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SPIELE/017: Olympias gebrochene Ringe - Deutschland muß wieder siegen lernen (SB)


Vom sportlichen Versagen zum Leistungsregime der Arbeitsgesellschaft



Die positiven bis euphorischen Bilanzierungen der Olympischen Spiele in London sind Ausdruck einer medialen Selbstreferenzialität, mit der sich Journalisten, Politiker, Sportler, Funktionäre, PR-Agenten und wer sonst noch alles Interesse am verkaufsträchtigen Imagetransfer des Spektakels hat, gegenseitig bestätigen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der wohlhabende Sporttourist den Megaevent goutieren wird, daß er sich an zuvorkommendem Service, gut ausgebauter Infrastruktur und der hermetischen Abschottung der Sportstätten gegen das Lumpenproletariat erfreut. Als Stelldichein proaktiver Eliten, die erst richtig verdienen, wenn anderen das Wasser bis zum Hals steht, weil sie Zu- und Abfluß kontrollieren, könnte Olympia nicht besser geeignet sein. Wer in einer Metropole der kapitalistischen Globalisierung für Spaß und Unterhaltung sorgt, kann sich Zustimmung und Anerkennung sicher sein, gerade weil er eine große Party veranstaltet, zu der nur die Chosen Few eingeladen sind.

Wer hingegen darunter leidet, daß in seinem Wohnviertel alles auf den Kopf gestellt wurde, daß die Mieten steigen, die Bewegungsfreiheit durch Sicherheitskontrollen und Absperrungen eingeschränkt ist, wer aufgrund zu hoher Ticketpreise keinen Zugang zu den Sportveranstaltungen hat, auch wenn er in unmittelbarer Nähe ihrer Austragsungsorte lebt, kurz gesagt wer Olympia aus der Froschperspektive des von der Walze kapitalgenerierter Produktivität Überfahrenen erlebt, gelangt zweifellos zu einem anderen Schluß. Doch wie stets in kolonialistischen Verhältnissen unterscheidet sich die Sichtweise der Eroberer und der Unterworfenen ums Ganze ihrer jeweiligen Lebensmöglichkeiten. So lange das Fest der bunten Ringe hinter militärisch überwachten und elektrisch aufgeladenen Zäunen stattfindet, wehte der olympische Geist nur in den Ventilationschächten der State-of-the-Art-Outlets für Burger und Soft Drinks, deren Marktmacht ganz unsportlich nicht durch örtliche Einzelhändler herausgefordert werden durfte.

Wo der Medaillenerfolg zu wünschen übrig läßt, hängt nicht nur der Haussegen schief, sondern wird das Schicksal aller beschworen. Die Aufregung um die angeblich zu geringe Ausbeute an Edelmetall durch die deutsche Equipe ist von einer Rhetorik der Bezichtigung bestimmt, die verständlich macht, wieso Sportler, wenn sie nur den vierten oder fünften Platz machen, unter erheblichem Rechtfertigungsdruck stehen. Sogleich wird abgehoben auf das größere Ganze, die Nation, die ja nicht nur auf dem Feld der sportlichen Ehre versagt, sondern der es ganz generell am Siegeswillen gebricht. "Wir sind das Reicht-doch-Land" kommentiert der Chefredakteur der Welt-Gruppe, Jan-Eric Peters, auf Welt Online [1] und moniert eine in Deutschland angeblich fehlende "Siegermentalität". Der "unbedingte Wille, der Beste sein zu wollen" sei die Meßlatte erfolgreichen Sports in der angloamerikanischen Welt, wo laut Peters das Motto gelte : "Winning isn't everything - it's the only thing". Wer Bronze feiere wie Gold, sorge dafür, daß sich nichts an der "Erwartungshaltung in dieser unserer Gesellschaft, die sich zu schnell zufrieden gibt" ändere. In Deutschland herrsche "kein Klima für Höchstleistungen, hier ist Erfolg fast verdächtig. Und das gilt längst nicht nur für den Sport."

Da ist er wieder, der Typus des Modernisierungsverweigerers, der Schuld hat an allem, was falsch in Deutschland läuft. Er hält an alten Gewohnheiten fest, er stellt sich dem Umbau der Gesellschaft zur Hochleistungsfabrik entgegen, er treibt sich bei der Arbeit nicht an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, sondern will einfach nur leben und es nicht allzu schlecht dabei haben. Die Leistungsträger müssen sich solchen Versagern gegenüber auch noch für ihren Erfolg rechtfertigen, was also soll aus Deutschland werden?

Bei der Antwort darauf wird gerade deshalb, weil sie altbekannt ist, nicht so gerne Klartext geredet. Eine Ausnahme macht der ehemalige Schwimmstar Roland Matthes. Er sekundiert dem Welt-Chefredakteur, indem er die Devise "Teilnehmen ist alles" als völlig kontraproduktives Motto für Sportler erklärt, von denen er ohnehin den Eindruck habe, sie seien in ein "Jungendferienlager gefahren (...) und nicht zu Olympischen Spielen". Die Bundesbürger lebten in einer "übersättigten Gesellschaft", in der keiner mehr wisse, wofür er sich überhaupt quälen solle? Siegen lernen müsse "einem im Trainingsprozess eingeimpft werden. Der eine kriegt das durch Zuckerbrot, der andere mit der Peitsche. Mir ist da jedes Mittel recht. Wenn du gewonnen hast, vergisst du die ganzen Quälereien." [2]

Aus solchem Holz sind Helden gemacht, Heroen der Selbstertüchtigung und Selbstüberwindung, mit denen nicht nur sportliche Siege einzufahren sind, sondern die, was viel wichtiger ist, den wirtschaftlichen und weltpolitischen Erfolg Deutschlands gewährleisten. So gibt es auch im System der Sportförderung nichts umsonst, wie die Zielvereinbarungen im Spitzensport belegen. Wer sich mit diesen Mitteln freistellen will für das umfassende Training, dessen es bedarf, um im Hochleistungssport ganz vorne mitzumischen, der muß auch liefern. Der Staat gibt als ideeller Gesamtkapitalist zwar ein etwas gerupftes Bild ab, seit ihn "die Märkte" vor sich hertreiben, doch auf dem Feld des sportlichen Wettkampfes kann er noch in alter Glorie zu den Fahnen rufen. Daß dies zusehends in einer Manier erfolgt, in der sich die Freiheit, von der die Kriegs- und Regierungsparteien schwadronieren, als staatliches Zwangssystem erweist, tut der Eintracht, mit der die Erfolgsträchtigkeit des Sportes unterschrieben wird, keinen Abbruch.

Zu Zucht und Ordnung gerufen wird der Mensch, der sich nicht nach der Decke an ihn gestellter Forderungen streckt, sondern eigensinnig und starrköpfig Interessen frönt, die nicht diejenigen von Staat und Kapital sind. Im Ärger darüber, einmal nicht so erfolgreich wie die anderen zu sein, kommt die Nation zu sich selbst, zu einer Not- und Schicksalsgemeinschaft des Sports, die sich in dieser Welt gegen Milliarden Menschen behaupten muß, denen es in existenzieller Hinsicht meist deutlich schlechter als dem Durchschnitt der Bundesbürger geht. Damit das so bleibt und "wir" unseren Produktivitätsvorsprung nicht einbüßen, sondern ihn auf dem Rücken der Sklavenarbeiter in den Ländern des Südens ausweiten können, müßte schon einer eisernen Disziplin der Einzug in das Lotterleben der konsumverwöhnten Bevölkerung gestattet werden.

Wer auf die Unter- und Zwischentöne in der Bilanzierung des Abschneidens der deutschen Mannschaft in London hört, der weiß, was denen, die noch nicht in die Falle ihrer Zurichtung auf nationale Ziele gegangen sind und die das Gladiatorenspektakel um Medaillen und Rekorde kalt läßt, ins Haus steht. Sozialdarwinismus pur lautet das Motto der Peitschenschwinger und Erbsenzähler. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, verkünden Sozialdemokraten mit der leichenbitteren Miene calvinistischen Erwerbszwangs, so daß man gar nicht erst zu hoffen braucht, bei einem Regierungswechsel in Berlin stünde den Habenichtsen etwas anderes zu als die Bezichtigung, es mangele ihnen nur am eigenen Willen, ihrer desolaten Lage Herr zu werden. Als sich zuletzt alles ums Siegen drehte, krochen staubgraue Menschen aus den Kellern ihrer zerbombten Häuser und gelobten voller Inbrunst "Niemals wieder". Es scheint an der Zeit zu sein, sich dieser Lektion zu erinnern.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/debatte/article108576335/Wir-sind-das-Reicht-doch-Land.html

[2] http://www.welt.de/sport/olympia/article108574417/Wir-nehmen-uns-nicht-die-Freiheit-uns-zu-quaelen.html

12. August 2012