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MELDUNG/1599: Unter dem Deckmantel fortgesetzter Protektion (SB)




WBC beschenkt Anthony Joshua mit einem guten Ranglistenplatz

Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt gewann Chris Finnegan Gold für die britische Staffel. Danach begann eine lange Durststrecke, die von internem Gezänk, chronischem Geldmangel und der frühzeitigen Abwanderung der besten Amateurboxer zu den Profis gekennzeichnet war. Erst 32 Jahre nach Finnegan gelang es Audley Harrison 2000 in Sydney, wieder eine olympische Goldmedaille zu erkämpfen. Als Olympiaheld gefeiert und mit Vorschußlorbeeren überhäuft, sah man in ihm bereits den langersehnten britischen Schwergewichtsweltmeister, und da er zugleich gebildet und eloquent war, einen erfolgreichen Moderator bei der BBC. Der Bürde dieser Erwartungen war Harrison nicht gewachsen, und so mündete seine Profilaufbahn nach guten Anfängen in ein tragisches Desaster.

Vier Jahre nach Harrisons Olympiasieg stieg Amir Khan dank seiner Silbermedaille bei den Spielen 2004 in Athen zum Sportidol einer ganzen Nation und als Enkel pakistanischer Einwanderer zum Symbol leistungsgestützter Integration auf, die angeblich allen Bürgern gleichermaßen offensteht. Promoter Frank Warren überzeugte ihn von einem raschen Wechsel ins Profilager, wo es Khan bis zum Weltmeister im Halbweltergewicht brachte. Wenngleich er seinen Titel längst verloren hat, zählt er nach wie vor zu den populärsten Sportlern des Landes und versucht derzeit abermals vergeblich, einen Kampf gegen den US-Superstar Floyd Mayweather zu bekommen.

Die Olympischen Spiele 2012 in London brachten mit Anthony Joshua, der Gold im Superschwergewicht gewann, einen weiteren vielbejubelten britischen Helden hervor. Vor allem ausländische Kritiker waren allerdings der Ansicht, daß Joshua ohne parteiische Punktrichter wenigsten zwei seiner vier Kämpfe, wenn nicht gar sämtliche Auftritte verloren hätte. Viele Experten zogen die Wertungen zum Auftakt gegen den Kubaner Erislandy Savon und im Finale gegen den Italiener Roberto Cammarelle in Zweifel, und einige meinten sogar, daß auch Zhilei Zhang und Ivan Dychko übel mitgespielt worden sei.

Die britische Fangemeinde und Öffentlichkeit focht das jedoch nicht an, und so wurde Anthony Joshua nach seinem Wechsel zu Matchroom ins Profilager im Oktober 2013 als künftiger Schwergewichtsweltmeister gehandelt. Seither hat der 1,98 m große Publikumsliebling zehn Kämpfe jeweils binnen weniger Runden gewonnen und wurde dafür vom Verband WBC jüngst mit dem achten Ranglistenplatz belohnt. Das ist nicht nur erstaunlich, wenn man Joshuas bisherige Gegner in Betracht zieht, die allenfalls zweitklassig waren. Noch verwunderlicher mutet an, daß der 25jährige Brite damit vor Andy Ruiz (9), Manuel Charr (10), Carlos Takam (12), Chris Arreola (13), Tony Thompson (14) und Odlanier Solis (15) rangiert, von denen ihn kaum einer ungeschoren davonkommen lassen würde.

Sollte Joshua weiter auf diese Weise protegiert werden, könnte er womöglich bereits 2016 als Pflichtherausforderer einen Titelkampf und unter Umständen sogar schon in diesem Jahr dank der Gunst eines Weltmeisters die Chance bekommen, sich einen Gürtel aus der Nähe anzusehen. Sein Promoter Eddie Hearn weiß andererseits nur zu gut, daß sein Schwergewichtler noch längst nicht reif für solche Abenteuer ist, zumal er bislang mit keinem einzigen hochklassigen Gegner im Ring gestanden hat. Deshalb hat Hearn für 2015 Kämpfe im nationalen Umfeld gegen Tyson Fury, Dereck Chisora und David Price ins Gespräch gebracht, wobei sich allerdings die Frage der Finanzierung stellt.

Am 31. Januar steht Anthony Joshua in der Londoner 02 Arena insofern die erste echte Bewährungsprobe bevor, als er auf den Veteranen Kevin Johnson trifft, der noch nie vorzeitig verloren hat. Vor sechs Jahren nötigte der US-Amerikaner Vitali Klitschko einen Gang über volle zwölf Runden ab, indem er zwar so gut wie nie angriff, jedoch seine Defensivkünste zur vollen Entfaltung brachte. Auch Tyson Fury und Dereck Chisora hatten ihre Probleme mit diesem Überlebenskünstler, den sie nicht zu fassen bekamen. Da Johnson in jüngerer Zeit nicht mehr in der körperlichen Verfassung ist, einen athletischen und konditionell starken Gegner zu besiegen, dürfte Joshua diesen Kampf gewinnen. Die Frage ist nur, ob ihm ein weiterer vorzeitiger Sieg gelingt oder Johnson abermals in der Lage ist, auf den Beinen zu bleiben und die hochgelobte Schlagwirkung des Jungstars zu entzaubern. [1]

Unterdessen hat sich der mittlerweile 43jährige Audley Harrison wieder zu Wort gemeldet, der seit der Niederlage in der ersten Runde gegen Deontay Wilder im April 2013 nicht mehr im Ring gestanden hat. Wie so oft in der Vergangenheit läßt es Harrison auch diesmal nicht bei einer Rücktrittserklärung bewenden, sondern will in diesem Jahr doch wieder boxen, am liebsten gegen Anthony Joshua. Er wolle sich wieder in Form bringen und prüfen, wozu er noch in der Lage sei, so Harrison, der sich neben Joshua auch Dereck Chisora als Gegner vorstellen kann.

Chisora könnte nach seiner desaströsen Niederlage gegen Tyson Fury einen schnellen Sieg gebrauchen, der gegen Harrison nie auszuschließen ist. Dieser wurde nicht nur von Deontay Wilder, sondern zuvor auch David Haye und David Price recht schnell auf die Bretter geschickt.

Auch Eddie Hearn hat Harrison als mögliche Option erwähnt, wobei offen bleibt, wie ernst es ihm damit ist. Viel zu gewinnen gäbe es dabei für Anthony Joshua nicht, da er sich im Falle eines schnellen Sieges lediglich in die Schar seiner Vorgänger einreihen würde, denen das ebenfalls gelungen ist. Zudem ist nicht zu unterschätzen, daß Harrison flüssiger boxt als der steife Jungstar und recht kräftig schlagen kann. Dieser hat sich bislang nur gegen kleinere Gegner durchgesetzt, die ihn mit ihren Schlägen kaum erreichen konnten. Audley Harrison ist hingegen hoch gewachsen und könnte Treffer landen, die Joshuas bislang ungeprüfte Nehmerqualitäten ernsthaft auf die Probe stellen. [2]


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/01/anthony-joshua-now-ranked-8-by-wbc/#more-186239

[2] http://www.boxingnews24.com/2015/01/audley-harrison-wants-joshua-or-chisora-fights/#more-186244

6. Januar 2015


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