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BERICHT/470: "Olympiaboykott nicht sinnvoll" (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 26 / 24. Juni 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

"Olympiaboykott nicht sinnvoll"
Diskussionsabend in der Trainerakademie Köln 52 Tage vor Peking

Von Hanspeter Detmer


"Im Schatten der Olympischen Ringe - 52 Tage vor den Olympischen Spielen in Peking" lautete das Motto des Diskussionsabends, zu dem die Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes, der Olympiastützpunkt Rheinland und die Deutsche Olympische Gesellschaft eingeladen hatten und zu dem rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen waren. Am Ende dieser Informationsveranstaltung in der Trainerakademie Köln herrschte weitgehend Übereinstimmung: Während der Olympischen Spiele in Beijing sollten offizielle Sportstätten, Wettkämpfe und Zeremonien keine Plattform sein für eine offizielle demonstrative Darstellung und Auseinandersetzung mit regionalen oder globalen politischen Konflikten.

Prof. Dr. Thomas Heberer vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Duisburg-Essen begründete diese Position mit 16 Thesen. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass der Tiefpunkt, den das Chinabild in den westlichen Medien im März/April erreicht hätte, nicht zufällig und keineswegs nur mit der Diskussion um die Tibet-Problematik zu tun habe. Vielmehr sei er Folge des Umschlagens des idealisierten und positiven Chinabildes der 90er Jahre in ein negatives Zerrbild, in das dann auch die Verantwortlichkeit Chinas für die jüngsten Preiserhöhungen für Nahrungsmittel, Rohstoffe und Energie auf den Weltmärkten passe. Wie überhaupt historisch betrachtet aus westlicher Sicht die Bewertung Chinas - seiner Kultur und Politik - ständig zwischen Hochschätzung und Verteufelung wechsle. Die aktuelle Negativphase sei allerdings unterbrochen worden durch die weltweite Anteilnahme an der Erdbebenkatastrophe in China.

Distanziert äußerte sich der Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Ostasien/China zur aktuellen westlichen Diskussion über Tibet. Im Westen würden wirkliche Ursachen und Hintergründe der Abläufe in Tibet nicht verstanden. Tibet sei völkerrechtlich keineswegs einfach ein besetztes Land. Zwischen 1720 und bis 1912 sei Tibet ein mit China assoziiertes Gebiet gewesen, dessen Außen- und Sicherheitspolitik in den Händen des chinesischen Kaiserhofes gelegen hätte. Ansonsten hätte sich Tibet jedoch selbst verwalten können. 1913, nach dem Ende der letzten Kaiserdynastie, habe der damalige Dalai Lama zwar die Unabhängigkeit erklärt. Aber in internationalen Verträgen und auch nicht vom Völkerbund, einem Vorläufer der Vereinten Nationen, sei Tibet als ein von China unabhängiger Staat gekennzeichnet bzw. anerkannt worden. Tibet habe sich nach 1913 in die Selbstisolation zurückgezogen und es versäumt, am Leben der internationalen Staatengemeinschaft teilzunehmen. Kein Staat der Erde habe jemals die Eigenständigkeit Tibets anerkannt.

Die Tibetfrage wird allerdings inzwischen von der internationalen Staatengemeinschaft als Menschenrechtsfrage begriffen. Was hierzulande jedoch übersehen würde, so Prof. Heberer, seien die komplexen historischen, religiösen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Ursachen. Probleme hätten nicht nur die Tibeter, sondern alle ethnischen Minderheiten Chinas, an denen die Tibeter bevölkerungsmäßig nur einen Anteil von fünf Prozent hätten. Bei Auseinandersetzungen innerhalb Chinas hätten übrigens nicht nur Tibeter ihr Leben gelassen, sondern auch Han-Chinesen und Angehörige der muslimischen Hui-Minderheit.

Zweifellos richtig sei, dass die Proteste vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele organisiert worden seien und nicht spontan waren. Gegenüber den Tibetern müsse der chinesische Staat aus seinem Selbstverständnis für die nationale Einheit jedoch konsequent handeln. Schließlich könne er nicht nur einer von insgesamt 56 ethnischen Minderheiten in China Sonderrechte zugestehen. Das würden die anderen ethnischen Gruppen in China nicht akzeptieren. Der von westlichen Medien dargestellte Tibetkonflikt reiche, so Heberer, weit über die Tibetfrage hinaus. Das hänge auch damit zusammen, dass Tibet vor allem in westlichen Medien oft als ein exotisches Gebilde angesehen und als "Mythos Tibet" idealisiert würde.

Prof. Heberer bedauerte, dass die gewaltigen Erfolge und Veränderungen Chinas im Zuge der Reformpolitik seit Ende der 70er Jahre momentan vergessen werden: Etwa der Wandel Chinas von einem totalitären Staat der Mao-Ära hin zu einem autoritären Gebilde, in dem ein größeres Maß an Pluralismus und Liberalisierung herrscht und der Maximalstaat sich gegenüber der Gesellschaft zurückgenommen habe. Inzwischen hätten in einem ehemals weitgehend bettelarmen Land mehr als 100 Mio. Menschen die Armut abgestreift. China habe sich in kurzer Zeit von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt; es sei ein Land, in dem die Dominanz des Staatssektors durch die Vorherrschaft des Privatsektors abgelöst werde; in dem sich das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung signifikant verbessert hat und in dem die Menschen größere Rechte besitzen als jemals zuvor - all dies wurde und wird derzeit übersehen.

Diese Äußerungen von Prof. Thomas Heberer deckten sich übrigens mit denen von drei investigativ arbeitenden chinesischen Journalisten, die kürzlich in Berlin und Bonn bei der Vorstellung ihres Arbeitsumfelds im Zusammenhang mit dem Olympiajahr Veränderungen in der chinesischen Politik und Gesellschaft beschrieben. China insgesamt sei medial offener und selbstkritischer geworden. Dies könne man nicht zuletzt anhand der Berichterstattung über die Erdbebenkatastrophe erkennen. Auch Prof. Heberer stellte fest: "Im Gegensatz zu den burmesischen Militärdiktatoren hat die Pekinger Führung im Zusammenhang mit der Naturkatastrophe ein großes Maß an Offenheit, Transparenz und Effektivität bewiesen und die Kooperation mit den westlichen Ländern gesucht."

Der wachsenden Selbstkritik seien jedoch Grenzen gesetzt. In Fragen der nationalen Einheit und der politischen Stabilität beuge sich China, so Heberer, keinem äußeren Druck. Im Zusammenhang mit den Protesten in den westlichen Ländern hätten sich die Chinesen im In- und Ausland weithin geschlossen hinter die politische Führung ihres Landes gestellt. Wer glaube, durch massive Proteste und Druck in China etwas verändern zu können, verkenne die reale Lage. Ergebnis dieser Proteste war eine innen- und außenpolitische Verhärtung, die sich erst allmählich wieder auflösen wird. Veränderungen in China erfordern Geduld. Zu empfehlen seien konstruktive Dialoge in Rechtsstaats- und Menschenrechtsfragen. Die politische Führung Chinas habe, so Heberer, in den letzten drei Jahrzehnten durchaus bewiesen, dass sie lernfähig ist. "Ein Boykott der Olympischen Spiele war und ist nicht sinnvoll. Durch die Proteste ist in Tibet keine neue Situation entstanden. Die jetzt kritisierten Probleme existierten auch schon vor der Vergabe der Spiele an Peking. Ein Boykott hätte in erster Linie negative Auswirkungen auf die Entwicklung Chinas. Der Eindruck vieler Chinesen, der Westen wolle Chinas Aufstieg verhindern, würde sich verstärken. Innenpolitische und außenpolitische Verhärtung wäre die Folge. Wir sollten uns darüber klar werden, dass die dringendsten Weltprobleme nicht gegen, sondern nur mit China gelöst werden können."

Was die Rolle der Sportler während der Spiele betrifft, stellte Prof. Manfred Lämmer als Olympiahistoriker vom Institut für Sportgeschichte der Deutschen Sporthochschule Köln fest: "Ein Boykott der Olympischen Spiele ist nicht nur nicht ratsam, sondern sogar laut Olympischer Charta verboten." Und Professoren-Kollege Heberer ergänzte: "Sportler können nicht nachholen, was die Politik versäumt hat. Zumal seit der Vergabe der Spiele an Peking westliche Politiker wenig getan hätten, um eine Verbesserung der Menschenrechtslage anzumahnen. Proteste der Sportler während der Spiele würden wenig bringen, weil sie schon auf Grund der Sprachbarriere nicht gegenüber den Bürgern Chinas geäußert werden könnten." Letzteres bestätigte Uschi Schmitz vom Deutschen Hockey-Bund. Eine Kommunikation mit chinesischen Hockeyspielerinnen, die jüngst in Mönchengladbach an der Champions Trophy der weltbesten Nationalteam teilgenommen haben, war mangels Sprachbarriere nicht möglich.

Schließlich kam Prof. Thomas Heberer zu dem Schluss: "Erfolgreiche und ruhige Spiele sind eine gute Voraussetzung, um die moderaten Kräfte in China, die durch die Proteste in Tibet und im Westen zeitweilig in den Hintergrund gedrängt wurden, wieder zu stärken, und China weiter auf den Weg erfolgreicher wirtschaftlicher, sozialer und politischer Reformen zu führen."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 26 / 24. Juni 2008, DOKUMENTATION I
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2008