Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE


KULTUR/052: Trennlinien Europas (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 147/März 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Trennlinien Europas

Religion und Kultur aus der Perspektive des "Kampfs der Kulturen"

von Plamen Akaliyski


Kurz gefasst: Der These vom Kampf der Kulturen zufolge bilden die Weltreligionen kulturelle Cluster, zwischen denen Konflikte entstehen können. Wie verhalten sich Religion und kulturelle Unterschiede zueinander? Religion kann sich direkt auf die Wertvorstellungen von Menschen auswirken, oder sie entstand und veränderte sich im Laufe der Geschichte, um bereits existierende Wertemuster widerzuspiegeln. Zudem erleichtert eine gemeinsame Religion den gegenseitigen kulturellen Austausch, wodurch die Ähnlichkeiten zunehmen. Eine empirische Prüfung belegt die Existenz protestantischer, katholischer, orthodoxer und muslimischer kultureller Gruppierungen, was Huntingtons These stützt.


Vor gut zwei Jahrzehnten stellte der Harvard-Politologe Samuel Huntington erstmals seine These vom "Kampf der Kulturen" vor, und seither hat dieses umstrittene Werk immer wieder hitzige soziale und politische Debatten ausgelöst. Huntington prophezeit, dass es nach dem Ende des Kalten Kriegs zwischen acht oder neun der großen Weltkulturen zu Bruchlinienkonflikten kommen könnte, die vor allem auf religiösen Traditionen basieren. Zwischenstaatliche Migration in großem Maßstab hat zu einer Durchmischung der Weltkulturen geführt. So könne es nicht nur zwischen Kulturräumen, sondern auch innerhalb von Gesellschaften zu Spannungen kommen. Heute gibt es in vielen Ländern Europas religiösen Fundamentalismus und ausländerfeindliche Ressentiments. Wenn es die von Huntington beschriebenen scharfen und unüberwindbaren kulturellen Diskrepanzen zwischen den Anhängern unterschiedlicher Weltreligionen tatsächlich gibt, wird es möglicherweise schwierig sein, ein friedliches Miteinander aufrechtzuerhalten.

Während in der kontroversen öffentlichen Debatte gefragt wurde, ob ein Kampf der Kulturen tatsächlich die aktuellen Weltkonflikte erklären kann, wurde nur selten untersucht, warum es überhaupt kulturelle Differenzen zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen geben mag. Max Weber, der den Aufstieg des Kapitalismus auf Werte zurückführte, die ihren Ursprung im Protestantismus haben, war einer der ersten, der davon sprach, dass sich die Religion auf die kulturellen Werte der Menschen auswirkt. Allgemeiner gesprochen, könnten religiöse Überzeugungen und moralische Normen tatsächlich die Werte und Einstellungen der Menschen direkt beeinflussen. Die zentralisierten Institutionen der katholischen Kirche können zum Beispiel Werte wie Hierarchie einflößen. Die evangelischen Kirchen könnten möglicherweise egalitäre und individuelle Werte fördern, weil es ihnen an einer solchen strengen Struktur fehlt und die Grundüberzeugung herrscht, die Gläubigen verständen die heiligen Schriften auch ohne eine vermittelnde Instanz. Auch können religiöse Praktiken bestimmten kulturellen Ausprägungen förderlich sein. Beispielsweise stärkt zuweilen das Fasten während des Monats Ramadan die Solidarität der Gläubigen mit benachteiligten Menschen.

Andere Sozialwissenschaftler vertreten dagegen die Auffassung, die Religion beeinflusse nicht per se die Kultur; vielmehr verstärke sie bereits bestehende kulturelle Unterschiede. Das heißt, eine bestimmte Religion verbreitet sich dort, wo die Kultur für ihre Moralvorstellungen empfänglich ist, und sie hat einen spaltenden Effekt, wenn erhebliche kulturelle Diskrepanzen herrschen. Unterstützung findet dieses Argument in der Tatsache, dass es in allen großen Religionen zu Spaltungen gekommen ist und Gesellschaften, die über deutlicher ausgeprägte Kulturen verfügten, in sich gespalten wurden: Innerhalb des Christentums kam es zu einer Ausdifferenzierung in Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus, im Islam zur Trennung von Sunniten und Schiiten. Man kann zum Beispiel argumentieren, dass der Protestantismus entstand, weil er dem Wertesystem der Nordeuropäer mehr entsprach und später die Unterschiede lediglich verstärkte.

Ein sehr ähnliches Argument lautet: Religion repräsentiert historische Ereignisse und Prozesse. Für Europa etwa war das Erbe des Römischen Reichs von enormer Bedeutung. Das Morgenländische Schisma im Jahr 1054 zwischen dem orthodoxen und dem westlichen Christentum lässt sich beispielsweise auf die Teilung des Römischen Reichs in Ost und West im dritten und vierten Jahrhundert n. Chr. zurückführen. Das wiederum impliziert, dass es in Europa kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West schon seit annähernd zwei Jahrtausenden oder noch länger gibt. Der Erfolg des Protestantismus war andererseits vor allem im Norden Europas möglich, der vom Erbe des Römischen Reichs nicht im gleichen Maße wie Südeuropa betroffen war, da er kein integraler Bestandteil dieses Reichs gewesen war. Die Ausbreitung des Christentums innerhalb des Römischen Reichs, das Große Schisma, die Reformation und Gegenreformation sind ihrerseits historische Prozesse und Ereignisse, die die kulturellen Interaktionen zwischen den jeweiligen Ländern eingeschränkt haben.

Religion könnte nicht nur in Beziehung stehen zu kulturellen Unterschiede in der historischen Entwicklung, sondern auch bedingt durch geografische Gegebenheiten. Gesellschaften, die sich räumlich näher sind, interagieren natürlich intensiver miteinander und beeinflussen sich dementsprechend kulturell. Weil in Europa die meisten Protestanten im nordwestlichen, die meisten Katholiken in zentralen und südwestlichen Teil des Kontinents leben und die meisten Orthodoxen im Osten, dürften sich kulturelle Gemeinsamkeiten intensivieren.

Weitere Ähnlichkeiten zwischen Ländern mit der gleichen Religion speisen sich daraus, dass Gemeinsamkeiten eine engere Interaktion zwischen ihnen erleichtern, was wiederum dazu führt, dass sich die Kulturen der jeweiligen Länder einander annähern. Die Forschung zeigt, dass sich eine gemeinsame Religion durch institutionelle und Netzwerkeffekte sogar noch positiver auf bilaterale Handelsbeziehungen auswirkt als regionale Handelsabkommen, die willentlich herbeigeführt wurden. Da Religion eine Quelle gemeinschaftlicher Identität ist, entwickeln die Anhänger einer Konfession untereinander schneller und unkomplizierter Vertrauen. Das schafft Netzwerke und erleichtert die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf internationaler Ebene, weil die Transaktionskosten sinken. Kulturelle Werte können sich über nationale Grenzen hinweg verbreiten, so lautet die Annahme. Das ist tatsächlich der Fall, wenn sich bestimmte Länder untereinander intensiver austauschen, wenn sie Handel treiben, politisch zusammenarbeiten, kulturellen Austausch pflegen, wenn Tourismus und Migration den Austausch verstärken. So kommt es, dass Länder mit der gleichen Religion sich von vornherein kulturell ähnlich sind; und diese kulturellen Ähnlichkeiten nehmen dann noch weiter zu, weil sie sich die Länder gegenseitig kulturell beeinflussen.

Wie erwähnt, herrscht in der Forschung keine Einigkeit darüber, ob sich die Religion direkt oder indirekt auf die Kultur auswirkt, ob Religionsunterschiede auf vorherigen kulturellen Unterschieden beruhen oder ob sie historische Prozesse und Ereignisse widerspiegeln. Dessen ungeachtet gibt es eine überwältigende Menge empirischer Beweise dafür, dass eine solche Verbindung tatsächlich vorhanden ist.

In meiner empirischen Untersuchung stütze ich mich auf die Daten von 32 europäischen Ländern aus dem European Social Survey von 2008. Dabei konzentriere ich mich auf die Beziehung zwischen Religion und sieben abstrakten kulturellen Werten: intellektuelle Autonomie, Gefühlsautonomie, soziales Eingebettetsein, Egalitarimus, Hierarchie, Beherrschung und Harmonie. Die Ergebnisse zeigen, dass Länder, in denen die gleichen Konfessionen vorherrschen, in der Regel auch ähnliche kulturelle Werte teilen.

In Huntingtons westlichem Kulturkreis stehen sich die protestantischen Länder in kultureller Hinsicht besonders nahe, während die katholischen Länder sich zwischen den protestantischen Ländern auf der einen Seite und den orthodoxen Clustern auf der anderen Seite befinden und zwei Untergruppen bilden. Katholische Länder mit einer langen demokratischen Tradition lassen sich kaum von ihren protestantischen Pendants unterscheiden. Doch die katholischen Länder auf der anderen Seite des früheren Eisernen Vorhangs scheinen vom Kommunismus stark beeinflusst zu sein und stehen in kultureller Hinsicht dem orthodoxen Russland nach wie vor sehr nahe.

Darüber hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die von der Orthodoxie geprägten Länder eine recht homogene kulturelle Sphäre bilden, die sich deutlich von der des Westens unterscheidet. Das größte und einflussreichste Land dieses Clusters, Russland, tritt als Zentrum auf, um das herum die kleineren orthodoxen Länder kreisen. Die einzigen orthodox geprägten Länder, die dem Westen recht nahestehen, sind Griechenland und Zypern. Das zeigt, dass andere Faktoren - etwa die wirtschaftliche Entwicklung, eine koloniale Vergangenheit wie im Falle Zyperns oder eine lange Mitgliedschaft in westlichen Wirtschafts- und Politikstrukturen wie im Falle Griechenlands - sich in nur sehr beschränktem Maße auf die nationale Kultur von Ländern auswirken, die eine andere religiöse Tradition haben.

Die Türkei ist das einzige islamische Land, von dem relevante Daten vorliegen. Es befindet sich ebenfalls in seinem eigenen Kulturraum, und es unterscheidet sich hinsichtlich der kulturellen Werte am meisten von Westeuropa.

Huntington hat behauptet: "Auch wenn die Linien [zwischen den Kulturen] selten scharf sind, sind sie doch real." In genau diesem Sinne komme ich in meiner Analyse zu dem Schluss, dass es in Europa kulturelle Cluster gibt, die sich deutlich voneinander unterscheiden: den Westen (der sich in Katholizismus und Protestantismus ausdifferenziert), das orthodoxe Christentum und den Islam. Allerdings sind die Grenzen zwischen den kulturellen Gruppierungen in Wahrheit recht verschwommen, und es gibt keine wirkliche Kluft zwischen ihnen. Es ist eine Frage der Interpretation, ob man die Unterschiede zwischen ihnen für so scharf hält, dass man von unterschiedlichen Kulturen sprechen kann (civilizations in Huntingtons Original).

Zwar spielt die jeweils vorherrschende Religion mit Sicherheit eine sehr große Rolle in der Gestaltung der kulturellen Landkarte Europas, aber sie allein reicht nicht aus, um Linien zwischen den Ländern zu ziehen. Daneben sind auch andere Faktoren des Kulturerbes - Sprache, historische und ideologische Traditionen -, die geografische Lage und selbst der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung mögliche Ursachen für kulturelle Besonderheiten. Zudem stellt sich die Frage, ob große kulturelle Unterschiede zwangsläufig zu Spannungen führen. Huntingtons recht optimistische Antwort lautet: "Unterschiede bedeuten nicht notwendigerweise Konflikt, und Konflikt bedeutet nicht notwendigerweise Gewalt."


Plamen Akaliyski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe der Präsidentin. Er forscht über Erwerbstätigkeit und Familie, Gesundheit von Kindern, soziale Ungleichheit, kulturellen Wandel und Religion.
plamen.akaliyski@wzb.eu


Literatur

Akaliyski, Plamen: Cultural Differences in Europe: The Clash of Civilizations or of Development? Master's Thesis. Berlin: Freie Universität Berlin 2014.

Hofstede, Geert: Cultures and Organizations: Software of the Mind. Maidenhead, UK: McGraw-Hill 1991.

Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster 1996.

Schwartz, Shalom H.: "A Theory of Cultural Value Orientations: Explication and Applications". In: Comparative Sociology, 2006, Vol. 5, Nos. 2-3, pp. 137-182.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 147, März 2015, Seite 25-28
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang