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PORTRAIT/083: "Eine weitere große Eiche ist gefallen" - Nachruf auf Ron Lyle (SB)



Er lieferte Muhammad Ali und George Foreman dramatische Kämpfe

Der ehemalige Schwergewichtsboxer und spätere Trainer Ron Lyle ist im Alter von 70 Jahren in seiner Heimatstadt Denver durch Komplikationen einer Magenerkrankung gestorben. In den 70er Jahren unterlag er in seinem einzigen Kampf um die Weltmeisterschaft Muhammad Ali nach einem ausgezeichneten Auftritt durch Abbruch in der elften Runde. Sein spektakuläres Duell mit George Foreman wurde 1976 zum "Fight of the Year" gewählt und gilt noch heute als einer der aufregendsten Schwergewichtskämpfe überhaupt.

Ron Lyle wurde am 12. Februar 1941 als eines von 19 Kindern von William und Nellie Lyle in Dayton, Ohio, geboren. In jungen Jahren gehörte er einer bewaffneten Gang an und wurde 1962 wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Er soll den 21jährigen Douglas Byrd im Verlauf einer Bandenauseinandersetzung erschossen haben. Nach siebeneinhalb Jahren wurde er vorzeitig aus dem Staatsgefängnis von Colorado entlassen.

Erst im Alter von 30 Jahren wurde der 1,92 m große Ron Lyle 1971 Profiboxer. Aufgrund seiner enormen Schlagwirkung machte er schnell Karriere und besiegte bereits im folgenden Jahr Buster Matthis sen. frühzeitig. Nachdem er die meisten Gegner durch K.o. bezwungen hatte, mußte er 1973 gegen dem Veteranen Jerry Quarry, der klar nach Punkten gewann, seine erste Niederlage hinnehmen. Im selben Jahr besiegte er Jürgen Blin durch K.o. in der dritten Runde und beendete damit dessen Karriere. Der Deutsche zeigte sich in Interviews sehr beeindruckt von der Wucht, die hinter den Schlägen dieses Gegners steckte.

Nach Punktsiegen gegen den zähen Argentinier Oscar Bonavena und den ehemaligen Weltmeister Jimmy Ellis verlor er 1975 gegen den versierten Konterboxer Jimmy Young einstimmig nach Punkten. Dennoch erhielt er und nicht Young die Chance, gegen Muhammad Ali um den Titel zu kämpfen. Ali bestritt damals die zweite Titelverteidigung seiner zweiten Regentschaft und bediente sich erneut der gegen George Foreman so erfolgreichen Rope-A-Dope-Taktik, mit der er diesen Gegner jedoch nicht aus dem Konzept bringen konnte. Nach einem über weite Strecken ausgeglichenen Kampf lag Lyle in der elften Runde auf zwei der drei Punktzettel sogar in Führung, als ihn der Champion in der Ecke mit schweren Treffern eindeckte. Ringrichter Ferd Hernandez griff ein und beendete den Kampf - zu schnell, wie man im Lager des Herausforderers vergebens monierte.

Nach diesem einzigen Titelkampf seiner Karriere beeindruckte Ron Lyle mit einem vorzeitigen Sieg gegen den gefürchteten Puncher Earnie Shavers. Sein nächster Kampf, bei dem er 1976 auf Exweltmeister George Foreman traf, sollte jener furiose Auftritt werden, dessentwegen ihn die Boxwelt in bester Erinnerung behielt. Im Gegensatz zu anderen Gegnern Foremans, der eineinhalb Jahre nach der Niederlage gegen Muhammad Ali im legendären "Rumble in the Jungle" erstmals wieder im Ring stand, ließ sich Lyle nicht einschüchtern, startete offensiv und erzielte bereits in der ersten Runde einen Niederschlag. Foreman kam jedoch wieder auf die Beine, fand in den Kampf zurück und revanchierte sich mit einem Niederschlag noch in derselben Runde. Als Lyle dann zwei Sekunden vor dem Pausengong seinen Gegner ein zweites Mal auf die Bretter schickte, lag eine Sensation in der Luft.

Nach einer der spektakulärsten Auftaktrunden, die man im Schwergewicht je erlebt hatte, schenkten die Kontrahenten einander auch in der Folge nichts. Im fünften Runde war es wiederum Lyle, der einen vorzeitigen Sieg in Händen zu halten schien, doch verausgabte er sich bei seinen furiosen Angriffen so sehr, daß er gegen Ende der Runde selbst am Boden landete, wo er ausgezählt wurde. Das Ring Magazine kürte diese Auseinandersetzung zum "Kampf des Jahres", da es in einem Duell zweier Boxer mit gewaltiger Schlagwirkung nicht wie in solchen Fällen üblich zu einem von übergroßer Vorsicht geprägten taktischen Gefecht, sondern von Beginn an zum offenen Schlagabtausch gekommen war.

Noch im selben Jahr traf Lyle ein zweites Mal auf den technisch hochklassigen Jimmy Young, der wiederum die Oberhand behielt. Zwar besiegte Ron Lyle in der Folge noch den Briten Joe Bugner, doch konnte er zunehmend weniger an die Leistungen seiner früheren Auftritte anknüpfen. So verlor er 1979 gegen den völlig unbekannten Lynn Ball vorzeitig und erklärte nach einer weiteren schnellen Niederlage gegen den aufstrebenden Hoffnungsträger Gerry Cooney 1980 seine Karriere für beendet. Im Alter von 54 Jahren kehrte er zu einem späten Comeback in den Ring zurück und bestritt 1995 vier weitere Kämpfe gegen weithin unbekannte Gegner, die er alle in wenigen Runden besiegte. Als sich jedoch seine Hoffnungen auf eine Revanche gegen George Foreman zerschlugen, hängte er noch im selben Jahr mit einer Bilanz von 43 Siegen, sieben Niederlagen und einem Unentschieden die Boxhandschuhe endgültig an den Nagel.

Nach seiner aktiven Zeit arbeitete Lyle in seiner Heimatstadt Denver als Trainer, wo er unter anderem den späteren Weltergewichtschampion Victor Ortiz betreute. Am 26. November 2011 starb Ron Lyle in Denver. "Eine weitere große Eiche ist gefallen", sagte George Foreman, als er vom Tod seines ehemaligen Gegners erfuhr. "Ich werde ihn vermissen."

27. November 2011