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FÖRDERUNG/095: "Talenteschuppen" für Peking, Vancouver und London (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 28-29 / 7. Juli 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

"Talenteschuppen" für Peking, Vancouver und London
Im U23-Förderprojekt "Verbundnetz des Sports" lebt Leipzigs Olympia-Bewerbung

Von Andreas Müller


Bis zu ihrer Einladung in den "Champions Club" nach Mallorca hatte Volleyballspielerin Sarah Petrausch vom "Verbundnetz des Sports" noch nie etwas gehört. Nach der erholsamen Woche inmitten von fast 20 anderen hoffnungsvollen Nachwuchs-Leistungssportlern wusste die 17- Jährige vom VC Olympia Berlin bestens Bescheid. Die aus dem Münsterland stammende Jugend-Europameisterin erhielt die Einladung auf die Urlaubsinsel, nachdem sie sich im letzten Testspiel für die U18-WM beide Handgelenke gebrochen hatte. "Die Tage hier sollten mich etwas trösten. Ich bin jetzt das Küken in diesem Projekt und habe unheimlich viel erfahren. Als Teamspielerin bin ich zum Beispiel ganz überrascht davon, wie viele Ausgaben die Leute in den Einzelsportarten aus eigener Tasche finanzieren müssen", erläutert Sarah. Die Schülerin bekam bei dieser Gelegenheit tiefe Einblicke in den Nachwuchs-Leistungssport jenseits von Schule und Gymnasium und von den Schwierigkeiten, nach der Zeugnisübergabe Spitzensport, Ausbildung, Beruf und Studium unter einen Hut zu bringen: Sportkarrieren können manchmal von Kleinigkeiten abhängen, lautet die Grunderkenntnis.


"Es war schwer für mich, nicht mehr Erste zu sein"

An dieser wunden Stelle anzusetzen, in den kleinen olympischen Sportarten beim oft quälenden, schwierigen Übergang erfolgreicher Juniorsportler zu den Senioren nützlich einzugreifen und zu helfen, Talente an die Weltspitze heranzuführen, darin besteht das erklärte Ziel des vor vier Jahren begründeten "Verbundnetzes für den Sport". In einem speziellen Auswahlsystem in Kooperation mit den Olympiastützpunkten werden aktuell rund einhundert junge und hoffnungsvolle Athleten auf dem Weg zu den Olympischen in Peking, 2010 in Vancouver und 2012 in London unterstützt. "Am Anfang war es bei den Großen sehr schwer für mich, nicht mehr Erste oder Zweite zu sein. In solchen Zeiten ist es besonders wichtig, wenn jemand hinter einem steht und Mut macht. Nach einem schlechten Jahr wurde ich trotzdem in den Club eingeladen. Das baut auf und stärkt das Selbstbewusstsein", erinnert sich Wasserspringerin Katja Dieckow aus Halle an der Saale. "Dieses psychologische Moment ist vielleicht sogar wichtiger als die ganz praktische Unterstützung." Als Siebte vom Drei-Meterbrett hat die 23-jährige Biologie-Studentin bei den vorjährigen Weltmeisterschaften den internationalen Durchbruch geschafft. Jüngst gewann sie EM-Silber vom Dreimeter- und Bronze vom Ein-Meter-Brett. Für den "Verbundnetz"-Zuschuss zum Leasingauto für schnellere Wege zwischen Uni, Training und Wettkampf ist sie dankbar wie all die anderen fast einhundert Nachwuchs-Athleten, die aktuell von dem Förderprojekt unter Schirmherrschaft von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble profitieren. Dank der Beihilfen finanzieren zum Beispiel die Wildwasser-Kanu-Europameister David Schröder und Frank Henze aus Leipzig regelmäßig ihre Boote. Gewichtheber Michael Böhm, von der WM 2007 mit Platz 17 zurückgekommen, wurde der Umzug von Frankfurt/Oder zum Bundesleistungszentrum nach Leimen erleichtert. Siebenkämpferin Julia Mächtig aus Neubrandenburg, Dritte der U23-EM, konnte sich Frühjahrs-Trainingslager im Süden leisten. Andere Sportler erhalten Zuschüsse für Benzinkosten, Fahrzeuge, Laptops, für die Miete oder Sportgeräte zum Ausgleichstraining. Beihilfen, deren Bedeutung vor den Hintergrund der im vergangenen Winter vollzogenen Kürzungen von Leistungen für die "Nachrücker-Generation" im Deutschen Ski-Verband noch an Wert gewonnen hat.


"Kleine Sporthilfe" und Wertschätzung an der Schnittstelle

"Unsere materiellen Möglichkeiten sind zwar nicht üppig. Aber wir können 'kleine Sporthilfe' leisten, die an dieser Schnittstelle im deutschen Leistungssport ganz wichtig ist. Die Sportler empfinden das als Wertschätzung ihrer Leistungen, auch wenn sie nicht gleich wie erhofft den Anschluss finden", weiß der frühere Weltklasse Biathlet Frank-Peter Roetsch, einer der Grünungsväter des Projekts. Der zweimalige Olympiasieger geht davon aus, dass etwa 20 der "Verbundnetz"-Athleten den Sprung zu den Olympischen Spielen nach Peking schaffen werden und eine Handvoll Medaillen mit nach Hause bringen. 15 sind bereits fest nominiert wie Kanutin Fanny Fischer, Wasserspringer Benjamin Stark, Diskuswerfer Robert Harting oder Schwimmer Paul Biedermann. Dank der Verbundnetz Gas AG (VNG) Leipzig könnten jährlich zwischen 1.500 Euro und 3.000 Euro für jeden Athleten im Projekt ausgeschüttet werden. Seit Beginn dieser speziellen Sportförderung im Jahre 2004 berappte das Energie-Unternehmen pro Jahr jeweils 400.000 Euro. Weil der Sponsor geschäftlich im gesamten Osten Deutschlands operiert, erstreckt sich das Projekt, in das insgesamt acht Olympiastützpunkte einbezogen sind, auf alle neuen Bundesländer. Dies unterscheidet das VNG-Projekt von den vielen anderen regionalen Förder-Instrumenten im deutschen Sport. Bis auf Bayern und Bremen verfügt jedes der 16 Bundesländer in seinen Grenzen - oft in Gestalt von Stiftungen - über spezielle Sporthilfen wie die Sportstiftung Nordrhein-Westfalen oder die Thüringer Sporthilfe. Alljährlich zum "Fest der Begegnung" lädt die Stiftung Deutsche Sporthilfe (DSH) Vertreter aller regionalen Sporthilfen zu einer Tagung ein, um diese regionalen Förderinstrumente besser aufeinander abzustimmen. Im vorigen Jahr fand dieses Meeting am 9. November in Saarbrücken statt.

Das "Verbundnetz des Sports" hat seinen Ursprung in der - inzwischen gescheiterten - Olympia-Bewerbung Leipzigs für die Sommerspiele 2012. Das Projekt konzentriert sich demzufolge vor allem auf Sportler, die erst in vier Jahren ihren Leistungszenit erreichen könnten und bei den "Heim-Spielen" in Leipzig hätten glänzen sollen. "Wir wollten langfristig helfen, dass dann möglichst viele einheimische Sportler an den Start gehen. Das ist auch ein Stück unserer gesellschaftlichen Verantwortung als Unternehmen in der Region", erinnert VNG-Marketing-Chef Jan Schuster an die Wurzeln. In dieser speziellen Art der "Förderung Ost" lebt Leipzigs Olympia-Bewerbung praktisch weiter. Zunächst war das "Verbundnetz für den Sport" bis Peking angelegt, für diese Phase standen insgesamt zwei Millionen Euro zur Verfügung. Nach einigem Zögern und mehreren internen Diskussionen hat das Management des Unternehmens nun grundsätzlich entschieden, die privatwirtschaftliche "U23-Hilfe" zu verlängern. Mit Blick auf seine Entstehungsgeschichte ist es nur konsequent, den "Talenteschuppen" mindestens für vier weitere Jahre zu unterstützen - auch wenn die Spiele 2012 nun in London und nicht in der sächsischen Handelsmetropole Leipzig ausgetragen werden.


"Ostdeutscher Sport wäre um Vieles ärmer"

"Der ostdeutsche Sport wäre um Vieles ärmer, wenn es diese Hilfe nicht mehr gäbe. Im Gegenteil müssten sich daran noch viel mehr private Unternehmen beteiligen", sagt Michael Evers, der Leiter des Olympiastützpunktes Mecklenburg-Vorpommern. Stimmig sei das Fördersystem bei den "Athleten ganz oben" und beim Nachwuchs in den Eliteschulen des Sports. "Doch dazwischen ist das System schwammig. Da lautet die Frage, wie wir es hinbekommen, dass die Anschlusskader den Weg finden und dem Sport nicht verloren gehen", unterstreicht Evers und wird von Ruderin Judith Aldinger aus Magdeburg unterstützt: "Unterstützung ist vor allem in Zeiten wichtig, wo es nicht so gut läuft. Wenn in so einer Situation sämtliche Unterstützung wegbrechen würde, dann gäbe es bald gar keinen Nachwuchs mehr." Die 22-Jährige spricht aus Erfahrung. In den Jahren 2004 und 2005 wegen Verletzungen gehandicapt und aus allen Kadern komplimentiert, hielt das "Verbundnetz" an ihr fest. Im Übrigen galt das nach total verkoksten Olympischen Spielen in Athen auch für Schwimmerin Britta Steffen, die das Vertrauen im Vorjahr mit vier EM-Titeln belohnte und nun als große Medaillenhoffnung für die Sommerspiele gilt. "Es ist nicht selbstverständlich, dass in schweren Zeiten jemand da ist", bilanziert Aldinger. "Das hilft, dass man sich nicht hängen lässt."

Man darf auch mal ein schlechtes Jahr haben, lautet das Credo beim "Netzwerk". Entscheidend ist die sportliche Perspektive eines Athleten. Die Förderwürdigkeit mit dem Zukunftspotenzial Weltklasse festzustellen, ist Part der Olympiastützpunkte. Die Mitarbeiter dort kennen ihre Nachwuchs- und Anschlusskader am besten, schlagen dem "Verbundnetz" die Kandidaten vor, mit denen dann so genannte Zielvereinbarungen abgeschlossen werden, die nach jedem Jahr überprüft und neu besprochen werden. Mitunter ist bei dieser Gelegenheit auch ein erzieherisches Moment unerlässlich. Beispielsweise musste sich Turner Matthias Fahrig aus Halle fragen lassen, warum er von seinem Verband für die Weltmeisterschaften 2007 in Stuttgart nicht nominiert wurde. Ob und wie viele Bierchen der EM-Dritte am Boden nach einem Wettkampf in Gießen konsumierte, konnte dabei nicht bis ins Detail geklärt werden. Doch das ernsthafte Gespräch mit Projektleiter Bernhard Bock, der zugleich den Förder-Etat treuhänderisch verwaltet, sollte dem 21-Jährigen gründlich zu denken geben.


Jeder, der "Mist baut", wendet sich an Patenonkel Ottke

"Der am meisten frequentierte Gesprächspartner ist normalerweise Sven Ottke. Jeder, der Mist gebaut hat, wendet sich an ihn", sagt Bock und verweist auf eine weitere Besonderheit. Seinem Namen gemäß ist das Projekt nicht nur mit einem Unternehmen und Olympiastützpunkten, sondern zugleich mit einer Reihe früherer erfolgreicher Sportler vernetzt, die für die Nachwuchs-Athleten als Paten tätig sind. Neben dem Ex-Box-Weltmeister Ottke sind dies die Olympiasieger Kerstin Förster (Rudern), Uwe-Jens Mey (Eisschnelllauf), Frank-Peter Roetsch (Biathlon) und Jens Weißflog (Skispringen). Am Anfang hätten die Sportler das "Du" gegenüber ihren prominenten Paten nur schwer über die Lippen gebracht, erinnert sich Roetsch. Mittlerweile sei die "die Scheu verloren", so dass die Olympioniken von gestern und von morgen im "Champions-Club" auf Mallorca sogar regelmäßig um die Häuser ziehen. "Dieser direkte Draht zu den Paten ist mir besonders wichtig. Da weiß man, die sind für dich da und stärken dir die Brust", berichtet Kanute Norman Bröckl, der sein Olympiaticket für Peking bereits in der Tasche hat. Als zweifachem Weltmeister ist dem 21-jährigen Berliner der Übergang zu den Senioren bereits glänzend gelungen. Dennoch war er froh, dass er auch 2007 wieder einen Zuschuss für seine persönliche Saisonvorbereitung bekam. Das Geld wurde für ein zusätzliches Camp Ende vorigen Jahres eingesetzt. "Außergewöhnliche Dinge stehen an, da muss man sich außergewöhnlich gut vorbereiten", sagt Bröckl mit Blick auf Olympia. "Das zusätzliche Training in Barcelona hätte mir niemand sonst finanziert", sagt der Weltmeister - sehr zum Erstaunen von "Küken" Sarah Petrausch.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 28-29 / 7. Juli 2008, S. 28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2008