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PROFI/610: Enttäuschung auf ganzer Linie (SB)



Billy Joe Saunders besiegt Andy Lee umstritten nach Punkten

Billy Joe Saunders ist neuer WBO-Weltmeister im Mittelgewicht. Der Brite setzte sich in der Manchester Arena umstritten nach Punkten gegen den Titelverteidiger Andy Lee aus Irland durch (113:113, 114:112, 115:111). Namhafte Experten sprachen von einem enttäuschenden Kampf und einem fragwürdigen Ergebnis, da ein knapper Erfolg des Iren oder ein Unentschieden angemessener gewesen wäre. Während der 26jährige Saunders nunmehr in 23 Kämpfen ungeschlagen ist, stehen für den fünf Jahre älteren Lee 34 Siege, drei Niederlagen sowie ein Unentschieden zu Buche.

Den einzigen Höhepunkt des in England mit großer Spannung erwarteten Duells zweier Rivalen aus Familienclans von Travellern bot die dritte Runde, als der Herausforderer den Iren zweimal mit Kontern zu Boden schickte. Obgleich sich ihm die Gelegenheit bot, ein vorzeitiges Ende herbeizuführen, machte Saunders keine Anstalten, entschieden nachzusetzen. Statt dessen hielt er für die gesamte verbliebene Dauer des Kampfs Abstand und boxte aus der Distanz, als fürchte er nichts mehr als ein Echo aus den Händen Lees. Ein Akteur, der acht Runden lang vor seinem Gegner weggelaufen und kein Risiko mehr eingegangen ist, sollte nicht mit dem Titel belohnt werden.

Auch Andy Lee trug durch eine wenig attraktive und kaum nachvollziehbare Kampfesweise zu seiner Niederlage bei. Wenngleich er von der vierten Runde an der aktivere Boxer war und Saunders mitunter in Schwierigkeiten brachte, ließ er doch den notwendigen Drang vermissen, das Blatt zügig zu wenden und den Briten in die Enge zu treiben. Statt dessen arbeitete er vor allem mit dem Jab, als liege er in Führung und müsse den Sieg nur noch sicher nach Hause boxen. Dabei hätte ihm hätte klar sein müssen, daß er in Manchester nur mit einer spektakulären Leistung gewinnen konnte.

Warum sein Trainer Adam Booth offenbar der Meinung war, man könne den Kampf trotz der beiden Niederschläge auf diese Weise zu eigenen Gunsten entscheiden, bleibt sein Geheimnis. Nichts deutete darauf hin, daß er seinen Schützling mit aller Macht angespornt hätte, Saunders zu jagen und zu stellen. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß Lees früherer Trainer, der verstorbene Emanuel Steward, seinem Boxer die Hölle heiß gemacht und ihm nicht erlaubt hätte, acht Runden lang mit dem Jab nach dem flüchtigen Kontrahenten zu stochern.

Wie schon bei dem ebenfalls umstrittenen Punktsieg gegen seinen Landsmann Chris Eubank jun. plagten Saunders auch diesmal mit zunehmender Kampfdauer erhebliche Konditionsprobleme. Von der dritten Runde an ließ er jede Initiative vermissen, das Tempo anzuziehen oder wenigstens phasenweise in die Offensive zu gehen. Er wirkte schließlich so müde, daß er in der zwölften Runde nur noch klammerte, sobald Lee geschlagen hatte, und gar nicht erst versuchte, sich zu revanchieren. Möglicherweise fällt es ihm sehr schwer, das geforderte Gewicht auf die Waage zu bringen, so daß er für das notwendige Abkochen dann am folgenden Tag einen hohen konditionellen Preis im Ring zahlen muß. [1]

Andy Lee hatte im vergangenen Jahr gegen John Jackson und Matt Korobow jeweils nach Punkten im Rückstand gelegen, als er mit seinem gefährlichen rechten Haken das Blatt überraschend wenden konnte. Auch bei seinem Kampf gegen Peter Quillin im April, der unentschieden endete, hatte der Ire frühzeitig am Boden gelegen und bei den Punktrichtern geraume Zeit wenig Eindruck gemacht, bis er den US-Amerikaner seinerseits auf die Bretter schickte und in den letzten Runden schwer bedrängte. Diese Strategie lief jedoch gegen Billy Joe Saunders ins Leere, der schlichtweg nicht mehr angriff und Lee folglich keine Gelegenheit gab, ihn auszukontern. Die Angst des Briten vor den Schlägen des Iren und dessen Unvermögen, einen ständig flüchtenden Gegner zu stellen, paarten sich an diesem Abend in Manchester zu einem insgesamt traurigen Ereignis.

Wie Saunders im anschließenden Interview immerhin einräumte, habe Lee sowohl gegen Matt Korobow als auch Peter Quillin das Blatt gewendet. Er selbst habe ebenfalls gespürt, wie gefährlich der Ire sein kann, als dieser sich nach den beiden Niederschlägen mit einem Treffer revanchierte. Das habe ihn gewarnt, nicht denselben Fehler wie Korobow zu machen, sondern sich aufs Boxen zu besinnen. Ansonsten war der Brite jedoch voll des Lobes über seine eigene Leistung und verkündete vollmundig, er sei nun Weltmeister und fürchte niemanden. Er habe mit Andy Lee einen sehr guten Champion besiegt, indem er dessen Schlagwirkung gegen ihn kehren konnte.

Er habe bemerkt, daß Lee seine Führhand zu tief hielt, und ihn mit einem blitzschnellen Haken erwischt. Wenngleich er gewiß nicht der am härtesten zuschlagende Boxer der Welt sei, habe er doch bewiesen, daß er wirkungsvoll treffen könne. Ohne sich selber rühmen zu wollen, könne er doch sagen, daß auch der zweite Niederschlag sehenswert gewesen sei. Wie er bei allem Respekt für Lee doch schon immer betont habe, müsse man nur die Führhand des Iren neutralisieren, um ihn locker besiegen zu können. Einige seiner Vorgänger seien einfach nur etwas zu leichtsinnig im Kampf mit Andy Lee geworden. [2]

Wenn Billy Joe Saunders auch noch darauf beharrt, daß seine Dauerflucht vor dem Gegner Ausdruck einer überlegenen taktischen Marschroute gewesen sei, muß man um so mehr von einer Enttäuschung für das gesamte Mittelgewicht sprechen. Saunders hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, daß er nicht gegen Gennadi Golowkin antreten wird. Als der Brite nach seinem Sieg gefragt wurde, gegen wen er künftig kämpfen wolle, fiel Golowkins Name nicht. Daher wird der Kasache vorerst keine Gelegenheit bekommen, seine Gürtelsammlung um die Trophäe der WBO zu ergänzen. Daß er Saunders leichterdings zur Strecke bringen würde, dürfte außer Frage stehen.

Saunders Promoter brachte statt dessen eine Revanche gegen Chris Eubank zur Sprache, die jedoch insofern wenig Sinn macht, als dieser Pflichtherausforderer des regulären WBA-Weltmeisters Daniel Jacobs ist. Jacobs, der seinen Titel vor zwei Wochen erfolgreich gegen Peter Quillin verteidigt hat, verfolgte als Gastexperte des Senders Showtime den Kampf in Manchester vor Ort. Er zeigte sich von beiden Akteuren unbeeindruckt und äußerte sich sehr zurückhaltend, was einen möglichen Kampf gegen Saunders betrifft. Zum einen könne er nicht nachvollziehen, daß der als gefürchteter Kämpfer angekündigte Ire nach den beiden Niederschlägen so wenig Feuer entfacht habe und statt dessen auf Nummer Sicher gegangen sei. Zum anderen gratuliere er Saunders zum Sieg, der freilich nicht gerade eindrucksvoll gewesen sei. [3]

Mit Saunders kann der New Yorker wenig anfangen, da der Brite in den USA ein unbeschriebenes Blatt ist und nun auch noch den Titel auf eine unrühmliche Weise gewonnen hat. Wie Jacobs erklärte, wolle er zunächst in aller Ruhe mit seinem Team beraten, was Sinn macht. Nach der Niederlage Andy Lees kann der WBO-Titel den US-Amerikaner nicht mehr interessieren, zumal umgekehrt auch Saunders keine Lust haben dürfte, die frisch gewonnene Trophäe gleich wieder an Jacobs zu verlieren. Man kann wohl davon ausgehen, daß der neue WBO-Weltmeister seinen Gürtel solange wie möglich gegen nicht allzu gefährliche Kandidaten aus den Top 15 dieses Verbands verteidigen wird, um seinen Titel zu melken.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/12/saunders-defeats-lee-by-controversial-decision/#more-203505

[2] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/14401768/billy-joe-saunders-claims-first-world-title-majority-decision-middleweight-titlist-andy-lee

[3] http://www.boxingnews24.com/2015/12/jacobs-not-impressed-with-saunders-or-lee/#more-203509

20. Dezember 2015


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