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JUGEND/089: Jugendliche auf dem Land - abgehängt und ausgegrenzt? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104

Jugendliche auf dem Land: abgehängt und ausgegrenzt?

Von Sarah Beierle



Seit der Wiedervereinigung ist die Abwanderung von jungen Menschen vor allem in den ostdeutschen Ländern ein Problem. Aber auch in vielen ländlichen Regionen Westdeutschlands werden Jugendliche immer mehr zu einer Minderheit und aufgrund ihres Wohnorts beim Zugang zu Bildung, Freizeit und Mobilität oft benachteiligt. Politische Konzepte müssen darauf abzielen, Jugendlichen auch in entlegenen ländlichen Regionen Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen.


Strukturschwäche, Abwanderung, Alterung: Seit den 1990er-Jahren wurden diese Begriffe vor allem mit Ostdeutschland in Verbindung gebracht. In der Tat hat es sich bei der Konzentration von demografischen und den damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen lange um ein "Phänomen Ost" gehandelt. Ein genauerer Blick auf die regionalen Entwicklungen zeigt jedoch, dass inzwischen auch viele westdeutsche ländliche Regionen vor ähnlichen demografischen Herausforderungen stehen (Maretzke/ Weiss 2009). Die Geburtenraten sind niedrig und insbesondere junge Menschen verlassen Dörfer und Kleinstädte, um in wirtschaftlich prosperierende Metropolen zu ziehen. Dies hat zur Folge, dass sich die Altersstruktur in ländlichen Räumen deutlich verschiebt - Jugendliche und junge Erwachsene werden zunehmend zu einer Minderheit. Aus diesen Gründen gewinnt die Fragestellung, wie die im Grundgesetz festgelegte "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Artikel 72, Absatz 2) für junge Menschen dauerhaft gewährleistet und ausgestaltet werden kann, an gesamtdeutscher Bedeutung.

Das Jugendalter gilt als eine Lebensphase, in der die Entwicklung und der Erwerb von Kompetenzen, die Herausbildung von Identität und die Befähigung zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben im Mittelpunkt stehen (Hurrelmann/Quenzel 2012). Damit verbunden ist die Tatsache, dass Erfahrungen zunehmend außerhalb des Elternhauses und zusammen mit Gleichaltrigen erworben werden. In einer ländlichen Region aufzuwachsen, bedeutet für viele junge Menschen beim Zugang zu den verschiedensten Beteiligungskontexten (zum Beispiel Ausbildung, Arbeit oder Freizeit) gegenüber großstädtischen Räumen benachteiligt zu sein.

Schülerinnen und Schüler aus ländlichen Regionen verbringen bis zu zwei Stunden täglich im Schulbus. Das wirkt sich natürlich auch auf ihre Freizeitgestaltung aus. Die Beteiligungsmöglichkeiten in Vereinen oder in der Jugendarbeit sind deutlich eingeschränkt und häufig mit weiteren Fahrzeiten verbunden. Ebenso sind Kinos oder Geschäfte - also Orte, an denen sich Jugendliche fernab von pädagogisierten Kontexten treffen können - schlecht oder nicht erreichbar (siehe hierzu auch Schubarth 2007). Ein vermehrter Austausch mit Freundinnen und Freunden im Internet als Konsequenz der "weiten Wege" ist noch nicht ausreichend erforscht. Abgesehen davon, dass es in ländlichen Räumen oftmals noch immer an einer Internet-Breitbandversorgung mangelt, zeigen empirische Jugendstudien, dass Online-Communities - wie zum Beispiel Facebook - reale Freundschaftsnetzwerke nur ergänzen, das Interesse an persönlichen Treffen aber weiterhin unvermindert vorhanden ist (Bitcom 2011).

Spätestens mit Beendigung der Schule müssen Jugendliche über ihren zukünftigen Wohnort nachdenken. Die Entscheidung für einen Umzug ist dabei mit den beruflichen Zukunftsperspektiven verknüpft, die sie in ihrer Heimatregion nur schwer realisieren können. Für die Dagebliebenen kommt zu den erwähnten eingeschränkten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe hinzu, dass diese insbesondere im Osten durch die Abwanderung von gutgebildeten jungen Frauen als "ungebildeter Rest" stigmatisiert werden. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass es sich hierbei - bezogen auf Bildungsaspirationen und Lebensorientierungen - durchaus um eine heterogene Gruppe handelt, deren (vorläufige) Entscheidungen für das Dableiben in der Region von den unterschiedlichsten Motiven geprägt ist (Beetz 2009; Speck/Schubarth/ Pilarczyk 2009).

Mittlerweile ist in Ostdeutschland auch die Bereitschaft zur Rückwanderung festzustellen, wenngleich auf niedrigem Niveau. Allerdings bezieht sich diese mehr auf den städtischen als auf den ländlichen Raum. Für die Entscheidung, in ländliche Regionen zurückzukehren spielen nicht nur berufliche Perspektiven, sondern auch eine gute Infrastruktur sowie Bildungs- und Freizeitangebote im Kinder- und Jugendbereich eine wichtige Rolle. Erst vor diesem Hintergrund können sich viele Rückwanderungswillige die Gründung einer Familie auf dem Land vorstellen (Neu 2009).


Zur territorialen Ungleichheit kommt oft noch eine soziale hinzu

Die territoriale Ungleichheit - also die Benachteiligung aufgrund des Wohnortes - verschärft sich sogar, wenn andere soziale Ungleichheiten hinzukommen (Neu 2006). So ist die Freizeitgestaltung oder die Erreichbarkeit von (Bildungs-) Institutionen teuer und die Jugendlichen müssen dafür mobil sein. Werden die jungen Menschen durch Erwachsene unterstützt - etwa dadurch, dass Eltern ihre Kinder zur Schule oder zu Freizeitaktivitäten fahren, ihnen ein Auto zur Verfügung stellen oder ein Mofa kaufen -, sind diese in ihren Freizeitmöglichkeiten deutlich besser gestellt als Jugendliche, die diese Unterstützung nicht erhalten (Neu 2006).

In der aktuellen Demografie-Debatte in Wissenschaft, Politik und Medien ist eine starke Fokussierung auf ältere Menschen und deren Wünsche festzustellen. Jedoch werden in einigen peripheren Landkreisen, die bereits seit Längerem mit demografischen Herausforderungen konfrontiert sind, teils in Eigeninitiative, teils mit Unterstützung von Bundesprogrammen, Projekte durchgeführt, die Jugendliche vor Ort unterstützen und einbinden.

Beispiele dafür sind vergünstigte Bus- oder Taxifahrten und Mitfahr-Konzepte, wodurch jungen Menschen das sichere Erreichen von Vereinen, Diskotheken oder des Freundeskreises ermöglicht wird. Um Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendarbeit die Kontaktaufnahme zu jungen Menschen zu erleichtern, werden zunehmend mobile Konzepte erarbeitet, wodurch die Jugendlichen vor Ort aufgesucht werden können. Auch sind vielerorts Kooperationen zwischen Schulen und der Jugend(verbands)arbeit entstanden. Damit sollen möglichst viele Jugendliche den Zugang zu kreativen oder sportlichen Angeboten an ihrer Schule erhalten - dem Ort, an dem sie sich ohnehin täglich aufhalten. Darüber hinaus gibt es Initiativen, die Heranwachsende als eigenständige Akteure ihres Lebensraumes annehmen und ihnen die Möglichkeit zum Mitentscheiden geben - etwa in Fragen der Dorfgestaltung. So können sie über authentische und eigenverantwortliche Partizipationsstrukturen ihr Lebensumfeld mitbestimmen und sich sehr viel stärker mit der Region identifizieren.

Eine wichtige Rolle spielen darüber hinaus auch Bestrebungen, Schülerinnen und Schüler trotz der eingeschränkten Schullandschaft bestmöglich zu qualifizieren. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Vernetzung von Schulen, Betrieben und lokaler Verwaltung, um gemeinsam alle Absolventinnen und Absolventen stärker mit den Bildungs- und Ausbildungsangeboten der Region vertraut zu machen. Ein Verbleib oder eine Rückkehr in die Region wird durch Konzepte der Familienfreundlichkeit angestrebt. Hier werden unter anderem Aspekte des Ganztagsbetreuungangebots von Kindern oder die Vermittlung von günstigem Bauland thematisiert. Bei allen diesen Maßnahmen werden die Vorzüge des Aufwachsens im ländlichen Raum betont, beispielsweise die Einbindung in kleine Nachbarschaften oder die Nähe zur Natur.

Um der territorialen Ungleichheit politisch entgegenzuwirken, bedarf es einer sensiblen und jugendgerechten Demografiepolitik. Eine solche Demografiestrategie sollte vor allem das Ziel haben, die Lebensqualität von Heranwachsenden in ländlichen Regionen zu steigern und Wege zu finden, dass der Zugang zu Bildung und Freizeit nicht vorwiegend von der Unterstützung der Familie abhängig ist. Hierzu müssen erfolgreiche Konzepte im Jugendbereich aufgegriffen und auf ihre Übertragbarkeit auf andere Regionen überprüft werden. Grundlegend dabei ist, dass die Jugendlichen selbst in diese strategischen Überlegungen eingebunden werden. Nur bei der Berücksichtigung der besonderen regionalen Interessen und Bedürfnisse können lebensnahe Konzepte entwickelt werden, die wirklich angenommen werden und Wirkung zeigen. Die Steigerung der Lebensqualität sollte dann dazu führen, dass sich junge Menschen zu gegebener Zeit individuell und frei von Exklusionsbefürchtungen dafür entscheiden können, zu gehen, zu bleiben, zurückzukehren oder eine Region neu zu entdecken.


DIE AUTORIN

Sarah Beierle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Jugend im Blick - Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen" in der DJI-Außenstelle Halle.
Kontakt: beierle@dji.de


LITERATUR

BEETZ, STEPHAN (2009): Analyse zum Entscheidungsprozess Jugendlicher zwischen "Bleiben und Gehen". In: Schubarth, Wilfried/Speck, Karsten (Hrsg.): Regionale Abwanderung Jugendlicher. Weinheim, S. 135-151

BITCOM (2011): Jugend 2.0. Eine repräsentative Untersuchung zum Internetverhalten von 10- bis 18-Jährigen. Berlin

HURRELMANN, KLAUS/QUENZEL, GUDRUN (2012): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim

MARETZKE, STEFFEN/WEISS, WOLFGANG (2009): Demografische Herausforderungen ländlichster Räume. In: Maretzke, Steffen: Ländliche Räume im demografischen Wandel. BBSR-Online-Publikation, Nr. 34, S. 33-45

NEU, CLAUDIA (2009): Der Abbau von sozialer und kultureller Infrastruktur und die Folgen für Kinder und Jugendliche. In: Schubarth, Wilfried/Speck, Karsten (Hrsg.): Regionale Abwanderung Jugendlicher. Weinheim. S. 193-205

NEU, CLAUDIA (2006): Territoriale Ungleichheit - eine Erkundung. In: Ländlicher Raum. Aus Politik und Zeitgeschichte 37, S. 8-15

SCHUBARTH, WILFRIED (2007): Bildung im ländlichen Raum: Probleme und Perspektiven des demografischen Wandels. In: Beetz, Stefan (Hrsg.): Die Zukunft der Infrastrukturen in ländlichen Räumen. Materialiennummer 14. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, S. 61-67

SPECK, KARSTEN/SCHUBARTH, WILFRIED/PILARCZYK, ULRIKE (2009): Biografische Analysen zu "Gehen oder Bleiben" bei Jugendlichen. In: Schubarth, Wilfried/Speck, Karsten (Hrsg.): Regionale Abwanderung Jugendlicher. Weinheim, S. 153-171


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DJI-PROJEKT "JUGEND IM BLICK"

Im Projekt "Jugend im Blick - Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen" der DJI-Außenstelle in Halle werden in drei west deutschen und fünf ostdeutschen peripheren ländlichen Landkreisen Experteninterviews mit lokalen Entscheidungsträgern aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft geführt. Die Perspektive der Jugendlichen wird über die qualitative Methode der Gruppendiskussionen erhoben. Projektbegleitend finden Workshops mit jugendpolitischen Akteuren der Kommunal-, Landes- und Bundesebene statt, um auf Basis der empirischen Erkenntnisse in einem diskursiven Prozess strategische Handlungsoptionen zu erarbeiten. Das Projekt wird durch das Bundesministerium des Inneren gefördert.


DJI Impulse 4/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104, S. 17-19
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2014