsaussichten den Drogengebrauch bei Jugendlichen begünstigen oder kulturspezifische Eigenheiten Art und Umfang des Konsums bestimmen, einer eingehenden Prüfung unterzogen. Südtirol bot in dieser Hinsicht aufgrund seiner prosperierenden Wirtschaft und günstigen Beschäftigungssituation und der unterschiedlichen Sprachgruppen eine gute empirische Basis für einen Test. Von Interesse war aber auch, wie sich die vorhandenen Konzepte zur Suchtprävention ausgewirkt hatten und ob die durch EU-, Landes- oder regionale Förderprogramme unterstützten Projekte nachweisbare positive Effekte hatten. Auch die Interventionen der regionalen und kommunalen politischen Entscheidungsträger konnten bezüglich ihrer Resultate überprüft werden.

Die Evaluation im Frühjahr 2005 und eine erneute Nachbefragung im Jahr 2008 zeigen, dass vor allem politisch induzierte Maßnahmen Veränderungen hervorgerufen hatten: der Ausschank von Alkoholika auf öffentlichen Festen und in Vereinen wurde stärker reglementiert und es wurde mehr als früher darauf geachtet, dass Kinder- und Jugendschutzverordnungen eingehalten wurden. Die Sensibilität gegenüber dem Thema "Gefährdung durch Alkohol" war - bei Erwachsenen - gestiegen. Auch der Stärkung der Erziehungsfähigkeit der Eltern wurde nun mehr Beachtung geschenkt. Elternschule und Medien unterstützten Erziehungsberechtigte dabei, den richtigen Weg zwischen Grenzen ziehen und Loslassen zu finden. Dagegen gab es keinen nachweisbaren Effekt der durch Aufklärungskampagnen, Wettbewerbe, vorschulische oder schulische Initiativen hervorgerufen worden wäre: Die Konsumgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen hatten sich insgesamt kaum verändert.

Zusammenfassende Ergebnisse des Forschungsprojektes in Kürze: Grundsätzlich zeigte sich, dass eine öffentliche Problematisierung eines riskanten Konsumverhaltens nicht im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung lag. Als Ursachen vermuteten die Experten - in dieser Reihenfolge - familiäre Probleme, Schulprobleme, den Einfluss von Peergruppen sowie Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels. Eine "unterschiedliche kulturelle Prägung" in den italienisch- und deutschsprachigen Gruppen weist auf unterschiedliche Drogen-Präferenzen: Neigt die erste Gruppe eher zum Konsum illegaler Drogen, so ist der Alkohol eher eine Problematik der deutschsprachigen Bewohner Südtirols. Sowohl in der Gastronomie wie auch bei Supermärkten kann von einer gewissen "Sensibilisierung" im Umgang mit Alkohol gesprochen werden, für die meisten der befragten Jugendlichen existiert das Problem des problematischen Konsums nicht, es ist vielmehr ein Interesse der Erwachsenen.

Ein spezifisches Problem der untersuchten Region ergibt sich aus dem starken Vereinsleben sowie auf der Tourismus- und Gastronomie-Ebene, da die Studie in einem Gebiet stattfand, das von Touristen auch wegen des Weinanbaus besucht wird und dessen Wohlstand unter anderem mit der Alkoholproduktion und dem Alkoholverkauf verbunden ist. Eine anstehende Kommunal-Wahl verstärkte die Debatte in der Untersuchungsregion zusätzlich. Ebenso zeigte sich, dass das Thema "Prävention", das mit einer hohen Fördermittelzuweisung verbunden ist, zu einer Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Anbietern führte. Anstatt nachhaltige Netzwerke für eine Präventionsarbeit zu bilden, wurde eher auf gegenseitige Abgrenzungsstrategien gesetzt.

Bei der Diskussion um Suchtprävention lassen sich zwei Problem-Bereiche unterscheiden: Einerseits eine "objektive Problem-Ebene" (etwa im Bereich körperlicher Schäden) und andererseits eine problematische "kommunikative Ebene", auf der bisher Jugendliche bezogen auf ihre Lebenswelt höchst unzureichend mit Präventionsexperten, die ihrerseits auf ihre Fachgemeinschaft bezogen sind, kommunizieren. Dabei ist der Lebensweltbezug keine Garantie für die Behebung von Problemen, aber auch der Bezug der Experten zur Fachgemeinschaft bedeutet ebenfalls nicht unbedingt eine Garantie für die richtige Beschreibung der Probleme und die Anwendung von erfolgreichen Techniken zu deren Beseitigung.

Gerade das Herausstellen der politische Dimension der Präventionsarbeit war schließlich Anlass, einen gemeinsamen Workshop mit dem Landkreis-Neuburg Schrobenhausen mit dem provokanten Titel "Saufen bis der Notarzt kommt - Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Alkohol und Jugend" abzuhalten. Der Landkreis und damit eingebunden alle Bürgermeister und Gemeinderäte, der Kreisjungendring, der Kreistag, die Jugendparlamente in Neuburg- und Schrobenhausen und der Hotel- und Gaststättenverband haben im Frühjahr 2009 einen "Rockparty-Leitfaden" verabschiedet. Der Workshop im Großen Sitzungssaal des Landratsamtes, bei dem neben Studierenden auch Bürgermeister, Vertreter von weiterführenden Schulen und Fachschulen, des Suchtarbeitskreis, Jugendsozialarbeiter, Vertreter der Jugendhilfe, Polizei, Jugendreferenten, Vertreter des Jugendhilfeausschuss und Vertreter von Selbsthilfegruppen und Vertreter von Vereinen anwesend waren, bot eine sehr vielfältige und äußerst differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Alkohol.
Dass die Tagung in der "Aktionswoche Alkohol" der Bundesbeauftragten für Suchtfragen zusammenfiel, bescherte ihr noch eine größere öffentliche Aufmerksamkeit. Die Referenten des Workshops unter Leitung von Dr. Sandra Siebenhüter, waren neben dem Eichstätter Professor Rainer Greca und dem bundesweit führenden Suchtexperten, Prof. Stephan Quensel von der Universität Bremen ("Das Elend der Suchtprävention"), auch Jakob Braun (Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München), Dr. Astrid Passavent und Harald Indrich (Neuburger Kinder- und Jugendpsychiatrie), Volker Wrede (Gastwirt und Vertreter des Hotel- und Gaststättenverbandes Bayern), Dr. Lothar Ebbertz (Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Brauerbundes), Alois Thumann (Kreisjugendpfleger des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen) und Frederik Kronthaler (Suchthilfeeinrichtung Condrobs in München).

Die Beiträge beleuchteten das Thema Alkohol aus vielfältigen Sichtweisen und sie machten einmal mehr deutlich, dass im Umgang mit Alkohol sehr unterschiedliche Rationalitäten vorherrschen: Verwies etwa die Ärztin des Kinderklinik kritisch auf eine seit 2007 rasante Zunahme der Einlieferungszahlen alkoholisierter Jugendlicher, so deutete der Bremer Soziologe Quensel dies positiv, denn seiner Meinung nach zeigen die steigenden Einlieferungszahlen eine deutliche Sensibilisierung für die Gefahr des Alkoholkonsums, die vor allem auf den Berliner Vorfall im Frühjahr 2007 zurückzuführen ist, bei dem ein Jugendlicher nach einem Wetttrinken gestorben war. Jugendliche würden heute viel eher den Notarzt verständigen als früher und dies sei im Interesse der Betroffenen sehr gut.


Prof. Dr. Rainer Greca ist Inhaber der Professur für Wirtschafts- und Organisationssoziologie an der KU.
Dr. Sandra Siebenhüter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wirtschafts- und Organisationssoziologie


LITERATUR
Greca, Rainer / Schäfferling, Stefan / Siebenhüter, Sandra:
Gefährdung Jugendlicher durch Alkohol und Drogen?
Wiesbaden 2009 (VS Verlag), 29,90 Euro.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2009, Seite 20-21
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2009