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MELDUNG/2032: Amateurweltverband bei Olympia erneut im Zwielicht (SB)



Drei krasse Fehlurteile beim Boxturnier in Rio

Angesichts heftiger Kritik an drei krassen Fehlurteilen im Boxturnier der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro hat der Amateurweltverband (AIBA) Konsequenzen gezogen. Zum einen wurde der Exekutivdirektor Karim Bouzidi aus Algerien seines Amtes enthoben und durch den Präsidenten des europäischen Verbandes, Franco Falcinelli aus Italien, ersetzt, der die Aufsicht über die verbliebenen Tage der Wettbewerbe übernahm. Zum anderen wurden mehrere namentlich nicht genannte Referees oder Punktrichter nach Hause geschickt.

Was war geschehen? Wenngleich man bei einem engen Kampfverlauf natürlich geteilter Meinung sein kann und oftmals je nach bevorzugter Stilrichtung oder schlichtweg Sympathie auch sein wird, fielen drei Ergebnisse völlig aus dem Rahmen. So schien der Kasache Wassilij Levit im Finale des Schwergewichts alle drei Runden zu dominieren, doch wurde der Russe Jewgenij Tischenko von den drei Punktrichtern jeweils mit einer Wertung von 29:28 zum Gewinner der Goldmedaille erklärt. Am folgenden Tag siegte im Viertelfinale des Halbweltergewichts der Usbeke Fazliddin Gaibnazarow mit 29:28, 29:28 und 28:29 gegen den US-Amerikaner Gary Antuanne Russell, obgleich ihn dieser in der zweiten und dritten Runde unablässig mit Schlägen eingedeckt wurde, während der Ringrichter Gaibnazarow mehrfach ermahnte, nicht wegzulaufen, sondern zu boxen. Zudem setzte sich im Viertelfinale des Bantamgewichts der Russe Wladimir Nikitin mit dreimal 29:28 gegen den Iren Michael Conlan durch, wiewohl dieser eindeutig die Oberhand gehabt hatte.

Der überraschend gescheiterte Ire war derart aufgebracht, daß er nach Verkündung des Urteils im Ring herumrannte, sich das Trikot vom Leib riß und den Punktrichtern den gestreckten Mittelfinger zeigte. Er beschimpfte die AIBA als einen Haufen dreckiger Bastarde, der vom Kern bis hinauf zur Spitze stinke. Er werde nie wieder für diesen Verband antreten, verkündete der amtierende Weltmeister erbost. Später ließ er sich sogar dazu hinreißen, in den sozialen Medien den russischen Präsidenten Wladimir Putin der Bestechung des Kampfgerichts zu bezichtigen. [1]

Das womöglich noch krassere Fehlurteil im Falle Wassilij Levins hatte kaum Wellen geschlagen. Obgleich er allen Grund dazu gehabt hätte, den Protest in eigener Sache anzuführen, beruhigte der Kasache sogar das empörte Publikum. Erst Michael Conlans Ausfälle gerieten zu einem Katalysator der Vorwürfe gegen die AIBA, deren Vertreter vor Ort zunächst überhaupt nicht zu verstehen schienen, was an der Arbeit ihrer Kampfrichter auszusetzen sei. [2]

Sichtlich bemüht, den Scherbenhaufen notdürftig zu kitten, erklärte die AIBA am folgenden Tag in einer Stellungnahme, daß die Olympischen Spiele, deren fester Bestandteil das Boxen seit 1904 sei, den Höhepunkt aller Sportereignisse darstellten. In Rio de Janeiro habe die AIBA bislang mehr als 250 Kämpfe durchgeführt, bleibe dem Fair play uneingeschränkt verpflichtet und strebe stets danach, bestmöglich im Interesse der Boxer zu handeln. Die nun getroffenen Entscheidungen unterstrichen, daß die AIBA ihrer Verantwortung voll und ganz nachkomme und weiterhin gleiche Bedingungen im Ring und einen transparenten Sport gewährleisten werde. Es sei von höchstem Interesse, den Boxsport wie auch die Referees und Punktrichter zu schützen, deren Integrität in Frage gestellt worden sei.

Das Kind war jedoch längst in den Brunnen gefallen. Wladimir Nikitin, der dank seines umstrittenen Sieges ins Halbfinale einzog, wo er auf den US-Amerikaner Shakur Stevenson treffen sollte, kann in Folge der Prügel, die er von Conlin bezog, nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Damit zieht Stevenson sofort ins Finale ein, wo ihn der Kubaner Robeisy Ramirez erwartet. Sollte sich Stevenson durchsetzen, wäre er der erste männliche Olympiasieger der US-Boxstaffel, seit Andre Ward 2004 in Athen Gold im Halbschwergewicht gewonnen hat.

Angesichts dieser neuerlichen Turbulenzen im olympischen Amateurboxen, das den aus seiner oftmals anrüchigen Vergangenheit herrührenden Makel dubioser Praktiken nie ganz losgeworden ist, erinnert man sich nicht nur in den USA augenblicklich an Roy Jones. Dieser hatte 1988 in Seoul seinen koreanischen Gegner Park Si-hun im Finale klar dominiert, mußte sich aber nach einem eklatanten Fehlurteil mit Silber zufriedengeben. Obgleich alle Welt - mit Ausnahme der Südkoreaner - dies als dreiste Manipulation zugunsten des Lokalmatadors geißelte, enthielt sich Jones einer heftigen Reaktion vor Ort. Er kehrte dem Amateurlager den Rücken und stieg zu einem der erfolgreichsten Profiboxer seiner Zeit auf. Die drei beteiligten Punktrichter wurden von der AIBA suspendiert, doch bereits sechs Monate später klammheimlich wieder eingesetzt. Die Skandale blieben ohne Konsequenzen: Mindestens acht nachgewiesene Betrugsurteile, der Sitzstreik eines Koreaners im Ring und das Verprügeln des neuseeländischen Ringrichters Keith Walker, der unter Polizeischutz nach Hause fliegen mußte. Nach einer neun Jahre lang verschleppten internen Untersuchung erklärte der Weltverband 1997, es seien keine Beweise für Korruption im Boxturnier von Seoul gefunden worden.

Im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte gab es immer wieder Versuche, die Arbeit der Punktrichter zu optimieren und sie resistent gegen Bestechungsversuche zu machen. Der Auswahlprozeß vor den Olympischen Spielen in Rio war komplex und sollte dank sorgsamer Prüfverfahren verhindern, daß inkompetente oder fragwürdige Kandidaten in wessen Interesse auch immer eingeschleust werden konnten. Die schließlich ausgewählten Frauen und Männer, deren Identität geheimgehalten wurde, wußten bis zuletzt nicht, bei welchem Kampf sie zum Einsatz kommen würden. So wasserdicht das Verfahren auf den ersten Blick wirken mag, drängt sich doch im Lichte der aktuellen Ereignisse der Verdacht auf, daß auch dieses System ausgehebelt werden kann.

Es wäre nicht das erste Mal. Seit 1992 in Barcelona existierte im olympischen Amateurboxen die offene Wertung, bei der mindestens drei von fünf Punktrichtern innerhalb einer Sekunde einen Knopf drücken mußten, damit ein Treffer in die Wertung einging. Doch wer gehofft hatte, daß bei diesem Verfahren nicht mehr betrogen werden könne, sah sich getäuscht. So kam es auch bei den Wettkämpfen in Peking 2008 zu einer Häufung höchst umstrittener Entscheidungen der Punktrichter. Wie der rumänische Verbandschef Rudel Obrejawar, der seit 2007 Vizepräsident der AIBA gewesen war, damals behauptete, mißachteten Offizielle die per Computer erfolgte Zufallsauswahl der fünf Punktrichter und des Referees. Die ausgewählten Personen seien im Nachhinein ausgetauscht worden, um so die Bewertung der Wettkämpfe zu beeinflussen. Verantwortlich für diese Manipulationen sei Ho Kim, Exekutiv-Direktor der AIBA und technischer Verantwortlicher des Olympia-Turniers. Bei diesem Treiben lasse ihn sein südkoreanischer Landsmann Ching-Kuo, Weltpräsident der Amateurboxer, gewähren.

Während Obreja diese schweren Vorwürfe erhob, tauchte plötzlich der von ihm beschuldigte Ho Kim auf. Ein Wort gab das andere, bis die beiden einander wütend anbrüllten und sich gegenseitig Lügner und Betrüger nannten. Nachdem Obreja für den Eklat gesorgt hatte, ließ sich die restliche Verbandsführung nicht lumpen, suspendierte ihn wegen des "möglichen Versuchs der Manipulation" und leitete eine Ermittlung der Disziplinarkommission gegen ihn ein, da er angeblich schon länger unter Verdacht stehe.

Völlig schleierhaft blieb unter diesen Umständen, wer die in Aussicht gestellte unabhängige Überprüfung der Vorfälle glaubwürdig durchführen sollte. Schon etliche Jahre zuvor hatte ein Gericht geurteilt, daß es keine Verleumdung und daher statthaft sei, die AIBA als korruptesten Verband der Welt zu bezeichnen. Nach den Olympischen Spielen in Peking mußte man befürchten, daß sich allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz an diesen Verhältnissen nichts geändert hatte. Was Rio de Janeiro betrifft, steht ein Fazit noch aus.


Fußnoten:

[1] http://www.espn.com/olympics/summer/boxing/story/_/id/17340318/aiba-reassigns-executive-director-karim-bouzidi-rio-controversies

[2] http://www.espn.com/olympics/story/_/id/17335762/vassiliy-levit-michael-conlan-decisions-worst-olympic-boxing-roy-jones

20. August 2016


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