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PROFI/657: Wahnsinn in Wembley (SB)



Anthony Joshua und Wladimir Klitschko geben glänzende Gala

Vor der Rekordkulisse von 90.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion haben Anthony Joshua und Wladimir Klitschko nicht nur sehr viel Geld verdient, sondern auch einen der besten Schwergewichtskämpfe seit Jahren über die Bühne gebracht. Allen Vorbehalten zum Trotz, das Spektakel werde die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllen, lieferten die Kontrahenten einander ein spannendes und unnachgiebiges Duell auf Augenhöhe. Wenngleich sich der 41jährige Ukrainer in der elften Runde geschlagen geben mußte, kämpfte er gegen den vierzehn Jahre jüngeren Briten doch wie in seinen besten Zeiten und war nach Einschätzung diverser Experten sogar der versiertere Akteur.

Die beeindruckende Vorstellung begeisterte ein Millionenpublikum an den Bildschirmen. In England meldete Sky Box Office einen neuen Pay-per-View-Rekord, weltweit wurde der Kampf in 130 Länder übertragen. In den USA hatten sich die rivalisierenden Sender HBO, der die Exklusivrechte an der dortigen Übertragung Joshuas besitzt, und Showtime, an den Klitschko vertraglich verbunden ist, zu einer höchst seltenen Kooperation zusammengeauft. "Ich denke, wir haben heute einen unglaublichen Kampf gesehen", zog Joshuas Promoter Eddie Hearn Bilanz, den man wohl als den eigentlicher Gewinner dieses denkwürdigen Abends bezeichnen kann. Wenngleich es ein Risiko gewesen sei, könne er darauf vertrauen, daß Anthony stets halte, was er verspricht. Zugleich ist Hearn natürlich bewußt, daß ein hervorragender Gegner erforderlich ist, um ein solches Zeichen zu setzen. Joshua habe den besten Wladimir Klitschko geschlagen, den man seit vielen Jahren gesehen habe, zollte der 37jährige Promoter auch dem Widerpart Respekt. Die Einnahmen, die der Kampf generiert hat, werden auf mehr als 50 Millionen Euro geschätzt. [1]

Der in 19 Kämpfen ungeschlagene Anthony Joshua war zuvor bereits Weltmeister des Verbands IBF und hat den vakanten Titel der WBA hinzugewonnen. Er kann nun eine Vormachtstellung im Schwergewicht für sich reklamieren, die ihm viele Türen öffnet und es seinem Promoter erlaubt, in künftigen Verhandlungen die Bedingungen zu stellen. Wladimir Klitschko, der 64 Auftritte gewonnen und fünf verloren hat, mußte nach dem Scheitern an Tyson Fury im November 2015 die zweite Niederlage in Folge hinnehmen. Er hat jedoch angesichts seiner bemerkenswerten Vorstellung den ramponierten Ruf aufpoliert und an Sympathien gewonnen. Daß die Punktrichter zum Zeitpunkt des Abbruchs mit 96:93, 95:93 und 93:95 einen knappen Vorsprung für Joshua notiert hatten, legt nahe, daß der Ukrainer auf diesem Weg nicht gewonnen hätte. Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob diese Wertung dem Kampfverlauf gerecht geworden wäre.

Joshua schickte den Gegner in der fünften Runde zu Boden, doch Klitschko kam wieder auf die Beine und revanchierte sich im folgenden Durchgang seinerseits mit einem Niederschlag. Will man von einem entscheidenden Fehler des Ukrainers sprechen, so war dies zweifellos das Versäumnis, dem Briten in dieser Phase rückhaltlos nachzusetzen. Dieser wirkte nicht nur schwer angeschlagen, sondern auch sehr müde, als sei er konditionell am Ende. Wie Klitschko später einräumte, habe ihn wohl die Vorstellung geritten, er könne den restlichen Kampf unangefochten dominieren und sich auf ganzer Linie als der überlegene Boxer präsentieren. Auf diese Weise ließ er dem Briten Luft, sich wieder zu erholen und schließlich in der elften Runde die Entscheidung zu erzwingen. Zweimal mußte Klitschko zu Boden gehen, zweimal stand er wieder auf. Daraufhin deckte ihn Joshua solange mit schweren Schlägen ein, bis Ringrichter David Fields einschritt und den Kampf nach 2:25 Minuten dieser Runde für beendet erklärte.

Wenngleich die Euphorie im Lager Joshuas keine Grenzen kannte und die britische Fangemeinde verständlicherweise ihren Favoriten in den Himmel hob, hatte Klitschko doch die Grenzen seines wesentlich jüngeren Gegners aufgezeigt. Der an einen Bodybuilder erinnernde Brite ist mit einem gewaltigen Muskelpanzer befrachtet, der seine Beweglichkeit und Schnelligkeit erheblich einschränkt. Er boxt relativ langsam und phasenweise sogar lethargisch, vor allem aber geht ihm nach wenigen Runden die Luft aus. Klitschko versetzte dem Briten von der vierten bis zur siebten Runde schwere Treffer und war insgesamt gesehen der agilere Akteur. Hätte er mit unerbittlicher Entschiedenheit nachgelegt, statt auf Nummer Sicher zu gehen, stünde er nun wieder auf dem Gipfel der Königsklasse. [2]

Wie Klitschko auf der anschließenden Pressekonferenz erklärte, wolle er in diesem Augenblick noch keine Entscheidung über seine nächsten Schritte treffen, sondern in aller Ruhe darüber nachdenken. Da er jedoch eine Rückkampfklausel im Vertrag erwähnte, darf man wohl davon ausgehen, daß er letzten Endes davon Gebrauch machen wird. Joshua sofort ein zweites Mal vor die Fäuste zu bekommen ist eine Option, die von keiner anderen in den Schatten gestellt würde. Nirgendwo sonst könnte der Ukrainer noch einmal so viel Geld verdienen, nirgendwo sonst hätte er einen Titelgewinn so greifbar nahe vor Augen. Selbst wenn der Brite versuchen sollte, sein Gewicht zu reduzieren und die Kondition zu verbessern, würde ihm das binnen einiger Monate nicht in entscheidendem Maße gelingen. Davon abgesehen dürfte Joshua derart auf die Schiene festgelegt sein, mit seiner schieren Masse den Gegner zu bedrängen und niederzuwalzen, daß er inzwischen kaum noch anders kämpfen könnte.

Natürlich kann man nicht ausschließen, daß Klitschko eine einmalige letzte Sternstunde gelungen ist, an die er im Falle einer Revanche kaum mehr herankommen würde. Andererseits sollte er erfahren genug sein, um Joshuas Schwächen zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Während der Brite im wesentlichen so geboxt hat, wie es zu erwarten war, stehen dem Ukrainer mehr Möglichkeiten offen, seine Kampfesweise noch zu verändern. Eddie Hearn weiß zweifellos um diese Gefahr und brachte denn auch Tyson Fury, Deontay Wilder und Joseph Parker als mögliche Gegner ins Spiel. Am liebsten wäre ihm wohl Fury, mit dem sich in England enorme Einkünfte erzielen ließen, obgleich er eine relativ leichte Beute für Joshua wäre. Da jedoch in den Sternen steht, wann Tyson Fury wieder eine Lizenz bekommt und sich in eine angemessene körperliche Verfassung bringt, ist diese Option sehr unwahrscheinlich. [3]

Hearn, der Joshua nach dessen Olympiagold 2012 in London unter Vertrag genommen hatte, sorgte mit handverlesenen Gegnern und einem nie versiegenden Werbefeldzug voll glänzender Zukunftsaussichten dafür, den jungen Schwergewichtler zu einem der erfolgreichsten und beliebtesten britischen Boxer aufzubauen. Wenn er ihn nun zum neuen Superstar der gesamten Branche erklärt, leistet er ausgezeichnete Arbeit als Promoter, der mit Worten und Taten dafür sorgt, daß ihr Ruhm wächst und ihre Taschen gefüllt sind. Mit einer fundierten Einschätzung darf man solche Aussagen aber nicht verwechseln, wobei vieles dafür spricht, daß der Promoter die Grenzen seines Schützlings nur zu genau kennt. Er sorgt gerade deswegen dafür, daß der Erfolg nicht ausbleibt, für sich selbst spricht und alle kritischen Einwände aus dem Feld schlägt. [4]

Wird die Revanche noch in diesem Jahr stattfinden? Es gehe nicht um Kleingeld, rät Henry Maske dazu, die Rückkampfklausel wahrzunehmen. Er könnte es Wladimir nicht übelnehmen, wenn er diesen Zahltag noch einmal mitnimmt. Das sei sein gutes Recht, und er könne dabei nichts verlieren. Auch Marco Huck will von einem Rücktritt des Ukrainers nichts wissen. Er hoffe sehr, daß Wladimir noch einmal zurückkommt, denn mit einer solchen Leistung, wie er sie in Wembley gezeigt habe, könne er noch ein paar Jahre weiterkämpfen. [5] Selbst auf britischer Seite ist man voll des Lobes, wie eine Aussage des früheren Weltmeisters Carl Froch unterstreicht, der selbst bei Eddie Hearn unter Vertrag gestanden und dessen Geschäftspolitik stets unterstützt hat. Klitschko habe gegen Joshua gezeigt, was für ein großartiger Boxer er ist. Der Platz in der Hall of Fame des Boxens sei ihm sicher, er sei ein stolzer Krieger, eine Legende seines Sports, so Froch.

Einen Tag nach dem "Wahnsinn von Wembley" ("Frenzy at Wembley") schien auch bei Eddie Hearn und Anthony Joshua die Einsicht zu reifen, daß es unklug wäre, sich einer Revanche von vornherein zu verweigern. "Wenn Klitschko ein Rematch will, kämpfe ich gern gegen ihn", versicherte der Weltmeister, und sein Promoter brachte das Millennium-Stadion in Cardiff als möglichen Austragungsort ins Gespräch, da man keinesfalls nach Deutschland gehen werde. Letzteres sieht Klitschkos Manager Bernd Bönte genauso, der zwar jetzt noch nicht über Austragungsorte reden wollte, aber seinerseits erklärte, daß ein Rückkampf aus finanziellen Gründen eher nicht in Deutschland stattfände. Die Ausgangssituation schreit also gewissermaßen nach einer Neuauflage dieses Kräftemessens, was freilich im Boxsport noch gar nichts besagen will.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/sport/boxen/article164149132/Henry-Maske-raet-Klitschko-zum-grossen-Zahltag.html

[2] http://www.boxingnews24.com/2017/04/anthony-joshua-vs-wladimir-klitschko-results/#more-233452

[3] http://www.boxingnews24.com/2017/04/joshua-vs-klitschko-afterwards/#more-233505

[4] http://www.boxingnews24.com/2017/04/hearn-says-joshua-biggest-star-boxing/#more-233520

[5] http://www.berliner-zeitung.de/sport/boxen-joshua-lager-rechnet-mit-rueckkampf-gegen-klitschko-26823058

1. Mai 2017


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