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JUGEND/073: No Politics - Jugend ohne Idole und Ideale? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012

No Politics - Jugend ohne Idole und Ideale?

Von Jürgen Stark



"It does warm my heart to see people prepared to get out there and protest, but it's so formalised, so ritualised. And worse, there's no political programme at all."
(Chromatius, blogspot.com)


Wo ist das Politische in den heutigen Jugendkulturen?", fragt sich unser Autor in seiner Polemik und probiert mit den Erinnerungen an Rock'n'Roll und "Mythos 68" einen "Blick zurück nach vorn". Wo liegen die Ursachen für die verbreitete Politikabstinenz? Geht es hinter dem Horizont weiter?


"The Times They Are A-Changin'" sang Bob Dylan schon Anfang der 60er Jahre. Die Zeiten ändern sich, sie sind in Bewegung. Was gestern galt, ist heute obsolet. Das ist wahrlich keine Neuigkeit, aber in einem Bereich dennoch erstaunlich. Jahrzehntelang war man es gewohnt, dass subkulturelle Schübe bei der "Szenejugend" auch immer eine gewisse Politisierung mit sich brachten, auf Rocker, Hippies bzw. "Gammler" im Umfeld des hauptsächlich linksradikalen "1968" folgten anarchistisch-chaotische Punks, auf die Neue Deutsche Welle nicht nur Nena, sondern plötzlich auch rechtsrockende Nazibands. Techno und der Hedonismus im Stile der "Love Parade" lenkten dann aber in den 9Oern in weiten Teilen der Jugendkulturen die Energien mehr auf Körperkult und Spaß als auf politisches Engagement. Höchstens gewaltbereite Hooligans suchten noch den Streit, der aber weitgehend apolitisch war - bis auf linke Fankulturen etwa beim FC St. Pauli oder im rechten Gegenüber bei Clubs wie Hansa Rostock.

Seit den 8Oern haben sich die Musikstile immer weiter ausdifferenziert. Aus dem Hard Rock beispielswiese entwickelte sich der Heavy Metal, dieser fächerte sich wiederum auf in Death, Black oder Power Metal. Die Vertreter dieser Richtungen geben sich zwar gerne schaurig-martialisch, sind aber eigentlich "eher konservativ, familienbewusst, treu, teilweise je nach Musikrichtung auch intolerant. Metal Fans sind ein bunter Haufen aus allen gesellschaftlichen Schichten mit einem ebenso vielfältigen Spektrum an Ansichten", wie Holger Hübner, der Veranstalter des mittlerweile weltweit bekannten "Wacken-Open-Air"-Festivals feststellt.

Schaut man also in die verschiedenen Ecken der musikalischen Subkulturen, entdeckt man dort nur unterhalb des Mainstreams, oder im schlimmsten Fall an den extremistischen Rändern, einen Hauch des Politischen, der obskur wirkt, aber keine Massenbasis besitzt. Denn der Trend vergangener Jahre verstärkt sich nur, no politics ist zur verbindenden Überschrift geworden, der Rock'n'Roll ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.


Popkulturelle Ich-AG

Die weitere Ausdifferenzierung der Musikstile (Alternative Rock, Grunge, Nu Metal u.a.) änderte daran wenig. Jeder zog in seine Nische, die popkulturelle Ich-AG war geboren. Wenige begleiteten diese Übergänge so hautnah und intensiv wie der Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen, Klaus Farin. Doch der stand zeitweilig allein in der Wüste, warnte schon früh vor den Kehrseiten einer auf extremen Individualismus abhebenden Entwicklung. Den "Weltverbesserern" wurde der gestreckte Mittelfinger entgegengehalten. Pop reflektierte zwar weiterhin gesellschaftliche Entwicklungen und Trends, das nachlassende Interesse an Politik in allen (!) Altersgruppen, wurde dabei in Texten, Haltungen und der Symbolik - eher ungewollt - auch reflektiert.

Mit der Implosion des realsozialistischen Geisterreiches setzte sich der Rückgang linker Deutungshoheit auf den Feldern des kulturellen Beetes fort, die Jugend war nun zwar eher alternativ und grün geworden, aber ein wachsender Teil eben auch unpolitisch und immer weniger direkt im Parteiensystem zu verorten, was die heute geringe Bedeutung der Jugendorganisationen der Parteien widerspiegelt - daran ändert sich auch nichts Gravierendes durch eine weitgehend abstrus und unausgegoren wirkende Piratenpartei. Die Sinnsuche vieler Jugendlicher - ohne bislang typische Festlegungen - ist angesichts eines europaweiten Transformationsprozesses in den politischen Strukturen, sowohl in den Parteien als auch in den vielen neuen Themen, allerdings mehr als verständlich. Das alte Links/Rechts-Muster wirkt teilweise überholt bei der Beantwortung gravierender Zukunftsfragen, die alten soziokulturellen Milieus lösen sich zunehmend auf, neue Medien führen zu mehr Kommunikation aber nirgends zu neuer Politik. Die "Kultur der Widersprüchlichkeit" (Christoph Schlingensief) fördert daher kaum den Raum für politische Partizipation. Die Popkultur sitzt in der Falle!

Die letzten Jahre brachten deshalb vielleicht wenig Innovation in der Popkultur-Remix und Recycling dominierten die Szene. Auf die Moden der Schicken und Schönen reagierten die Kids der Unterschicht noch wie gewohnt mit Gegenmoden. Rap und Hip Hop wurden geboren, die Basecaps verdreht nach hinten getragen, die Hosen so tief geschürzt wie sie jene Gangster in den US-Knästen trugen, denen man die Gürtel abgenommen hatte. Dominante Gegenmoden waren zwar scharf und schrill, doch Yuppies mit Hochschulabschluss und Rapper mit Goldketten um den Hals waren sich eigentlich gar nicht so uneins: Kohle und Kapitalismus waren doch ganz "geil", fuck you all, ich will alles jetzt. Heute wird der Rap noch immer als Jugendstil gehandelt, obwohl er nun auch schon seit 30 Jahren existiert und daher kaum noch für Überraschungen gut ist. Wir erinnern uns: "Asozial ist in!" hatte der Jugendforscher Klaus Farin bereits in den 80ern diagnostiziert, und er sollte Recht behalten. Die Hinwendung zum rein Materiellen, zur exzessiven Selbstverwirklichung, zum totalen Spaß ohne Rücksicht auf Verluste hinterließ über die Jahre einen extremen Flurschaden.

Doch es gibt sie noch, die rebellische Jugend - nur nicht bei uns. Sebastian Hammelehle stellt auf Spiegel Online beim Anblick des Pussy-Riot-Skandals fest: "Die Queen hört Sex Pistols, Guttenberg AC/DC - die Popkultur schien ihre rebellische Kraft verloren zu haben und damit tot zu sein. Im Prozess gegen Pussy Riot feiern Gegenkultur-Ideale eine unerwartete Auferstehung."

Steht also das Politische in der Jugendkultur nach langer Phase der Abstinenz vor einem Comeback? Ein frommer Wunsch. Natürlich gibt es attac, die Piraten, die Occupy-Wallstreet-Bewegung und Computerfreaks, die sich für digitale Robin Hoods halten. Aber bei genauerem Hinsehen sind in den jugendkulturellen Politrestszenarien die Inhalte und Ausdrucksformen so unklar, widersprüchlich und naiv, dass man hier kaum noch von politisch relevanter Jugendkultur sprechen kann. Nimmt man die einstigen Ideale des Rock'n'Roll wirklich ernst, dann müsste sich heutiger Protest auch gegen die Verkrampfungen der absolutistischen Political Correctness richten, gegen Islamismus und autoritäre Frömmelei, gegen die Bedrohung der Freizügigkeiten. Doch still ruht der See. Warum?

Aufschluss gibt eine aktuelle Studie der Freien Universität Berlin, in der 7.500 Jugendliche aus ost- und westdeutschen Bundesländern befragt wurden. Zentrales Ergebnis ist ein sich weiter verflachendes Interesse der Jungen an Politik. So glauben beispielsweise rund 40% der Schülerinnen und Schüler, dass es kaum Unterschiede gegeben habe zwischen NS-Staat, DDR und der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung. Die Deutsche Welle meldete am 2. September: "Im Osten Deutschlands spielt Religion bei der Jugend kaum noch eine Rolle. Im Westen begeben sich viele christliche Jugendliche auf Sinnsuche ... Für nur noch 27% der katholischen und 23% der evangelischen Jugendlichen in Deutschland spielt der Gottesglaube (noch) eine wichtige Rolle." Es mangelt also an Bildung, es fehlen aber auch Idole und Ideale, sogar bei den Christen.

Zudem belegen Untersuchungen über das Freizeitverhalten von Jugendlichen, dass diese im Schnitt bis zu sechs Stunden täglich vor dem Computer oder dem Fernseher verbringen, was mit negativen Rückwirkungen auf das Lernverhalten einhergeht.


Komfortable Art der Resignation

Es wäre nun aber unfair, hier vor allem auf die Jugend zu schimpfen. So resümiert z.B. die FU-Studie, dass die Defizite u.a. auch durch Mängel in der Wissensvermittlung des deutschen Bildungssystems verursacht werden. Zudem hat sich die politische Sphäre vom "Normalbürger" generell mehr und mehr entfernt. Die Jugend lebt ferner das nach, was ihr von der Elterngeneration vorgelebt wird. Denn auch dort dominiert mittlerweile der unterhaltsame Multimediamix den Alltag. Und: "Immer weniger Freizeit wird außer Haus verbracht - unter den Top 15 ist keine Tätigkeit, die explizit im Freien stattfindet - dabei wächst gleichzeitig der Wunsch nach mehr Zeit für Erholung und soziale Kontakte." Zu dieser Erkenntnis gelangt der aktuelle Freizeit-Monitor der British American Tobacco-Stiftung für Zukunftsfragen. So leben gerade diejenigen, die der Jugend ein Vorbild sein sollten, ihnen selbst Passivität, Konsumrausch und faule Gleichgültigkeit vor. Es wirkt wie eine komfortable Art der Resignation. Gewalt, Armut, Unterdrückung und Massenarbeitslosigkeit - wen interessiert das noch, wenn gleichzeitig der Pizza-Service an der Tür klingelt, oder man soeben bei Ebay im Internet Sieger bei einer Versteigerung wurde.

Aufklärung bedeutet immer auch Anstrengung. Politisches Engagement ist richtige Arbeit - die virtuelle Welt von heute erklärt den Bewohnern der Laptops aber gerade das Gegenteil. Im Internet gibt es (fast) alles umsonst, wenn ich etwas nicht kenne oder mich nicht erinnere, dann kann ich das ja "googlen". Eine Jugend, die in diesem Beliebigkeitswahn aufwächst, muss verdammt viel Energie aufwenden, um auf sich politisch aufmerksam zu machen - dennoch wäre genau das jetzt dringend nötig, angesichts abgehobener Rituale der Berufspolitik.

Wie schlimm es um das in einer Demokratie dringend benötigte gesellschaftliche Engagement im Sinne einer positiven Zukunftsorientierung inzwischen bestellt ist, verdeutlicht ein aktuelles Phänomen: Die Krise in Europa! Das seit Wochen alles beherrschende Thema durchblickt kein Mensch mehr. Das ist natürlich auch den Jugendlichen zu hoch, zu fern, zu abstrakt. Deshalb sind außer den (auch eher seltenen) Stimmen ausländischer arbeitsloser Jugendlicher im TV kaum jüngere Stimmen in dieser Debatte zu vernehmen. Leider wirkt allerdings die Jugend selbst auch seltsam passiv und wenig engagiert in dieser Frage, wie man entlang der deutsch-französischen Grenze gut beobachten kann.

Trotz allerlei Angeboten, wie binationalen HipHop-Wettbewerben oder grenzüberschreitenden Fußballspielen, findet die Jugend am Rhein über die Grenze hinweg nicht zueinander. In Grenznähe gibt es immer wieder sogar Bestrebungen, den Französischunterricht abzuschaffen, die Jugendlichen interessieren sich einfach nicht für die Sprache der anderen Seite. Im ehemals deutschen Elsaß ist es übrigens genauso. Kaum noch Jugendliche können dort "deutsch", obwohl die Grenzen offen sind und tagtäglich immer mehr Deutsche zum Shoppen, Essen und Trinken, oder zu Veranstaltungen kommen. Europa wirkt wie eine Vorschrift, nicht wie ein gemeinsames Projekt. Ist aber nicht gerade die Jugend prädestiniert für Grenzüberschreitungen jeglicher Art? Warum stürmt sie nicht die europäische Bastion, besetzt Brüssel und fordert ein Europa der Menschen, der Kulturen, der Begegnung, der gemeinsamen Initiativen, Projekte und Aktionen? Ein Europa der Banker und Sparhaushalte, die in etlichen Ländern die Jugendarbeitslosigkeit in unglaubliche Höhen treibt, ein Europa in dem es derzeit tagtäglich in den Medien nur um Kohle, Kohle, Kohle geht, könnte einen jugendlichen Proteststurm gut gebrauchen.

Doch der Homo Politicus, das einfache Volk, scheint in einen Dämmerschlaf abgetaucht zu sein. Nicht nur die Jugend. So muss man sich insgesamt fragen: Leben wir noch? Empören wir uns an der richtigen Stelle? Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Was ist aus der internationalen Solidarität geworden? Warum ist aber vor allem auch unserer Jugend das Schicksal der Altersgenossen im Religionsknast Iran egal? Was ist mit Afrika, Israel, dem Nahen Osten, Russland und China? Alles "böhmische Dörfer"? Soll es etwa das Comeback des Jugendprotestes sein, wenn sich junge Nerds bei den Piraten für die Legalisierung des Urheberrechtsdiebstahls, des Betruges an den Künstlern engagieren?! Ist das alles? Wie könnten Menschen wieder für eigenes Engagement begeistert und mitgerissen werden? Ist das alles möglicherweise die Konsequenz darauf, dass Politik sich hierzulande fast nur noch als fader Verwaltungsakt präsentiert und die politische Debatte inzwischen völlig verflacht und entleert ist?

Der mittlerweile 95-jährige Stephane Hessel erregte 2010 Aufsehen mit seiner Kampfschrift Indignez-vous! (Empört Euch!, 2011 auf Deutsch erschienen). Ein Jahr später ließ er das Büchlein Engagez-vous! folgen - die einzig logische Konsequenz. Doch noch warten wir auf den Funken, der alles wieder entzündet.


Jürgen Stark (*1957) ist Autor, Journalist und Musiker. U.a. erfand er als Chefredakteur die Zeitschrift Metal Hammer. Zahlreiche Buchveröffentlichungen zu kulturpolitischen, gesellschaftlichen und musikalischen Themen. Zuletzt erschienen: Wem gehört die Popgeschichte? (zus. mit Gerd Gebhardt).
(stark1000@aol.com)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012, S. 72-76
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2012