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PORTRAIT/062: Heimat ist für Kelly Pavlik kein leeres Wort (SB)



Weltbester Mittelgewichtler gilt als bodenständig und loyal

Eines Tages, so hofft Kelly Pavlik, soll man seinen Namen in einem Atemzug mit Legenden wie Sugar Ray Leonard, Marvin Hagler und Thomas Hearns nennen. Der 26 Jahre alte Mittelgewichtler aus Youngstown, Ohio, ist Weltmeister der Verbände WBC und WBO in derselben Gewichtsklasse wie Arthur Abraham (IBF) und Felix Sturm (WBA). Übermorgen verteidigt er in der Boardwalk Hall von Atlantic City seine Titel gegen den Waliser Gary Lockett, der mit einer Bilanz von 30 Siegen und nur einer Niederlage die Rangliste der WBO anführt, gegen den Champion aber dennoch als klarer Außenseiter antritt. Pavlik hat alle 33 Kämpfe seiner Karriere gewonnen und dabei 29 Gegner vorzeitig besiegt, vor allem aber so hochkarätige Boxer wie Jermain Taylor bezwungen.

Trotz seiner makellosen Siegesserie ist Kelly Pavlik in Europa weithin unbekannt und selbst in den USA keineswegs ein großer Star. Das dürfte in erster Linie daran liegen, daß er außerordentlich bodenständig ist und seine Heimatstadt nie verlassen hat. Er hat mit allen Faustregeln gebrochen, wonach ein aufstrebender Boxer früher oder später seinen Trainer und den Wohnort wechseln müsse, um sportlich voranzukommen und den gesellschaftlichen Aufstieg in bessere Kreise zu vollziehen. Pavliks Stärke, so scheint es, ist seine Familie, die vertraute Umgebung und seine Stadt.

Wie der renommierte Boxjournalist Bert Sugar sagte, sei Kelly Pavlik ein weißer Junge aus dem Mittleren Westen und das gebe ihm eine Beständigkeit, die den meisten anderen amerikanischen Boxern fehle. Er könne eine großartige Erfolgsgeschichte vorweisen, sei gleichsam mit der Substanz der Stadt verwoben und zweifellos ein Held von Youngstown, wie es heute kaum noch welche gebe.

Dabei ist Youngstown eher eine sterbende Stadt, deren Bevölkerung seit Jahren abwandert. Als in der einstigen Hochburg der Metallindustrie ein Stahlwerk nach dem anderen schließen mußte, sank die Einwohnerzahl von über 160.000 im Jahr 1960 um mehr als die Hälfte auf gut 80.000 im Jahr 2006. Niemand hätte es Pavlik krummgenommen, wenn er wie Tausende andere ebenfalls weggezogen wäre. Daß er aber geblieben ist und Youngstown neuen Stolz geschenkt hat, rechnet man ihm hoch an. Für seinen kommenden Auftritt gegen Gary Lockett erhält er eine Bruttobörse von 2,5 Millionen Dollar, und diverse Werbeverträge bessern sein Konto noch einmal beträchtlich auf. Dennoch wohnt er mit seiner langjährigen Freundin und deren kleiner Tochter nach wie vor in einem kleinen Haus und verkehrt in denselben Läden und Kneipen wie eh und je.

Am 5. April 1982 in Youngstown geboren, mußte Kelly Pavlik im Alter von acht Jahren miterleben, wie sein Vater einen gutbezahlten Job im Stahlwerk verlor. Ein Jahr später nahm ihn der Boxtrainer Jack Loew unter seine Fittiche, dessen Angaben zufolge der Junge zäh und mutig, aber keineswegs etwas Besonderes war. In seinem ersten Kampf bekam Pavlik einen erfahrenen Gegner vorgesetzt und prügelte ihn doch durch den Ring, als habe nie etwas anderes gemacht. Er gewann mehrere Juniorenturniere im Weltergewicht, darunter 1999 die nationale Juniorenmeisterschaft. Bei der Olympiaausscheidung 2000 unterlag er jedoch Jermain Taylor und Anthony Hanshaw. Seine Bilanz bei den Amateuren lag bei 89 Siegen und neun Niederlagen.

Mit 18 Jahren erhielt er einen Profivertrag bei Bob Arums "Top Rank" und gewann seine ersten dreißig Kämpfe im Mittelgewicht. Anfangs boxte er so wendig, daß man ihm den Beinamen "The Ghost" verpaßte, weil ihn seine Gegner nicht zu fassen bekamen. Obgleich er diese Fähigkeit keineswegs verloren hat, stellte er sich doch auf ein unablässiges Power-Punching um, mit dem er auch die härtesten Gegner dominierte. Seine Schlagwirkung war so beeindruckend, daß ihn das "Ring Magazine" als gefährlichsten Puncher seiner Gewichtsklasse einstufte. Man ließ sich dennoch sechs Jahre Zeit, um den mit 1,89 m hochgewachsenen Mittelgewichtler in aller Ruhe aufzubauen.

Im Oktober 2005 wurde ein breiteres Publikum auf ihn aufmerksam, als er mit Fulgencia Zuniga erstmals einen Titelaspiranten durch K.o. besiegte. Im Januar 2007 bezwang er den Mexikaner José Luis Zertuche durch Knockout und wurde dadurch Pflichtherausforderer des WBC. Es kam jedoch zu einem Titelkampf gegen Edison Miranda, bei dem die beiden Boxer aufeinandertrafen, denen man die größte Schlagwirkung in diesem Limit attestierte. Die Kontrahenten schenkten einander nichts und erzielten zahlreiche Wirkungstreffer, doch Pavlik setzte sich zunehmend durch, schlug den Kolumbianer wiederholt zu Boden und gewann schließlich durch technischen K.o. in der siebten Runde.

Am 29. September 2007 trat er gegen WBC-Weltmeister Jermain Taylor an, der frühzeitig auftrumpfte und Pavlik bereits in der zweiten Runde auf die Bretter schickte. Der Herausforderer erwies sich jedoch als außerordentlich zäh, kam wieder in den Kampf und trieb Taylor in der siebten Runde derart in die Enge, daß der Ringrichter abbrechen mußte. Da im Vertrag eine Revanche vereinbart war, kam es am 16. Februar 2008 im MGM Grand Hotel von Las Vegas zu einem zweiten Duell, das Pavlik einstimmig nach Punkten gewann.

Kelly sei ein außerordentlich loyaler Mensch, berichtet sein Vater Michael Pavlik, der als Manager für seinen Sohn tätig ist. Während der Vorbereitung auf den nächsten Kampf schläft der Champion bei seinen Eltern auf dem Sofa und muß nur die Treppe hinuntersteigen, um in einem ehemaligen Laden, der seit ewigen Zeiten sein Trainingsraum ist, an die Arbeit zu gehen. Jahrelang stritt man bei "Top Rank" darüber, ob es nicht doch besser wäre, Kelly Pavlik in eine andere Umgebung zu bringen. Dieser willigte schließlich ein, 2004 und 2005 vor einigen Auftritten in Las Vegas zu trainieren. Obgleich er auch diese Kämpfe gewann, wurde doch allen Beteiligten klar, daß er zu Hause am besten aufgehoben war. Seither trainiert er durchweg in Youngstown, wo es ihm am besten gefällt: Hier habe er alles, was er brauche, vor allem aber echte Fans.

Er schwärmt noch heute von dem großartigen Empfang, den ihm Youngstown nach seinem ersten Sieg gegen Jermain Taylor bereitet habe. Es sei einfach unbeschreiblich gewesen zu erleben, daß die Stadt wieder auf die Beine gekommen sei. Dabei trägt Pavlik auch außerhalb des Rings eine Menge dazu bei, Youngstown ein menschliches Antlitz zu geben. Er engagiert sich im Sozialbereich und besucht regelmäßig hilfsbedürftige Menschen, was in seinem Fall tatsächlich keine bloße Außendarstellung zur besseren Vermarktung zu sein scheint. In Youngstown, wo ihn jeder seit Jahren kennt, dürfte eine bloße Fassade ohnehin kaum aufrechtzuerhalten sein.

Um alle vier Gürtel im Mittelgewicht in seinen Besitz zu bringen, müßte Kelly Pavlik die deutschen Boxer Felix Sturm und Arthur Abraham besiegen. Da sich aber keiner von beiden bislang einen Namen in den USA gemacht hat, ist wohl eher anzunehmen, daß Pavlik in einer höheren Gewichtsklasse antritt und sich womöglich mit dem in 45 Kämpfen ungeschlagenen König des Supermittelgewichts, Joe Calzaghe, mißt. Der Waliser hat zuletzt in einem Kampf zweier Legenden Bernard Hopkins im Halbschwergewicht knapp nach Punkten besiegt und will zum Ausklang seiner phänomenalen Karriere nur noch ein oder zwei hochdotierte Ringauftritte bestreiten. Sollte es tatsächlich zu einem Duell zwischen Kelly Pavlik und Joe Calzaghe kommen, wäre der Vergleich mit Sugar Ray Leonard und Marvin Hagler wohl tatsächlich einmal angebracht.

5. Juni 2008