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JUGEND/098: Pragmatismus und Aufbruch? - Ein Blick auf die Shell Jugendstudie 2015 (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016

Pragmatismus und Aufbruch?
Ein Blick auf die Shell Jugendstudie 2015

Von Klaus-Jürgen Scherer


Vor Kurzem ist die nunmehr 17. Shell Jugendstudie erschienen: eine von dem namensgebenden Mineralölkonzern finanzierte, wichtige Institution westdeutscher Demokratiegeschichte, seit 1953 traditionell eine Grundlage für politisch-pädagogische Arbeit. Mit den Methoden der empirischen Sozialforschung werden Vorurteile und Bilder über die Jugend hinterfragt. Etwa alle vier Jahre richtet die Untersuchung ihren Fokus auf die Werte, Einstellungen und Lebensgewohnheiten sowie das Sozialverhalten von Jugendlichen zwischen 12 und 25, früher zwischen 15 und 24 Jahren.

Natürlich hat jede auch noch so repräsentative Studie ihre Grenzen. Wie eindeutig sich Jugendtrends mit 1.500 bis 2.500 standardisierten Fragenbögen, ergänzt durch qualitative Interviews, tatsächlich voraussagen lassen, sei dahingestellt. Und natürlich verkannte das Shell-Generationenporträt auch mal wirklich eine Entwicklung: Kurz vor der Jugendrevolte von 1968 hieß es, dass die "Generation der Unbefangenen" 1966 die Füße zufrieden unter Mutters Tisch stecke, sich zu zwei Drittel überhaupt nicht für Politik interessiere und gar "eine Mitarbeit in den Strukturelementen der demokratischen Herrschaftsform" verweigere, "obwohl sie Letztere im Prinzip bejaht", so damals Viggo Graf Blücher vom beauftragten Emnid-Institut. Welch kulturrevolutionärer Aufbruch sich kurz darauf anbahnte und was für eine Demokratisierungs-Zeitbombe da unter der Oberfläche tickte, blieb verborgen.

Erhellende Momentaufnahmen

Doch längere Zeitreihen mit denselben Fragen sind selbstverständlich aussagekräftig. Zudem formulierten die Shell Jugendstudien oft erhellende Momentaufnahmen, die den Zeitgeist einfingen und den politischen Wandel auf den Punkt brachten. So etwa zeigt die 1955 veröffentlichte Studie, wie unendlich langsam die jungen Deutschen, die z.T. noch von der Hitlerjugend geprägt waren, in der geschenkten Demokratie ankamen. "Der Vergleich der Antwortgruppen der 1. Erhebung mit denen der 2. Untersuchung läßt erkennen, daß sich der Kreis derer, die sich negativ zum Nationalsozialismus stellen, etwas vergrößert hat. 1954 tut die Hälfte der Jugend ihre ablehnende Einstellung kund" - ein aus heutiger Sicht eigentlich alarmierender Befund, dass jeder Zweite damals noch kein geklärtes Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit hatte: 2015 sind (immerhin) mehr als 80 % mit der Demokratie zufrieden.

Oder die einst viel beachtete Shell-Studie "Jugend '81", die den postmaterialistisch-"grünen" Generationenbruch belegte. Nun sahen fast zwei Drittel der Jugendlichen die Zukunft der Gesellschaft pessimistisch, übten hoch politisiert und aktiviert Fortschrittskritik, wendeten sich von den konventionellen Lebensentwürfen der Eltern ab und bezogen sich zu einem großen Teil positiv auf die "neuen sozialen Bewegungen", auf die Anti-AKW-, Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung sowie auf alternative Gruppen.

Oder "Jugend '92", die erste gesamtdeutsche Repräsentativstudie, die bereits zu Beginn der Übergangsgesellschaft diejenigen Ost-West-Unterschiede thematisierte, die den deutschen Einigungsprozess bis heute begleiten: die jeweils ganz andere Sozialisation in den Jugendlaufbahnen, die völlig unterschiedlichen Erfahrungen mit Transformation und Integration, die sozialstrukturelle Ausdifferenzierung von Jugend. Gegenüber den besonderen Lebenslagen junger Ostdeutscher ging das neue Generationenporträt der Studie damals etwas unter: Im Vergleich zum Ende der 70er Jahre gab es einen deutlichen Stimmungsumschwung, es dominierten jetzt die "desengagierten Optimisten" (Jürgen Zinnecker). Die Zukunftsangst war verflogen, die Jugend war zwar noch grundsätzlich politisch interessiert, ihre Skepsis gegenüber dem Prozess des Politischen jedoch war gewachsen und äußerte sich nicht mehr in Partizipation, sondern vor allem in Verdrossenheit.

Und heute? Die neue, Anfang 2015 mit TNS Infratest Sozialforschung erhobene Shell Jugendstudie ist überschrieben mit "Eine pragmatische Generation im Aufbruch". Bei ihrer Vorstellung formulierte der Politikwissenschaftler Mathias Albert von der Universität Bielefeld, der seit 2002 mit Klaus Hurrelmann (2010 kam noch Gudrun Quenzel hinzu), die Studien leitet: "Die junge Generation (...) ist anspruchsvoll, will mitgestalten und neue Horizonte erschließen. Immer mehr junge Leute entdecken dabei auch ihr Interesse an Politik. Der großen Mehrheit der Jugendlichen ist es wichtig, die Vielfalt der Menschen anzuerkennen und zu respektieren".

Was heißt dies im Einzelnen? Nun, zunächst gibt es die (leicht geschäftsschädigende) Erkenntnis, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr zu einem grundsätzlichen Generationenbruch kam. Die Jugend ist nicht mehr auf einmal ganz anders. Die Aufgabe lautet, schrittweise Verschiebungen und Entwicklungen aufzuspüren.

So hieß die Studie 2002: "Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus". Diese, für Lehrer und Pädagogen ja eigentlich traumhafte Grundhaltung, sich unideologisch und verantwortungsvoll der eigenen Zukunft zuzuwenden, fand in allen weiteren Studien ihre Bestätigung. 2006 allerdings bei hoher Arbeitslosigkeit und dem Eindruck der Agenda-Debatte unter gestiegenem Druck und neuen Zweifeln, ob die Gestaltung des Lebens tatsächlich wie gewünscht gelingt. Und in der Studie 2010 ("Eine pragmatische Generation behauptet sich") begannen die Druck- und Angstgefühle zu weichen und der Optimismus für die persönliche Zukunft wuchs. Damit einher ging bereits vor fünf Jahren, dass man sich weniger als zuvor ausschließlich auf das eigene Leben und das private Umfeld konzentrierte, sondern durchaus wieder ein langsam wachsendes politisches Interesse und die Bereitschaft zum politischen Engagement zeigte.

In der aktuellen Studie verstärkt sich gerade der letzte Trend. Natürlich ist es albern oder zumindest übertrieben, auf die "Generation Y" (pragmatisch, sondierend, Umgang mit Ungewissheiten und Unsicherheiten) folgend die "Generation R" (relaxter, selbstbewusster) auszurufen. Statt die Jugend mit derlei Etiketten zu versehen, sollte man höchstens, wie Hurrelmann, vorsichtig von "ersten Anzeichen einer neuen Generationengestalt" sprechen.

"Von den drei Hauptmerkmalen dieser Generation, d.h. den hohen Bildungsaspirationen und den hohen Anforderungen an den (zukünftigen) Beruf, dem starken Fokus auf den sozialen Nahbereich der Freunde und der Familie sowie der pessimistischen Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Zukunft bei gleichzeitig geringerem Interesse, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, scheint sich vor allem der letzte Bereich stark zu verändern". Denn das Politikinteresse steigt eben weiter kontinuierlich an, immerhin auf 41 % gegenüber 30 % in 2002, das Niveau der 80er Jahre erreicht es allerdings noch lange nicht, 1985 lag es bei 55 %. Zudem ist das neu erwachende politische Interesse anders als damals. Es scheint aktuell aus steigendem gesellschaftlichem Zukunftsoptimismus und aus der Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu erwachsen. Mit dem friedlichen, wohlhabenden und relativ sozialen Deutschland identifiziert man sich positiv, das gilt es gegen die zunehmenden weltweiten, auch ökonomischen, Bedrohungen, bis hin zu Krieg und Terror in Europa, zu verteidigen.

Zu dieser Grundhaltung passt, dass das Problemlösungsvertrauen in die etablierte - eben nationale - Parteipolitik nach wie vor gering ist: 69 % beträgt die Zustimmung zu der Aussage "Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken". Zivilgesellschaftliche - gerade international operierende - Gruppen und Initiativen gelten als erheblich glaubwürdiger. Ein Engagement in einer Partei bleibt unbeliebt, die gestiegene Bereitschaft sich politisch zu engagieren, bezieht sich eher auf den Boykott von Waren aus politischen Gründen oder das Unterzeichnen von Online-Petitionen. Immerhin jeder Vierte hat bereits an einer Demonstration teilgenommen und 10 % engagieren sich in einer Bürgerinitiative.

Digitale Spaltung hat sich erledigt

Das in früheren Studien belegte Problem einer digitalen Spaltung hat sich erledigt, alle Jugendlichen (99 %) sind mittlerweile in der vernetzten Computerwelt unterwegs, das Internet gehört für 70 % zur häufigsten Freizeitbeschäftigung - Tendenz steigend. Wöchentlich ist man im Schnitt bereits 18,4 Stunden online, 2006 waren dies noch weniger als 10 Stunden. Das Internet ist zum sozialen Lebensraum geworden, bei dem man wie selbstverständlich dabei sein muss. Zwar äußern sich vier Fünftel wohl informiert und kritisch über die Internetkonzerne, praktische Folgen hat diese skeptische Haltung aber nicht. Was diese kulturelle Revolution, die sich in den letzten Jahren durch die mobilen Geräte beschleunigte (81 % besitzen Smartphones, Tablets usw.), für die Sozialisation letztlich bedeutet, bleibt eine der spannendsten Fragen der Kulturkritik.

In der Studie von 1955 jedenfalls wurde das Bücherlesen noch eindeutig als häufigste Freizeitbeschäftigung angegeben; abgesehen davon, dass die Jugend auch gerne tanzte, wozu jedoch sogleich eine beruhigende Entwarnung mitgeliefert wurde: "(...) im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung ein überraschendes Ergebnis: Nicht die modernen Tänze wie Boogie-Woogie und Jitterbug - selbst wenn die etwas älteren Tänze Rumba und Samba hinzugerechnet werden - stehen am höchsten in der Gunst der Jugend, sondern ganz eindeutig der klassische Walzer und der Tango". 2015 liegt "in die Discos, zu Partys oder Feten gehen" nur noch im Mittelfeld, bei zwei Dritteln heißen die beliebtesten nicht-digitalen Freizeitaktivitäten jetzt "sich mit Leuten treffen" und "Musik hören". Das lieben vor allem die 30 % "geselligen Jugendlichen", die Typologie führt dann noch die "Medienfreaks" (27 %), "Familienorientierte" (24 %) und die "kreative Freizeitelite" (19 %) auf. Immerhin bei der letzten Gruppe - natürlich eine Bildungsfrage, dies sind zumeist Abiturienten - ist Bücherlesen noch die wichtigste Freizeitbeschäftigung; und wenn irgendwo noch klassische Musik gehört wird, dann wohl in diesem Segment.

Trotz grundsätzlich positiverem Stimmungsbild hat sich das Problem schichtspezifischer Exklusion und Resignation, wenn auch in der Studie nicht wirklich systematisch behandelt, verfestigt. Rund 20 % bleiben klar "sozial abgehängt", wie vielfach zuvor gezeigt, in Deutschland vor allem aufgrund mangelnder Teilhabe und Bildungsintegration. Diese Jugendlichen blicken mit 42 % auch deutlich seltener optimistisch in die gesellschaftliche Zukunft als die aus der oberen Schicht (59 %). Persönlich erwartet von den sozial benachteiligten Jugendlichen nur ein Drittel Positives von ihrer Zukunft. Aktuell hoffen fast drei Viertel aller Jugendlichen, ihre Berufswünsche verwirklichen zu können - ein gutes Viertel aber eben nicht. Besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund fühlen sich häufiger, nämlich zu 44 %, diskriminiert. Gerade aus Benachteiligung, Ausgrenzung und Entwertung kann eine besondere Anfälligkeit für Feindbilder, Sündenbock-Theorien, radikale Sinnangebote und extremistische Weltanschauungen entstehen.

Man weiß noch nicht, was sich aus dieser Generationenskizze, Deutschland als Nation attraktiv zu finden und das erreichte Zivilisationsniveau gegen Zumutungen der Globalisierung verteidigen zu wollen, entwickelt. Dies kann zur Renaissance des offenen und demokratischen europäischen Projektes führen, kann aber auch der Auftakt sein zu Abschottung, Renationalisierung und kultureller Einigelung. Manches Land in Europa scheint sich derzeit in letztere Richtung zu entwickeln, da ist es einigermaßen beruhigend, wenn die Shell-Studie der Jugend in Deutschland ein stabiles Wertesystem zuspricht:

64 % legen großen Wert auf Respekt vor Gesetz und Ordnung, die meisten wollen fleißig und ehrgeizig sein, es steigt wieder die Bereitschaft zu umwelt- und gesundheitsbewusstem Verhalten, während Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung verlieren. Im Vergleich zu früheren Studien werden die Jugendlichen, allerdings nach wie vor mit gewissem Rückstand in Ostdeutschland, immer toleranter. Immerhin zwei Drittel, allerdings vor dem großen Zuzug von Flüchtlingen befragt, teilen eine positive Beurteilung von Zuwanderung. Und vor allem: 82 % der Jugendlichen finden eben den Wert "die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren" wichtig.


Klaus-Jürgen Scherer

Redaktion NG/FH, ist Politikwissenschaftler und war bis Oktober 2015 Geschäftsführer des Kulturforums der Sozialdemokratie.
klaus-juergen.scherer@_fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016, S. 10 - 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2016

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