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JUGEND/083: Weltweite Proteste - in Deutschland bleibt es (noch) ruhig (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2013 - Nr. 103

Weltweite Proteste -
in Deutschland bleibt es (noch) ruhig

Von Roland Roth



Junge, gut ausgebildete Menschen demonstrieren in vielen Teilen der Welt. Von den etablierten Parteien enttäuscht erfinden sie neue Formen des Protests, auf die die Politik reagieren muss.


Wer heute weltweit nach neuen Formen der politischen Partizipation junger Menschen sucht, wird vermutlich nicht nach Deutschland blicken. Rebellionen, unerwartete Aufbrüche oder spektakuläre Proteste hat es in den letzten Jahren vor allem im arabischen Raum, in Spanien, Frankreich, Großbritannien und in jüngster Zeit in der Türkei und in Brasilien gegeben. An all diesen Mobilisierungen haben meist besser (aus-)gebildete, aber um ihre Zukunftschancen betrogene junge Menschen einen erheblichen Anteil. In der Regel sind nicht die Ärmsten der Armen auf der Straße, sondern gesellschaftliche Gruppen, die sich um ihre Aufstiegs- und Wohlstandswünsche und ihre Freiheitsrechte betrogen sehen.

In seinem fiktiven Reisebericht vom arabischen Frühling zur »Occupy«-Bewegung spricht der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar (2012) mit einigem Recht von einem »Aufruhr der Ausgebildeten«. Dennoch handelt es sich nicht um klassische Generationenkonflikte, die ihre Energie aus der Differenz von »alt« versus »jung« gewinnen. Gegner sind vielmehr das »große Geld« und eine damit eng verknüpfte politische Klasse, die versucht, die eigenen Machtansprüche und Bereicherungschancen zu Lasten der nachwachsenden Generation zu sichern.

Auch wenn die Ausstrahlung dieser Proteste auf Deutschland bislang unterblieb, lohnt es sich, auf einige Merkmale näher einzugehen, denn sie könnten zur Signatur des politischen Engagements einer Generation werden.


Die Massenproteste sind demonstrativ friedlich

Zunächst fällt auf, wie demonstrativ friedlich das Gros der Massenproteste geblieben ist: ziviler Ungehorsam in Form von Platzbesetzungen und Protestcamps, aber keine strategische Gewaltanwendung oder Verherrlichung der Militanz, wie sie in früheren Protestkonjunkturen häufiger anzutreffen waren. Die Nähe zum Volksfest, zur Party oder zum Familienausflug ist gewollt und wird durchgehalten, zumindest solange kein Krieg gegen die versammelten Bürgerinnen und Bürger geführt wird. Der Protest der stehenden, in ihrer Bewegung verharrenden Personen ist eine der imponierenden Ausdrucksformen demonstrativer Zivilität, den beispielsweise die Bewohnerinnen und Bewohner von Istanbul zum Protestrepertoire beigesteuert haben. In dieses Bild passen auch die vielfältigen individualisierten und selbstbestimmten Ausdrucksformen des Straßenprotests von heute.

Auffällig sind die Versuche, im Protest selbst Versammlungsdemokratie zu praktizieren. Das Streben nach »wirklicher Demokratie« zeichnet sich bei diesen Protestformen dadurch aus, dass die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Meinungen zu diesen vielfältigen Protestformen beitragen können. Damit werden zugleich die Individualität und die unterschiedlichen Meinungen von anderen Menschen respektiert. Ohne auf vorgängige organisatorische Vereinheitlichungen oder verbindende Klassenkulturen setzen zu können, muss die gemeinsame Agenda erst im Protest gefunden werden. Dabei kommt es darauf an, dem »Wissen der Vielen« möglichst große Entfaltungschancen einzuräumen. In der Folge bleiben solche Bewegungen eigentümlich führerlos, meist fehlen prominente Sprecherinnen und Sprecher. Die Schattenseiten dieser im Protest geborenen Versammlungsdemokratie dürfen aber keineswegs übersehen werden. Sie erfordert möglichst permanente Anwesenheit und schließt damit diejenigen aus, die nicht in gleicher Weise präsent sein können. Indem in einer solchen Versammlungsdemokratie organisatorische Entlastungen zurückgewiesen werden, bleibt sie notwendig temporär, fragil und ungewollt exklusiv.

In ihrem Buch »Alone together« hat die US-amerikanische Techniksoziologin Sherry Turkle die paradoxe Vergesellschaftungsweise beschrieben, die mit dem Einzug von Internet und sozialen Medien in den Alltag verbunden ist. Dass die neuen Medien für die Mobilisierung und Verbreitung des gegenwärtigen Aktivismus eine wichtige Rolle spielen, ist vielfach beschrieben worden. Auf den ersten Blick scheint die Lust an der direkten Kommunikation auf den großen Plätzen diesem Befund zu widersprechen. Aber in dieser Suche nach »realer«, unmittelbarer Demokratie, die bereits viele der globalisierungskritischen Bewegungen von den Weltsozialforen in Porto Alegre bis zu den Bankenprotesten von »Occupy« ausgezeichnet hat, kommt auch das Spannungsverhältnis der beschleunigten Vereinzelung und einer internetgestützten Gemeinschaftsbildung zum Ausdruck. Es stellt sich deshalb die Frage, welche neuen politischen Organisationsformen sich jenseits von zufälligen und situationsbedingten Vergemeinschaftungen im Protest herausbilden können.

Die Auseinandersetzung mit den jeweils Herrschenden hat die Agenda des Protests in Richtung Gerechtigkeit, Gemeingüter und moralische Kapitalismuskritik verschoben. Die Empörung über wachsende soziale Ungerechtigkeiten, die Verteidigung von Gemeingütern, etwa des Taksim-Platzes in Istanbul, oder die Empörung über die exzessive Bereicherung der Finanzeliten erinnert an eine Kapitalismuskritik, die bereits vor Karl Marx von populären Autoren wie Thomas Hodgskin in seiner 1825 veröffentlichten Schrift »Labour defended against the claims of capital« vorgebracht wurde. Freilich geht es heute nicht mehr vorrangig um die Wertschätzung handwerklich geprägter Arbeit, worauf Hodgskin vor allem sein Interesse gerichtet hat, sondern um das Versprechen auf Wohlstand, Wohlfahrt und gesellschaftliche Teilhabe, das mit der Expansion von Bildungsprozessen und Bildungsmöglichkeiten verbunden wird.

Hier liegt vermutlich eine der ausschlaggebenden Ursachen, weshalb sich jugendlich geprägte politische Aktivitäten gegenwärtig in Deutschland eher im Kleingruppenformat abspielen. Um die Zukunftsaussichten der gut gebildeten Jugendlichen steht es in Deutschland dank Konjunktur und Demografie zurzeit nicht schlecht. Dass mehr als 20 Prozent dieser Generation als »Risikojugendliche« ohne die nötigen Schulabschlüsse beziehungsweise »Beschäftigungsfähigkeit« in Übergangssystemen ohne garantierten Übergang »geparkt« werden, gehört zu den häufig unterschlagenen Wirklichkeiten dieser Republik, wie auch die skandalös wachsende Kinderarmut in einem reichen Land. Nach allen Erfahrungen fehlen diesen Ausgeschlossenen das Selbstvertrauen und die Energie, um selbst auf die Straße zu gehen. Ihr Protest formiert sich erst dann in gewaltförmigen Aufständen, wie beispielsweise in den französischen »banlieues« (Vororten) oder den britischen Großstadtquartieren, wenn ihre Abwertung und soziale Ausgrenzung die Schwelle des Erträglichen überschritten haben.

Dies scheint gegenwärtig in Deutschland nicht der Fall. Die Hoffnung, dass die demografische Entwicklung (Stichwort Fachkräftemangel) auch den Bildungsverlierern und sozial Benachteiligten der nachwachsenden Generation größere Lebenschancen eröffnen wird, vertröstet zusätzlich. Mit den offenen Grenzen innerhalb der EU-Länder könnten jedoch die sozialen Probleme wandern. Ob sie dabei abgemildert werden oder die aktuell geforderte Willkommenskultur die Lage der einheimischen »Risikojugendlichen« noch verschärfen wird, bleibt abzuwarten. Auch EU-weite solidarische Lösungen sind denkbar und zu wünschen.


Die Distanz vieler Jugendlicher zur etablierten Politik nimmt zu

Soziale Lagen sind nur einer von mehreren Faktoren, wenn es um die Bereitschaft zum Protest geht. Ohne die Unterschiede zu den politischen Regimen in den Protestländern zu vernachlässigen, auch in der Bundesrepublik nimmt die Distanz vieler Jugendlichen zur etablierten Politik und ihren Formen weiter zu. In ihrer Mehrheit sehen sie sich weder repräsentiert noch angemessen beteiligt. Schon vor Jahren wurde von den Großparteien vermeldet, dass sie weitgehend jugendfrei sind. Auch das Vertrauen in die Gemeinwohlorientierung und in die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie sinkt ständig. Die repräsentativen Grundstrukturen sind auf professionelle Eliten zugeschnitten und stammen aus einer Zeit, als fünf Prozent eines Jahrgangs den Weg an die Hochschule fanden. Heute sind es circa 50 Prozent. Damals dominierte das autoritäre »Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, hast du hier nichts zu sagen!« Heute wachsen zwei Drittel der jungen Menschen in »Verhandlungsfamilien« auf, in denen diskutiert und wechselseitige Ansprüche verhandelt werden.

Die politischen Mitsprache- und Gestaltungsansprüche sind deutlich gestiegen. Nicht zuletzt das Internet hat den Wissensvorsprung zwischen Expertinnen und Experten sowie Entscheidungsträgerinnen und -trägern einerseits und einer interessierten Bürgerschaft andererseits drastisch verringert. »Alternativlos« ist zum Unwort geworden. Mehr als 90 Prozent fordern heute in repräsentativen Befragungen mehr direkte Bürgerbeteiligung, und zwei Drittel der jungen Menschen halten es für legitim, dass parlamentarisch beschlossene Infrastrukturprojekte protestierend blockiert werden.

Da die Parteien kaum seriöse Beteiligungsangebote an eine zunehmend gebildete, kompetente und kritische Bürgerschaft jenseits der Parteikarriere machen, avancierte die »Piratenpartei Deutschland« kurzfristig zum Hoffnungsträger. Ihr Angebot einer »Mitmachpartei« hat den Nerv der jüngeren Gutgebildeten getroffen. Sie kann es aber bislang weder mit den Anforderungen einer Parlamentspartei in Einklang bringen, noch jenes Vertrauen durch direkte Kommunikation aufbauen, das politische Repräsentation erst möglich macht.

Die Bereitschaft zu Engagement und Beteiligung ist in der jungen Generation deutlich gestiegen, trotzdem gilt immer noch das vernichtende Urteil des Bundesjugendkuratoriums (2009, S. 13) über den Stand der politischen Beteiligung von jungen Menschen in Deutschland: »zu selten, zu wenig und ohne Wirkung«. So vergrößert sich die Kluft zwischen den wachsenden Beteiligungsansprüchen der nachwachsenden Generation und der elitären Abschottung des politischen Betriebs. Immerhin haben sich inzwischen ein paar Bundesländer und Kommunen daran gemacht, Politik beteiligungsorientiert neu zu buchstabieren. Wenn sie dabei auch noch die ausgegrenzten Milieus mitnehmen, liegt darin demokratisches Potenzial. Sollte dies nicht gelingen, genügt ein Blick auf die aktuellen Proteste in anderen Ländern, um zu wissen, auf welche Verhältnisse wir möglicherweise zusteuern.


DER AUTOR

Prof. Dr. Roland Roth ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem soziale Proteste und soziale Bewegungen, Kinder- und Jugendbeteiligung sowie Demokratieentwicklung und bürgerschaftliches Engagement.
Kontakt: roland.roth1@gmx.de


LITERATUR

BUNDESJUGENDKURATORIUM (2009): Partizipation von Kindern und Jugendlichen - Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. München

KRAUSHAAR, WOLFGANG (2012): Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung. Hamburg

TURKLE, SHERRY (2011): Alone together. Why we expect more from technology and less from each other. New York


DJI Impulse 3/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2013 - Nr. 103, S. 11-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2013