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JUGEND/075: Gleichaltrigengruppen als soziale Lebenswelten (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99

Anne Honer (1951-2012) zum Gedächtnis
Gleichaltrigengruppen als soziale Lebenswelten

Aufschlussreiche Binnenperspektive: Peer-Beziehungen aus der Sicht der Jugendlichen

von Christian Lüders



Von der Sozialwissenschaftlerin Anne Honer stammt der Begriff der "kleinen sozialen Lebenswelt". Bezeichnet wird damit ein "strukturiertes Fragment der Lebenswelt": "Eine kleine soziale Lebens-Welt ist das Korrelat des subjektiven Erlebens der Wirklichkeit einer Teil- bzw. Teilzeit-Kultur" (Honer 2011, S. 23). Lenkt man den Blick auf Jugendliche, lässt sich deren Alltag in unserer Gesellschaft zunächst problemlos als ein Nebeneinander verschiedener kleiner Lebenswelten beschreiben. So verbringen Jugendliche viel Zeit in der Schule, in der die eigene Klasse oder der Kurs kleine soziale Lebenswelten für sich darstellen, durchbrochen von Pausen und anderen Freiräumen, innerhalb derer man den Kontakt zu seinen Freundinnen und Freunden sucht, also kurzzeitig in andere kleine Lebenswelten eintaucht. Nicht minder bedeutsam ist die eigene Familie, gegebenenfalls die Mitgliedschaft in einem Verein, zusätzliche außerschulische oder im Kontext von Ganztagsangeboten eröffnete Bildungs- und Lerngelegenheiten, die Welt des Internets und der Computerspiele sowie - besonders im Jugendalter - die Gleichaltrigengruppe, welcher Art auch immer. Auch wenn es sich dabei nicht immer um eindeutig abtrennbare Sphären handelt, so verfügen die Jugendlichen doch üblicherweise über ein klares Bewusstsein, in welcher kleinen Lebenswelt sie sich bewegen und welche Regeln gerade gelten.


Vom Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Lebenswelten

Die Gleichzeitigkeit und Vielfalt der kleinen Lebenswelten im Jugendalter eröffnet auf der einen Seite Chancen. Dazu gehört vor allem neben den verpflichtenden und nicht oder nur schwer vermeidbaren Lebenswelten - wie der Klasse und der Familie - eine gewisse Wahlfreiheit in Bezug auf andere kleine Lebenswelten hinsichtlich der Zugehörigkeit und damit auch des jeweils aktuellen Lebensstils. Jugendliche können entscheiden, ob und wie lange sie sich eher von Erwachsenen organisierten oder eher selbstorganisierten Gleichaltrigengruppen, eher unauffälligen oder eher - positiv wie negativ - auffallenden Cliquen, prekären, fluiden, geborgenheitsorientierten oder interessenorientierten Szenen anschließen möchten (zum Beispiel Wetzstein u.a. 2005).

Auf der anderen Seite sind damit aber auch Herausforderungen verbunden: Die Unterschiedlichkeit der kleinen Lebenswelten führt dazu, dass Jugendliche "tagtäglich an höchst verschiedenen sozialen 'Veranstaltungen' teilnehmen (müssen), die zwar jeweils in sich sinnvoll erscheinen, aber kaum Rezepte für die Orientierung in anderen sozialen Zusammenhängen bereitstellen" (Honer 2011, S. 22). Es existiert also ein buntes Nebeneinander, mitunter auch Gegeneinander von Lebenswelten, sodass die Kunst darin besteht, nicht nur zwischen ihnen elegant hin und her wechseln zu können, sondern auch soweit möglich für die jeweilige Lebenswelt glaubwürdig zu bleiben. Das wird umso eher zum Problem, je mehr einzelne Lebenswelten beanspruchen, die Lebensführung auch außerhalb ihrer Grenzen zu prägen - wie dies zum Beispiel bei allen missionarisch orientierten Gruppen sowie auf die gesamte Lebensführung abzielenden Überzeugungen der Fall ist, seien sie politischer, religiöser oder anderer Natur.


Die Sicht der Jugendlichen wahrnehmen

Gleichaltrigengruppen Jugendlicher als kleine soziale Lebenswelten zu begreifen, bedeutet gegenüber dem üblichen Blick allerdings einen radikalen Perspektivenwechsel. Die Beobachterperspektive erfolgt meistens aus der Sicht der Erwachsenen und beschreibt Gleichaltrigengruppen hinsichtlich ihrer sozialisatorischen Bedeutung, ihrer Funktion für das Aufwachsen und als Lern- und Bildungsort - gegebenenfalls sogar als Gefährdung oder ähnliches. Demgegenüber rückt der an kleinen sozialen Lebenswelten interessierte Blick die subjektiven und intersubjektiven Wissensvorräte, Relevanzen und Erfahrungen der Akteure, also der jugendlichen Gruppenangehörigen, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wenn beispielsweise die Herausgeber eines im Übrigen sehr lesenswerten Sammelbandes zu Gleichaltrigengruppen zusammenfassend formulieren, dass "eine sehr hohe von Peers ausgehende Wirkungsweise beim Erwerb unterschiedlicher Sach- und Fachkompetenzen zu konstatieren sei" (Harring u.a. 2010, S. 14), dann wird darin der beobachtende Blick der Erwachsenen sichtbar, in diesem Fall der erwachsenen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler. Demgegenüber nimmt die Analyse kleiner Lebenswelten ihren Ausgangspunkt von dem "inside point of view", also der Perspektive der Jugendlichen, und den in der Lebenswelt praktizierten und erfahrenen Sinnbezügen. Der sortierende, typologisierende, nach Funktionen, Zwecken und Wirkungen fragende Blick der Erwachsenen wird dagegen gleichsam eingeklammert.

Gleichaltrigengruppen Jugendlicher im Sinne der kleinen sozialen Lebenswelten zu erschließen, bedeutet demgegenüber, deren "habituelle, intellektuelle, affektuelle und vor allem (...) ästhetische Gesinnungsgenossenschaft" (Hitzler/Niederbacher 2010, S. 92) zum Bezugspunkt der Beschreibung zu wählen. Es geht dabei nicht nur um das Zugehörigkeitsbewusstsein der Mitglieder einer Gleichaltrigengruppe, sondern auch um deren gemeinsame Praxis sowie die eingelagerten geteilten Weltbilder und Sinnbezüge. Vor allem Zugehörigkeit, Anerkennung, gemeinsames Erleben, geteilte Erfahrungen, ähnliche Weltbezüge und der Schutz- und Erprobungsraum der Clique stehen deshalb aus der Sicht der Jugendlichen im Vordergrund.


Fruchtbarer Perspektivenwechsel

Ein derartiger Blickwinkel ist im deutschsprachigen Raum in Bezug auf jugendliche Gleichaltrigengruppen bislang nur in Ansätzen vertreten. Zwar gibt es einerseits eine breite Diskussion um Ethnografie (die beschreibende Völkerkunde) und qualitativ angelegte lebensweltliche Methodologien (vergleiche schon früh Neumann-Braun/Deppermann 1998), und andererseits wieder zunehmend mehr Forschung zu Gleichaltrigengruppen (zuletzt zum Beispiel Krüger/Deinert/Zschach 2012); doch ethnografische Studien, die sich bemühen, die kleinen Lebenswelten der Szenen, Cliquen und Teams aus der Binnenperspektive ihrer Mitglieder zu beschreiben, sind vergleichsweise rar. Eine wichtige Ausnahme hierzu stellen das Internetportal zur Szeneforschung (www.jugendszenen.com) und die im Kontext des Dortmunder Forschungsansatzes hervorgegangenen Publikationen dar (als Überblick Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005; Hitzler/Niederbacher 2010). Zwar können nicht alle dort aufgeführten Szenen zugleich auch als jugendliche Gleichaltrigengruppe verstanden werden, weil ihnen erkennbar Altersgruppen jenseits des Jugendalters angehören. Dennoch lohnt auch schon ein kurzer Blick auf die Szene-Steckbriefe, macht er doch die Vielfalt der Formen, Inhalte und Weltbezüge deutlich.

Das Einlassen auf die kleinen Lebenswelten führt unweigerlich dazu, dass die Gewissheiten und Sortierungen der Erwachsenen schrittweise diffus werden, weil aus der Sicht der Jugendlichen andere Aspekte an Bedeutung gewinnen - was nicht immer ohne Irritationen geschieht. Aus gefährlichen extremistischen Gruppierungen junger Menschen, für die sich gegebenenfalls der Verfassungsschutz interessiert, werden für Jugendliche attraktive Zusammenschlüsse, weil dort unter anderem ausgelebt werden kann, was ihnen anderenorts unter dem Vorzeichen von Korrektheit, Funktionalität und Pragmatismus verweigert wird - wie zum Beispiel das Ausleben körperbetonter Männlichkeit, authentische Sinnsuche, Erweckungserfahrungen, kulturelle Homogenität, Abkehr von den als Terror erlebten Konsumzwängen dieser Gesellschaft, gelebte Radikalität.

Es ist klar, dass Politik und vor allem Öffentlichkeit wissen wollen, wie es der Jugend geht und ob und inwiefern sie bereit ist, sich zu integrieren. Die Beschreibung kleiner Lebenswelten macht demgegenüber nicht nur die Vielfalt der Sinnbezüge und die Heterogenität der Alltagspraxis sichtbar. Zugleich könnte man von den Klassikern dieses Forschungsgenres - etwa anhand der W. F. Whytes "street corner society" über die Sozialstruktur eines Viertels italienischer Einwanderer in den USA (Whyte 1996; Orig. 1943) -, aber auch von den jüngeren Studien (zum Beispiel Tertilt 1996) lernen, wie fruchtbar dieser Zugang sein kann. Derartige Studien kleiner Lebenswelten weisen nicht nur darauf hin, dass der Durchschnittswert unter Umständen ein methodisches Konstrukt darstellt, das mit der Lebenswelt Jugendlicher herzlich wenig zu hat. Wichtiger ist, dass derartige Studien einen verstehenden Zugang zu den vielfältigen Wegen und Formen der Vergemeinschaftung in modernen, pluralistischen und hochgradig individualisierten Gesellschaften im Jugendalter eröffnen.


DER AUTOR
Dr. Christian Lüders leitet die Abteilung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Adressaten, Institutionen und Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe, Evaluation, Theorien pädagogischen Wissens sowie Wissenschaftsforschung.
Kontakt: lueders@dji.de


LITERATUR

HARRING, MARIUS / BÖHM-KASPAR, OLIVER / ROHLFS, CARSTEN / PALENTIN, CHRISTIAN (2010): Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen - eine Einführung in die Thematik. In: dies. (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen. Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden, S. 9-19

HITZLER, RONALD / BUCHER, THOMAS / NIEDERBACHER, ARNE (2005): Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Wiesbaden

HITZLER, RONALD / NIEDERBACHER, ARNE (2010): Forschungsgegenstand "Szenen" - zum Gegenstand der DoSE. In: Harring, Marius / Böhm-Kaspar, Oliver / Rohlfs, Carsten / Palentin, Christian (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen. Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden, S. 91-103

HONER, ANNE (2011): Bausteine zu einer lebensweltorientierten Wissenssoziologie. In: dies.: Kleine Leiblichkeiten. Erkundungen in Lebenswelten. Wiesbaden, S. 11-26

KRÜGER, HEINZ-HERMANN / DEINERT, ALINE / ZSCHACH, MAREN (2012): Jugendliche und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und Bildungsbiografien in einer Längsschnittperspektive. Opladen/Berlin/Toronto

LÜDERS, CHRISTIAN (2012): Banden, Cliquen, Peers. Gleichaltrigengruppen im Windschatten der Individualisierung. In: DJI Impulse, Heft 1/2012, S. 16-18

NEUMANN-BRAUN, KLAUS / DEPPERMANN, ARNULF: Ethnographie der Kommunikationskulturen Jugendlicher. Zur Gegenstandskonzeption und Methodik der Untersuchung von Peer-Groups. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, 1998, S. 239-255

TERTILT, HERMANN (1996): Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt am Main

WETZSTEIN, THOMAS / ERBELDINGER, PATRICIA ISABELLA / HILGERS, JUDITH / ECKERT, ROLAND / MAYER, SUSANNE (2005): Jugendliche Cliquen: Zur Bedeutung der Cliquen und ihrer Herkunfts- und Freizeitwelten. Wiesbaden

WHYTE, WILLIAM FOOTE (1996): Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin/New York (Orig. 1943)

DJI Impulse 3/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99, S. 12-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2013