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SPIELE/013: Olympias gebrochene Ringe - Weinende Kinder unter Verdacht (SB)




Daß es sich beim vielbeschworenen Olympischen Geist in Wirklichkeit um einen Quälgeist handelt, lassen die oftmals an Sklavenarbeit erinnernden Trainingsmethoden erahnen, denen Sportler bereits in Kinder- und Jugendjahren unterworfen sind, damit aus ihnen einmal erfolgsträchtige Medaillenkandidaten werden. Das Elend von Trainingstorturen und Wettkampfhärte ist den Sportlerinnen und Sportlern aber nicht nur an muskulär gestählten, funktionell deformierten Körpern abzulesen, sondern steht ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben, zumal wenn sie auf den Seziertischen öffentlicher Bewertung landen. Wer in den weinenden Augen, tränenerstickten Stimmen oder gequälten Haltungen der Sportlerinnen und Sportler "rührende", "emotional bewegende" oder gar "unvergeßliche Momente" der Olympischen Spiele zu entdecken vermag, der hat den Sinn der Schweiß-, Tränen- und Blutshow durchaus verstanden, auch wenn er sie als Zeichen des Glücks, der Freude oder des sozialen Friedens mißzuinterpretieren neigt.

Daß die "Wunderkinder" der Spiele - kaum mächtig, ihr verheißenes Glück in medien- und marketingkompatible Worte zu fassen - nicht viel zu lachen haben, liegt an einem generellen Wandel der Sportberichterstattung, die dem Zeitgeist entsprechend einen kräftigen Ruck nach rechts gemacht hat und in Sarrazin-Manier den Leistungsdarwinismus noch um die rigorose Geißelung des Leistungsbetrugs erweitert hat. Sportreporter haben es sich zur vorauseilenden Pflicht gemacht, jede ungewöhnliche Leistungssteigerung wortreich mit "Mißtrauen", "Skepsis" oder "Zweifel" zu beargwöhnen. Der Generalverdacht ist allgegenwärtig, die Spaltersprache ist salonfähig geworden, die Verantwortlichen betreiben sie mit inquisitorischer Observanz: Einerseits Respektsbekundungen vor den Leistungen der Athleten, andererseits die Frage, ob es dabei "mit rechten Dingen" zugegangen sei. Sportjournalisten und Funktionäre sprechen die gleiche Sprache, auch wenn sie sich gegenseitig vorwerfen, nicht anständig und zielführend zu sein. Um sich selbst nicht der Weltfremdheit zeihen zu lassen, bezichtigen die Kommentatoren lieber die Sportler und ihr soziales Umfeld der unlauteren Machenschaften - unter Vorbehalt, denn es sei ja (noch) nichts bewiesen. Andere Variante: Mal abwarten, was da noch kommt ...

Mit der wachsenden Monstrosität einer verdachtsgetriebenen Gesellschaft, die hinter dem Dogma vom "sauberen Sport" steht, können die Leistungssportverfechter besser leben als mit den prognostizierten Sportlermonstern, die eine Freigabe von Doping angeblich erwecken würde. "Bist du eine Doperin? Eine heimliche Betrügerin? Gehörst du auch zu den Geschöpfen aus den Hexenküchen der Pharmazie?", wollen die Sportreporter von den Schwimmerinnen in London wissen, kaum daß sie spektakuläre Siege errungen oder Rekorde gebrochen haben. Doch so unverblümt zu fragen, trauen sie sich (noch) nicht. Statt dessen hintenherum: "Wie erklären Sie sich Ihren Leistungssprung?"

Ob einer bis dahin weitgehend unbekannten Brustschwimmerin wie Ruta Meilutyte bewußt war, was nach ihrem Olympiasieg auf sie einstürzen würde? Die 15jährige Litauerin, die seit rund zwei Jahren in England lebt und trainiert, war die 100 m Brust in der Fabelzeit von 1:05,47 Minuten geschwommen. "Ein verdächtiger Leistungssprung", hieß es später in der Presse. Schon im Becken kullerten ihr die Tränen. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll", stammelte sie einer BBC-Journalistin kurz nach dem Sieg auf die Frage ins Mikrofon, wie sie sich fühle. "Das ist alles zu viel für mich." Bibbernd, schluchzend und mit wackligen Knien bestieg sie später das Siegerpodest, wo der wie traumatisiert wirkenden Teenagerin von den Offiziellen eine kalte Goldplakette um den Hals gelegt wurde. Das olympische Siegerprozedere ist brutal: Im vergeblichen Versuch, emotional zu fassen, was ihnen versprochen wurde, brechen die Erfolgsdebütanten auf den Siegertreppchen reihenweise in Heulkrämpfe aus.

Die schamlose Begutachtung und Zurichtung des Athletenkörpers findet auch hinter den Kulissen statt. Wer Spitzensport betreibt, muß sich von Kontrolleuren beim Urinieren auf sein Geschlechtsteil blicken lassen. Nur Untersechzehnjährige haben die Möglichkeit, eine direkte Sichtkontrolle zu verweigern - was sie allerdings in den Augen "intelligenter Kontrolleure" verdächtig macht. Denn nur wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten, lautet das Ermächtigungsmantra für immer tiefere Eingriffe in die Privat- und Intimssphäre. Die wissenschaftlichen Sachwalter dieser Entwicklung gaben sich kürzlich - wen wundert's - in der "Bild am Sonntag" [1] ein Stelldichein. In dem Springerblatt, das vor sozialrassistischen Klischees nur so strotzt, durften die drei "Doping-Professoren" Wilhelm Schänzer (Deutsche Sporthochschule Köln), Fritz Sörgel (IBMP in Heroldsberg/Nürnberg) und Werner Franke (Deutsches Krebsforschungszentrum in Heidelberg) dem Publikum unterbreiten, was der böse Dopingsünder alles so treibt, wenn er sich unkontrolliert wähnt. Im Boulevard findet zusammen, was zusammen gehört: Hetzkampagnen gegen verdächtige Athleten, heimliche Sozialbetrüger, finstere Ausländer.

Wie Ruta Meilutyte mußte sich auch die chinesische "Wunderschwimmerin" Ye Shiwen dem obligatorischen Spießrutenlauf nach ihren Höchstleistungen stellen. Die 16jährige hatte den Weltrekord über 400-m-Lagen nicht nur um 1,02 Sekunden verbessert, sondern war auf den letzten 50 Metern Freistil in 28,93 Sekunden sogar schneller als US-Superstar Ryan Lochte geschwommen. Die Chinesin wurde von Reportern sofort einem inquisitorischen Verhör unterzogen. "Haben Sie jemals leistungssteigernde Mittel genommen? Antworten Sie nur mit Ja oder Nein!", wollte ein Reporter wissen [2]. Funktionäre aus den USA, die mit China um den ersten Platz im Medaillenspiegel streiten, prangern Ye Shiwen fast ungeschminkt als Betrügerin an. Beide Großmächte verfügen über eine ausgeprägte Dopingvergangenheit und können sich auch in puncto Dopingbekämpfung das Wasser reichen. In einigen Bereichen betreibt China sogar eine härtere Gangart gegen Doping als die USA. Strafen werden teilweise über das von der internationalen Antidopingagentur geforderte Limit hinaus verhängt, erwischte Athleten, Trainer oder Betreuer verschwinden für immer in der Versenkung. Das bevölkerungsreiche China kann es sich leisten.

Der repressive Teil der Leistungsüberwachung findet auch hierzulande positiven Anklang. Funktionäre und Politiker werden nicht müde, nach schärferen Kontrollen und härteren Gesetzen zu verlangen. Die Herrschenden sind sich hüben wie drüben einig: Solange sich die Kinder und Jugendlichen in den nationalen Kaderschmieden für den sportlichen Erfolg schinden, ist die Welt in Ordnung. Mag es im Gegensatz zu östlichen Trainingskonzeptionen in den westlichen Kaderschmieden auch Grillabende oder Spaßpädagogik geben, die Tränen, die Teenager in den Tretmühlen harter Fremddisziplinierung oder weicher Selbstoptimierung vergießen, sind die gleichen.

Fußnoten:
[1] http://www.bild.de/sport/olympia-2012-london/olympia-2012/hier-sprechen-die-doping-jaeger-25381782.bild.html

[2] http://www.welt.de/sport/olympia/article108462174/Unterstuetzung-fuer-Wunderschwimmerin-Ye-Shiwen.html

4. August 2012