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KULTUR/049: Vom Haben zum Greifen - Auf dem Weg in eine digitale Abrufgesellschaft (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 136/Juni 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Vom Haben zum Greifen

Auf dem Weg in eine digitale Abrufgesellschaft

Von Michael Hutter



Kurzgefasst: Der Aufwand für diejenigen, die auf digital verfügbare Werke zugreifen, ist gering und sinkt weiter. Dadurch verschieben sich die Möglichkeiten, Informationsgüter zu beherrschen. Der Umgang mit Wissen und Inhalten löst sich von der Eigentumskultur und findet neue Formen in einer Kultur, in der Rechte auf Zugänge, Abrufe und deren Verbindungen relevanter sind als Exklusivrechte. Dieser Vorgang, in seinen Auswirkungen schon jetzt mit denen des Buchdrucks vergleichbar, spiegelt sich in der Debatte um die Weiterentwicklung des Urheberrechts.

Der Anschluss informationsverarbeitender Geräte an digitale Netzwerke revolutioniert unsere Lebensgewohnheiten. Wie zuvor schon die Alphabetisierung und der Buchdruck wird jetzt die Digitalisierung als Befreiung und Katastrophe zugleich erlebt: eine Befreiung von für selbstverständlich gehaltenen Beschränkungen, eine Katastrophe für bestehende Macht- und Geschäftsmodelle. Während bis vor kurzem nur dünne Textreihen billig produziert und kopiert werden konnten, sind inzwischen im Internet die Bildfolgen von Videospielen verfügbar, in denen sich bis zu hundert Millionen Teilnehmer gleichzeitig bewegen. Die Kosten der Herstellung, vor allem aber der Verbreitung und Weiterverwendung solcher Datenpakete und der Programme zu ihrer Generierung sind um Größenordnungen gefallen. Der Zugang zu digital formatierten Werken ist offen, Schutzrechte der Autoren und Verwerter können nur mit großem Aufwand oder gar nicht durchgesetzt werden. Die Konsequenzen sind für viele der bisherigen Rechteinhaber desaströs. Entsprechend erbittert ist die Diskussion über den Umgang mit Rechten.

Der Streit bleibt nicht auf rechtspolitische Experten und einschlägige Lobbyisten beschränkt, sondern findet in aller Öffentlichkeit, insbesondere in den Massenmedien statt. Der Verlauf der Fronten in Diskussionen, Aktionen und Gegenaktionen ist unübersichtlich. Vier Gruppen sind vom Umbruch in der Informationsbeherrschung betroffen: Produzenten, Urheber, Verwender und Verwertungsgesellschaften. Alle vier haben in sich widersprüchliche Interessen.

Bei den Produzenten verlieren die Hersteller von Werken, die in digitaler Form vertrieben werden, etwa Filme oder Videospiele, während die Hersteller der zum Aufnehmen und Abspielen benötigten Geräte Gewinne einstreichen. Aus diesen Gewinnen - nämlich über die Kopierabgabe - werden allein etwa 40 Prozent der Ausschüttungen der GEMA finanziert.

Bei den Schöpfern der Werke verlieren etablierte Ensembles und Studios, aber unabhängige, oft nichtprofessionelle Autoren, Musiker und Programmierer gewinnen Aufmerksamkeit und Vermögen. Hier, bei den eigentlichen Urhebern, sind die Meinungen am stärksten gespalten. Viele optieren so wie der Musiker und Blogger Jonathan Coulton: "I believe in copyright. I benefit from it. [...] But if I had to give up one thing, if I had to choose between copyright and the wild west, semi-lawless, innovation-fest that is the internet? I'll take the internet every time" (www.jonathancoulton.com/2012/01/21).

Bei den Verwendern verläuft die Interessenlinie zwischen den Generationen: Die Generation, die sich an den passiven Konsum durch Massenmedien versendeter Inhalte gewöhnt hat, ist weniger betroffen von rigorosen Maßnahmen des Rechteschutzes als die junge Generation, die neu entdeckt, was sich aus den Relikten und Novitäten, die sie umgeben, an eigenen Werken gestalten und mit anderen teilen lässt.

Am einheitlichsten treten die Verwertungsgesellschaften auf. Sie bieten zumindest ein Modell, wie in selbstorganisierter Weise Pauschalzahlungen von den Gewinnern der digitalen Revolution an die Urheber verteilt werden können. Allerdings ist der Preis für diesen wichtigen Mechanismus der Umverteilung eine fast vollständige Monopolisierung nationaler Parafisken, also der Organisationen, die öffentliche Aufgaben übernehmen und sich aus Zwangsabgaben finanzieren. Gleichzeitig sind sie wegen ihrer einfachen, vereinsartigen Entscheidungsstruktur anfällig für die faktische Übernahme durch die marktbeherrschenden Produktionsunternehmen. Es bleibt deshalb unklar, ob Verwertungsgesellschaften wie GEMA, VG Wort und VG Bildkunst, denen die technologische Entwicklung völlig neue Geschäftsfelder beschert, wegen des gestiegenen öffentlichen und privaten Interesses an den Verteilungsmechanismen in ihrer heutigen Form überleben werden.

Alle diese Parteien engagieren sich, zum Teil mit beträchtlichen Mitteln, in der Auseinandersetzung um die Weiterentwicklung des Urheberrechts. Die Argumente werden mit allen juristisch verfügbaren Mitteln unterstützt, die Rechte sollen selbst mit Sanktionen in Form von Geld- und Freiheitsstrafen verteidigt werden. Aber letztlich laufen alle Abwehrmaßnahmen ins Leere: Während einige Rechteverletzer physisch dingfest gemacht werden, entstehen schon wieder neue Netzwerke und Abrufmöglichkeiten.

Die Richtung, in der sich die institutionelle Veränderung bewegt, ist klar und unvermeidlich: Auf Werke digital zuzugreifen wird immer einfacher, während der Aufwand zur Verteidigung bestehender Verwertungsrechte steigt. Also läuft die Entwicklung auf eine geringere Schutzhöhe zu. Der Druck in diese Richtung ist so stark, dass er in einigen europäischen Ländern politisch organisiert wird und - in Gestalt einer parlamentarischen Fraktion - direkt auf die Gesetzgebung einwirkt. Verfahren der Finanzierung von Autoren und Produzentinnen, die stärker über kollektive Kassen oder über Grundgebühren als über Einzelzahlungen organisiert sind, werden erprobt, lassen aber durchaus Szenarien zu, in denen die Zahl der Künstler, die vom Verkauf oder Verleih ihrer Werke leben können, sinkt.

Der Umbruch in der Definition der Rechte eines Urhebers an seinem Werk lässt sich auch im Sprachgebrauch ablesen. Drei verschiedene Perspektiven lassen sich dabei an drei Begriffsfeldern festmachen: Eigentum - Zugang - Zugriff.

Mit dem Begriff "geistiges Eigentum" werden Schutzansprüche - von Patenten bis zu Geschmacksmustern - bezeichnet. Der Eigentumscharakter immaterieller Werke wird dabei behauptet, obwohl die Differenz zu Sachen offensichtlich ist: Materielle Güter sind private, also exklusive Güter. Ihre Nutzung muss rivalisierend sein, weil physische Körper nur an einem Ort sein können. Informationsgüter dagegen sind öffentliche Güter, denn ihre Inhalte, etwa die Vorteile einer Erfindung, können gleichzeitig an vielen Orten sein. Das ist der Grund, warum individuelle Schutzrechte für derartige Informationsgüter immer eingeschränkt sind durch das Interesse der Allgemeinheit an der weitestgehenden Verbreitung und Nutzung der Information. Deshalb sind sie zeitlich befristet oder müssen zwangslizenziert werden, oder sie gelten nicht für bestimmte Nutzergruppen.

Bei echten Eigentumsrechten ist das anders: Mit Sachen - früher auch Personen - kann der Eigentümer weitgehend tun und lassen, was er will. Dem dominium liegt eine Jahrtausende alte Rechtskultur zugrunde. In der Verbindung mit dieser Rechtskultur ist im vergangenen Jahrhundert das Urheberrecht weiterentwickelt worden, sowohl in der europäischen Version als Autorenrecht als auch in der angloamerikanischen Version als copyright oder Kopierschutz von Werken. Mit der Ausweitung der Schutzfrist auf 70 Jahre nach dem Tod des Autors und dem Ausbau des Rechtemanagements für digitale Ton-, Bild- und Datenträger schien die Angleichung an das Sacheigentum weitgehend vollzogen. Trotz der normativen Verschärfung hat aber die Anzahl der Zugriffe auf geschützte Werke zugenommen. Also werden mit dem Argument des Eigentums Verbote generiert, die das Kopieren von digitalen Dokumenten mit dem Diebstahl von Fahrrädern gleichsetzen oder die Aneignung von Firmenlogos für Handtaschen mit dem Raub von Schiffsladungen durch Piraten.

Während dieser Chor der Interessierten den möglichst vollständigen Schutz individueller Rechte erreichen will, hat längst ein anderer Chor eingesetzt, der das Gegenteil fordert: eine Reduzierung der Schutzansprüche, differenzierte Formen der Leistungsförderung oder gar völlig freien Zugang zu Datenquellen. Alle diese Forderungen basieren auf der Sichtweise, dass Immaterialgüter aus Information bestehen, also "aus allem, was sich digitalisieren lässt", um der Definition von Hal Varian, vormals Wirtschaftsprofessor in Berkeley, heute Chefökonom bei Google, zu folgen. Die Verweigerung des Zugangs zu Information wird von den Aktivisten der Access to Knowledge-Bewegung in die Nähe der Einschränkung von demokratischer Meinungsfreiheit gerückt, die verstärkten Schutzmaßnahmen der privaten Verwerter werden als Kontrolle der öffentlichen Sphäre interpretiert.

Etwas anders setzt das Argument an, wenn für Einzelne, besonders für Amateure das Recht auf Zugang gefordert wird. Sie sollen den eigenen "Remix" aus dem Pool vorhandener Informationsressourcen gestalten können. Abschreckende Beispiele sind dabei Fälle, in denen das Auftreten von geschützten Klängen oder Bildformen in privaten Aufnahmen strafrechtlich verfolgt wurde. Private, die ihren kreativen Neigungen nachgehen, geraten unvermeidlich bei ihren Streifzügen an Datenkomplexe, deren Nutzungsbedingungen unklar sind. Lawrence Lessig fordert deshalb eine Senkung der Schutzansprüche gegenüber Amateuren und einen Wechsel der juristischen Einschätzung weg von der bloßen Zahl hin zum Verwendungszweck von Kopien. Lessig ist Initiator der Creative Commons-Bewegung, deren open content-Lizenzen eine freiwillige Alternative zu den gesetzlichen Schutzansprüchen geschaffen haben.

Die Rede vom Zugang zu Datenkomplexen stützt sich noch auf die Metapher eines physischen Wegs und wird deshalb der Eigenart digitaler Kommunikationsformen nicht gerecht. Näher am Informationscharakter der Werke wäre die Rede von Abruf oder Zugriff. Sie taucht in den neueren Diskussionen auch auf, hat aber bislang kein einheitliches Profil. Ein solches Profil lässt sich einkreisen, wenn man das Wortfeld um das Greifen ausmisst.

Vom Er-greifen kann gesprochen werden, wenn es um die kommerzielle Werkverwendung durch Dritte geht, für die mit einer Lizenzgebühr bezahlt wird. Ein Großteil der Erträge wird dabei in wenigen Jahren erzielt, also in einer Zeitspanne, die weit unter den Schutzansprüchen des Urheberrechts liegt. Hier entspricht die Verwendung weitgehend der Miete oder Pacht von dinglichen Rechten. Das Ergriffene kann wieder zurückgegeben werden.

Dem Be-greifen entspricht die Erfahrung, die Verwender mit den Bedeutungsinhalten eines Werks erleben. Das macht ja die fundamentale Eigenart der geistigen Güter aus: Sie werden über die kognitive Wahrnehmung erfasst und in den Bedeutungs- und Gedächtnisstrukturen des individuellen Bewusstseins interpretiert. So entstehen Erfahrungen, die die Verwender in immer neuen Varianten erleben wollen. Im Überfluss der digitalen Angebote verhalten sie sich wie Flaneure, die Erfahrungen und Eindrücke vergleichend wertzuschätzen lernen. Viel stärker als in Branchen mit analogen Medien zeigt sich in den hochdigitalisierten Branchen das Phänomen der asymmetrischen Aufmerksamkeit: Geringe Informationsunterschiede genügen, um einige Werke aus völliger Anonymität zum Bestseller-Produkt zu machen, weil nicht mehr professionelle Informationsmedien eine Vorauswahl treffen, sondern einzelne Aufrufe und Wertungen den Ausschlag geben. In diesen Märkten bildet sich zurzeit ein Spektrum von Zahlungsformen, von micro-payments für singuläre Ereignisse bis zu flat rates, mit denen ähnlich wie bei einem Festival ein Bündel von Angeboten ausprobiert werden kann.

Dem Ein-greifen schließlich entspricht die Teilnahme an gemeinsamen Netzwerken. Die Teilnehmer greifen gegenseitig auf ihre accounts zu, sie kommentieren, kopieren und modifizieren das abrufbare Material. Die Netzwerke können aus Experten bestehen, wie die Netzwerke, die im open source-Modus Betriebssysteme und Programme weiterentwickeln, oder aus den Teilnehmern von social networks - mit einer Vielzahl von kleinen, wiederum miteinander vernetzten Gemeinden -, in denen digital aufgenommene Eindrücke und digital gespeicherte Funde einander mitgeteilt werden. Die Vielfalt und die Dichte der Netzwerke, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, sind vielleicht das stärkste Anzeichen der medialen Veränderung, die die Digitalisierung mit sich bringt. In diesen Netzwerken wird der Austausch selten über Zahlungen koordiniert. Die Teilnehmer sind verbunden durch gegenseitige Verpflichtungen: Danksagungen, Quellenzitate, vor allem aber wertende Kommentare übernehmen die Rolle der Schuldscheine. Hier entsteht eine Moral, die dem Problem der Schöpfung und Verwertung digitaler Inhalte angemessen ist. Die gesellschaftliche Koordination durch Schuldverhältnisse war durch die Erfolge der Gütermärkte im vergangenen Jahrhundert eher in Vergessenheit geraten. Unter den Bedingungen digital vermittelter Kommunikation entfalten Bindungen wie Dankbarkeit und Schuld neue Möglichkeiten, kreative Prozesse gemeinschaftlich zu organisieren.

"The internet", schreibt der Pionierprogrammierer und Rechtsprofessor Eben Moglen, "is not a thing, but a social condition". So löst sich der Umgang mit Wissen und Inhalten von der Eigentumskultur und findet neue Formen in einer Kultur, in der Rechte auf Zugänge, Abrufe und Zugriffe relevanter sind als exklusive Rechte.


Michael Hutter, habilitierter Volkswirt, ist seit 2008 Direktor der WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit und Forschungsprofessor am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Innovationen in der Kreativwirtschaft sowie historische Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Kunst.
mhutter@wzb.eu


Literatur

Baecker, Dirk: "Communication with Computers, or How Next Society Calls for an Understanding of Temporal Form". In: Soziale Systeme, Jg. 13, H. 1+2, 2007, S. 407-418.

Lessig, Lawrence: Remix. Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy. New York: Bloomsbury Press 2011.

Moglen, Eben: "Anarchism Triumphant: Free Software and the Death of Copyright". In: Neil W. Netanel/Niva Elkin-Koren (Eds.): The Commodification of Information. Den Haag/New York: Kluwer Law International 2002, S. 107-132.

Kapczynski, Amy/Krikorian, Gaëlle (Eds.): Access to Knowledge in the Age of Intellectual Property. Cambridge, MA: Zone Books 2010.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 136, Juni 2012, Seite 7-10
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2012