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BERICHT/658: Alles geht - die Grenzen des Sports sind fließend (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 4, 7. Juli 2010
Die Zeitung der WWU Münster

Alles geht

Die Grenzen des Sports sind fließend

Von Hanna Dieckmann


Schweißperlen auf der Stirn, rasender Puls, angespannte Muskeln - wer an Sport denkt, hat meist ein klares Bild vor Augen: körperliche Anstrengung im harten Zweikampf beim Fußball oder Kampfsport, Selbstgeißelung bei Ausdauersportarten wie Langstreckenlauf oder Rennradfahren. Der Leistungsgedanke ist bei vielen, vor allem männlichen Sporttreibenden ein wichtiges Kriterium - Sport muss anstrengend sein und den Sportler an seine Grenzen treiben, erst dann verdient er diese Bezeichnung. Vor diesem Hintergrund wird man stutzig, wenn man das Programm des Hochschulsports betrachtet: Schach, Gesellschaftsspiele, Mittelalter- und Renaissancetanz, Improvisationstheater und Geo-Caching. Muskelspiel und beinharter Zweikampf? Nein. Und dennoch Teil des Hochschulsports. Das wirft die Frage auf: Was genau ist eigentlich Sport?

"Für uns sind drei Kriterien entscheidend", erklärt Jörg Verhoeven, Leiter der Breitensportabteilung des Hochschulsports: "Spaß, Geselligkeit und Gesundheit!" Bei einem ganzheitlichen Sportverständnis, so wie es der Hochschulsport vertritt, ginge es nicht nur um reine Bewegung, sondern vor allem um das körperliche, geistige und seelische Wohlbefinden. "Ob die Leute das durch Judo, Yoga oder Improvisationstheater, was wir seit diesem Semester anbieten, erreichen, ist völlig nebensächlich", findet der ehemalige Handballer. Ein vielfältiges Programm sei im Breitensport eine logische Konsequenz. Um diese Vielfalt aufrecht zu erhalten, lässt sich das Team um Jörg Verhoeven gerne von Studierenden und Dozenten inspirieren. Die Anträge werden diskutiert und die neue "Sportart" entweder direkt in das Programm aufgenommen, abgelehnt oder in einem Workshop getestet.

Wird beim Hochschulsport also individuell entschieden, was Sport ist, beziehungsweise, was in das Sportprogramm aufgenommen wird? "Gewissermaßen ja. Wenn die drei Kriterien erfüllt sind, wir genügend Kapazitäten haben und eine Zielgruppe vorhanden ist, kann es im Prinzip losgehen", erläutert Jörg Verhoeven. Eine Anfrage aus dem vergangenen Jahr musste er nach langer Diskussion aber aus anderen Gründen ablehnen. "Wir hatten einen Antrag für Paintball, wonach es eine große Nachfrage gibt", sagt er. Die zeitliche Nähe zum Amoklauf in Winnenden war den Hochschulsportlern aber zu groß, der bittere Beigeschmack zu deutlich. "In solchen Fällen schieben wir Anträge erst einmal auf die lange Bank und schauen später wieder drauf", so Jörg Verhoeven.

Kampfsport anderer Art findet im Seminargebäude am Horstmarer Landweg statt. Fast regungslos verharrt Dennis Webner über dem schwarz-weißen Spielbrett. Lediglich seine Augen wandern unablässig über die Landschaft aus Bauern, Pferden und Türmen. Kurz zuckt seine rechte Hand, jedoch scheint er sich schnell gegen den im Kopf zurechtgelegten Zug zu entscheiden. Stille. Eine Minute vergeht, bis er eine der Holzfiguren - einen Bauern - greift und ein Feld vorzieht. Dennis Webner spielt Schach beim Hochschulsport. Nicht jeder versteht das Strategiespiel jedoch als Sportart. "Natürlich ist das vor allem ein Denksport, aber er erfordert auch unheimlich viel Energie und Konzentration", findet der 22-Jährige. "Ein Spiel kann unter Umständen sechs bis sieben Stunden dauern. Wenn man ein ganzes Wochenende auf einem Turnier spielt, ist man nachher einfach nur fertig."

Für Dr. Kai Reinhart, Dozent am Institut für Sportwissenschaft (IfS), liegen die Dinge naturgemäß ein wenig anders: "In unserer praktischen Ausbildung hat Sport auch immer etwas mit körperlicher Bewegung zu tun", erklärt er. Gesellschaftsspiele seien aber interessante Grenzfälle. Schach zum Beispiel erfülle trotz des motorischen Mangels typische Kriterien des Sports wie das Leistungsprinzip, ein festes Regelwerk und die Unproduktivität. Letztere werde beispielsweise im Profifußball nicht erfüllt. "Wir stellen fest, dass der Sportbegriff immer offener und weiter wird. Im 18. und 19. Jahrhundert war er weitaus stärker mit einem Leistungs-, Konkurrenz- und Rekorddenken verknüpft", weist Kai Reinhart auf den geschichtlichen Hintergrund hin. Heute seien die Grenzen zwischen den zahlreichen Formen des Spielens, Übens und Wettkämpfens jedoch fließend, so dass eine feststehende Definition schwer möglich sei. Als soziales Konstrukt, das in menschlicher Interaktion entstehe, sei der Sportbegriff einem ständigen Wandel unterworfen. "Darunter fällt dann eine große Bandbreite, die vom traditionellen Wettkampfsport im Verein bis zu expressiven Sportarten wie dem Skateboarden in informellen Szenen reicht."

Dass sich das IfS bei der Ausbildung zukünftiger Sportlehrer hauptsächlich mit der Vermittlung klassischer Sportarten und deren Didaktik beschäftigt, liegt auf der Hand, doch auch der Gesundheitssport sowie Natur- und Trendsportarten haben ihren Platz im Sportstudium. Kai Reinhart ist es wichtig, über den Tellerrand der alltäglichen Lebenspraxis zu schauen. Daher bietet der Sportwissenschaftler ganz besondere Norwegen-Exkursionen an. "Friluftsliv" - Freiluftleben - nennt sich die norwegische Lebensphilosophie, auf der die Fahrten beruhen. Die Studierenden erleben am eigenen Leib, was es bedeutet, sich in der norwegischen Wildnis, im Wald und Tiefschnee durchzuschlagen. Wanderungen auf Langlauf-Skiern machen dabei den im engeren Sinne sportlichen Aspekt aus. "Der zentrale Gedanke ist es, sich ohne technische Hilfsmittel in der ungezähmten Natur zu bewegen", meint Kai Reinhart. "Die Studierenden sollen beim Skiwandern, Zelten, Angeln und Kochen ihre eigene Kraft, aber auch ihre Machtlosigkeit gegenüber den Gewalten der Natur erfahren." Der Schritt aus der überall umsorgenden Zivilisation schärfe den Blick für das Notwendige, verdeutliche aber gleichzeitig auch den Wert und selbstverständlich erscheinender kultureller Errungenschaften. Dies könne auch für Kinder und Jugendliche, die immer weniger unmittelbare, körperliche Erfahrungen machten, ein wichtiges Erlebnis sein.

Nicht körperliche, sondern geistige Erfahrungen sind es, die Dennis Webner weiterbringen. "In der fünften Klasse konnten wir AGs wählen. Ich wollte eigentlich in eine ganz andere als Schach, die aber voll war", erinnert sich der Wirtschafts- und Jurastudent. Seitdem ist Schach sein großes Hobby. Dass es Kurse für Schachspieler gibt, erfuhr Dennis Webner erst nach einigen Semestern. "Ich finde es super, dass der Hochschulsport auch so spezielle Kurse anbietet. Mir hat das die Möglichkeit gegeben, auf Turnieren viele andere Studierende aus ganz Deutschland und dem Ausland kennenzulernen", sagt er. Ob Schach nun Sport ist oder nicht, da will sich Dennis Webner nicht festlegen: "Im Verein zahlen wir aber Gebühren, und zwar an den Deutschen Olympischen Sportbund - das sagt doch einiges", sagt er schmunzelnd. Die Zahl der schachspielenden Studierenden in Münster schwankt stark. Manchmal müsse man froh sein, wenn sich zwei Spieler finden.

Der Sportbegriff ist auch laut Tim Seulen, Leiter des Wettkampfsports beim Hochschulsport, schwer zu greifen. "Wir wollen aber auch gar nicht definieren, sondern die Leute im weitesten Sinne bewegen", erläutert der Sportwissenschaftler. Ob das beim Schach nun eher die Gehirn- oder beim Volleyball die Muskelzellen sind, spielt für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Sein spezielles Angebot an die Studierenden vereint sportliche, psychosoziale und kulturelle Herausforderungen. In diesem Frühjahr hat er zum ersten Mal über den Hochschulsport eine Trekkingtour durch den Himalaja angeboten, die gleiche Tour, die er schon mehrfach mit Sportstudenten des IfS gewandert ist. "Über den Hochschulsport sprechen wir eine viel breitere Gruppe an. Da wandert der Geophysiker neben der Medizinerin und Wirtschaftsinformatiker und Juristen teilen sich eine Unterkunft." Natürlich mussten die 13 Teilnehmer laut Tim Seulen für den fünfwöchigen Trip bestimmte Kriterien erfüllen. "Man muss sich vorher bewusst sein, dass die Tour für Körper und Geist eine große Anstrengung ist: Der Kulturschock bei der Ankunft, die fehlende Privatsphäre, die Umstellung auf das einheimische Essen und die hygienischen Bedingungen", beschreibt er, was die Teilnehmer durchgemacht haben. Ob nun Sportwissenschaftler oder Biologin, eines haben die Wanderer in jedem Fall gemeinsam: "Die Abenteuerlust, das fasziniert sein von Superlativen und eben auch den sportlichen Ehrgeiz", weiß Tim Seulen.

Nicht nur sportlicher Ehrgeiz treibt Dennis Webner an. Es sieht gedankenverloren aus, wie er die Hände an den Fingerkuppen zusammenlegt und aus dem Fenster schaut. In Wirklichkeit prüfen seine Hirnzellen den folgenden Zug. Dabei muss er schon die mögliche Antwort seines Gegenübers vorhersehen. Aktion und Reaktion. "Früher wollte ich immer nur gewinnen, heute geht es mir mehr um die schönen Partien, die entstehen können, wenn man klug spielt", erklärt er. Kurz vor jedem Zug streicht der junge Mann über sein Kinn. Es wirkt wie ein körpersprachliches Mantra, mit dem er sich selbst versichert, dass er die Antwort auf die Denkaufgabe in dieser Runde gefunden hat. Vielleicht aber auch, um die Spannungskurve beim Gegner zu erhöhen. Denn Schach ist ein Spiel, das im höchsten Maße auf psychologischen Strategien beruht. "Den Gegner ausgucken" - das kann man nicht nur beim Tennis. Das passiert beim Schach minütlich. Er selbst spiele Schach zwar, um sich selbst und seine Fähigkeiten besser kennenzulernen, im Profi-Bereich gehe es jedoch ganz anders zu. Auch wenn man es dem so ruhig und sanft wirkenden "Sport" nicht ansieht, "Spieler wie der ehemalige Weltmeister Bobby Fischer sprachen davon, ihre Gegner psychisch zerstören zu wollen", sagt der 22-Jährige.

Gemeinsamkeit dagegen wird bei den Touren von Tim Seulen groß geschrieben. Die Teilnehmer müssen sich aufeinander verlassen können. "Konfliktpotenzial ist vorhanden - wichtig ist, dass alle ihren Unmut offen ansprechen und so Spannungen erst gar nicht entstehen", weiß der 35-Jährige. "Auf der vierwöchigen Trekkingtour hat jeder mal einen schlechten Tag. Und wenn man dann schnaufend mit 15 Kilo auf dem Buckel über einen 3500 Meter hohen Pass stapft, hinterfragt man seine Entscheidung, unbedingt an dieser Exkursion teilzunehmen", erzählt Tim Seulen. Doch der Ausblick vom Gyoko Peak auf die Achttausender Everest, Lhotse, Makalu und Cho Oyu entschädigt für alle Strapazen: "Wenn ich diese gewaltigen Berge sehe, finde ich es immer noch unglaublich, dass sie von Menschen bezwungen wurden."

In knapp zwei Jahren wird er wieder eine Trekking-Tour in Nepal anbieten, die Nachfrage ist groß. Und genau darauf kommt es den Verantwortlichen des Hochschulsports an, wenn sie Kurse und Touren neu ins Programm aufnehmen: Sport definiert sich zwar über Kriterien wie Bewegung und Leistungsorientierung, aber gerade an einer Hochschule auch über die vielfältigen Interessen der Studierenden, die in kein vorgefertigtes Muster passen müssen.


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Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 4, 7. Juli 2010, S. 3
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010