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FORSCHUNG/120: Perspektiven einer Anthropologie des Handballspiels (f.i.t - Sporthochschule Köln)


f.i.t. - Forschung . Innovation . Technologie
Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln 1/2009

Faszination Handball
Perspektiven einer Anthropologie des Handballspiels

Ein Beitrag von Carsten Kruse und Eckhard Meinberg
Institut für Pädagogik und Philosophie


Die noch relativ frische Erinnerung an die Handball-WM in Kroatien, zwei Jahre nach dem deutschen "Wintermärchen", das bekanntlich ungleich erfolgreicher war als das deutsche "Fußballsommermärchen" (2006), lädt u. a. und geradewegs zu der grundsätzlichen Frage nach der besonderen Qualität eines Handballspiels ein - eine Fragestellung, die, je nach Gesichtspunkt und Beurteilungskriterien des Beobachters, erwiesenermaßen verschiedene Antwortmöglichkeiten bereithält. In diesem Essay rückt eine anthropologische Interessenlage in den Vordergrund, die sich bislang in der (Sport-)Spielforschung im Abseits aufhält und folglich zu keinen nennenswerten Überlegungen motiviert hat.


Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Anbahnung einer Anthropologie des Handballspiels, die noch nicht einmal als mögliches Forschungsthema formuliert ist, was mehrere Gründe hat, die es in dieser provisorischen Problemanzeige nicht zu erörtern gilt. Deshalb kreisen die folgenden Erwägungen weder um handballtaktische und strategische Fragen noch um neue und möglicherweise effektivere Spielsysteme - etwa darum, ob das Abwehrverhalten anstelle von 4:2 oder 5:1, am 6:0 ausgerichtet werden soll. Auch werden keine Regeländerungen vorgeschlagen. Erst recht sollen keine quantitativen Daten präsentiert und interpretiert werden, die eventuell Aufschluss geben über die Verteilung erfolgreicher Torwürfe von unterschiedlichen Positionen. Auch von motivationspsychologischen Ratschlägen oder trainingswissenschaftlichen Empfehlungen wird abgesehen. Vielmehr steht in einer umfassenderen Sicht der Handball spielende Mensch im Fokus, der eine Sonderform, eine bestimmte Spezies des "homo ludens" im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert.

Der Mensch ist von Grund auf stets auch ein spielender Mensch. Jedes Individuum hat, so gesehen, eine spezielle, nur ihm zugekommene "Spielgeschichte" (RÖHRS). Dieser anthropologische Befund, den bereits Platon recht eigenwillig interpretierte, indem er den Menschen als "Spielzeug Gottes" auswies (was etwas anderes ist als die "Hand Gottes"), spiegelt sich im Handballspiel auf eine ganz besondere Weise und provoziert, wie immer, in den Wissenschaften unterschiedliche Erkenntniszugänge. Das gilt auch für mögliche anthropologische Beiträge, die unterschiedlich ansetzen und ausgestaltet werden können.

Ganz generell ist es der philosophischen Anthropologie um das menschliche Selbstverständnis, darin eingeschlossen, um Möglichkeiten des Menschseins zu tun, indem sie den Menschen (als Individuum und als Gattung) selbst zum Thema erhebt und daraufhin Modelle und Bilder vom Menschen entwirft, die einem kulturellen Variationsreichtum wie auch historischen Wandlungen unterliegen.

Bilder vom Handball spielenden Menschen existieren weder seit der frühen Neuzeit noch sind sie in allen Kulturen und Gesellschaften anzutreffen. Unbenommen davon ist jedoch ein Fakt, dass das Spiel und Spielen ein "menschliches Grundphänomen" ist (FINK). Und wo man in dieses tiefer einzudringen versucht, es anthropologisch aufschließen will, hat sich spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die durch Schiller bis auf den heutigen Tag prominent gebliebene Auffassung behaupten können, die er im Kontext einer torsohaften "Theorie der ästhetischen Erziehung" grundgelegt hat, wonach der Mensch "nur ganz da Mensch ist, wo er spielt" (15. Brief zur ästhetischen Erziehung des Menschen). Entkleidet man diese anthropologische Ansicht seiner erziehungsund bildungstheoretischen Ummantelung und überträgt sie auf das Handballspiel, dann gewinnt man einen anthropologischen Standpunkt, der darauf abzielt, das Bild vom spielenden Menschen als den "ganzen" Menschen ansatzhaft an diesem Sportspiel zu prüfen und dies zugleich auf die Vorstellung von einem guten Handballspiel zu beziehen, in dem nicht zuletzt dessen Faszination wurzelt. Denn fast trivial ist: Nicht jedes Handballspiel schlägt Spieler und Zuschauer gleichermaßen in den Bann, es kann öde, langweilig und einschläfernd wirken, weit entfernt von einem attraktiven Geschehnis. Fehlt einer Spielpraxis ein bestimmtes Gütesiegel, so wird von diesem keine faszinierende Strahlkraft ausgehen können.

Hier wird erklärtermaßen ein anthropologischer Gütemaßstab angelegt, der einige Voraussetzungen eines guten Handballspiels vor dem Hintergrund des Modells vom "ganzen Menschen" klären will, indem - ungeachtet der Interpretationsvielfalt vom "ganzen Menschen" - Prinzipielles, Zentrales des Menschen zum Vorschein und Ausdruck kommt.


Zentrale Voraussetzungen für ein gutes Handballspiel

Kein Zweifel: Wenn sich der Mensch schon der irdischen Lebensführung nicht entziehen kann, so will er über das bloße Überleben hinaus ganz sicher doch ein möglichst gutes Leben führen. Projiziert aufs Handballspiel heißt das: Es soll nicht nur gespielt werden, vielmehr soll möglichst gut gespielt werden. Das gilt für Spieler und Zuschauer gleichermaßen. Beide sind dann zufrieden, wenn ein Handballspiel gut verlaufen ist. Doch: Was ist ein gutes Handballspiel? Ist es dies, wenn trotz eines ansonsten tristen und einfallslosen Spiels kurz vor dem Abpfiff noch das Siegtor geworfen wird? Wenn man sehr fair, also moralisch gut gespielt und dennoch verloren hat? Wenn die Schiedsrichter eine der beiden Mannschaften begünstigt und dadurch auf die Siegerstraße gebracht haben? Wenn eine Mannschaft wunderschöne Kabinettstückchen geboten und die Zuschauer zu Beifallsstürmen hingerissen hat und trotzdem das Spiel verloren wird? Wenn beide Mannschaften alles Erdenkliche getan haben, um nicht zu verlieren? Oder wenn die beteiligten Teams ihr ganzes Können demonstriert haben, um unbedingt zu gewinnen?

Ganz offensichtlich kann Unterschiedliches gemeint sein, was sich in der subjektiven Perspektive der Einschätzungen ausdrückt. Ein gutes Handballspiel an objektiven Kriterien messen zu wollen, ist häufig unmöglich. Nicht nur die Spieler, auch die Trainer, Zuschauer, Journalisten, Funktionäre und andere können in der Beurteilung dessen, was ein gutes Handballspiel ist, bisweilen weit auseinander liegen und danach gefragt z. T. sogar gegensätzlich antworten. Eines ist davon allerdings unbenommen: Es geht stets um ein Qualitätsproblem. Dazu sollen nun einige der formalen Voraussetzungen skizziert werden, die aus anthropologischer Sicht u. E. das Zustandekommen eines guten Handballspiels begünstigen. Es handelt sich gewissermaßen um ein Qualitätsminimum, das erfüllt sein muss, damit ein Handballspiel gelingt. Referenzpunkt ist dabei ausschließlich das Handball spielende Subjekt.

Im Handballspiel artikuliert sich, so die Hauptthese, Prinzipielles, Wesentliches, eben genuin den Menschen Betreffendes. Was ist das genauer?

Wenn man von einem guten Spieler, einem guten "Handballspiel" spricht, wird unterstellt, dass es auch weniger gute, schlechte und manchmal sogar miserable Spiele gibt. Die Fähigkeit, zwischen gut und schlecht zu differenzieren, verweist darauf, dass der Mensch ein wertendes Wesen ist. Er spielt nicht nur, er bewertet dieses Spiel, d. h. er misst es an Maßstäben. Jeder Spieler muss sein Bestes geben, damit ein Handballspiel gelingen und mit dem Attribut gut bewertet werden kann. Das Maß wäre dann der Spieler selbst und dessen Absicht, gut spielen zu wollen. Es gibt, unabhängig vom Niveau und Können unzähliger Handballspieler, einige Spieler, die sich durch ihre Qualität besonders auszeichnen und ausgezeichnet haben. Es sind dies die so genannten "Weltklassespieler", die eine Verkörperung des guten Handballspielers darstellen und allgemein für die Handballspiel-Praxis maßstabsetzend sind: Narcisse, Stefansson, Balic, Vori und last but not least Karabatic, um nur einige Namen zu nennen. Sie sind der Inbegriff "guter Spieler", werden verehrt und bewundert. Ein gutes Handballspiel kann, gleich wo es ausgetragen wird, überragende Spieler zum Maß und als Bewertungsgrundlage nehmen. Aber selbst solche Stars wie Omeyer oder Lövgren sind kein Garant dafür, dass THW Kiel stets gute Handballspiele abliefert.

Handballspieler sind wertende Wesen, sofern sie sich an der Güte ihres Spiels orientieren und dazu wiederum besondere Spieler als Qualitätsmaßstab heranziehen. Auch können sie sich an der Idee des Handballspiels ausrichten, so wie sie beispielsweise in Handball-Lehrbüchern formuliert wird. Wie auch immer: Das Werten-Können des Handballspielers ist eine Grundvoraussetzung für einen guten Spielverlauf. Nur wer um die qualitativen Differenzen von gut und schlecht weiß, kann auch gut spielen.

Außerdem ist unabdingbar, dass der Handballaktive gut spielen will. Das Spielenkönnen reicht allein nicht aus. Der Wille, es wirklich gut zu machen, das Beste zu geben, muss hinzutreten. Wo diese Willensbereitschaft fehlt, wird ein Spieler sein Leistungsoptimum nicht erreichen und zur Entwicklung eines guten Spiels kaum etwas beitragen können. Ein gutes Spiel speist sich danach immer auch aus einer moralischen Antriebsfeder.

Erst so wird verständlich, dass Kritiker oftmals im Anschluss an Niederlagen bemängeln, dass die unterlegene Mannschaft "keinen Charakter" gezeigt habe. Sie sei ohne Moral aufgetreten, ihr habe, aus welchen Gründen auch immer, der Wille gefehlt, möglichst gut zu spielen. Die moralische Haltung ist demnach unerlässlich für ein gelungenes Handballspiel.

Unbestritten beflügeln auch die kognitiven Potentiale der Akteure die Güte eines Spiels. Anschaulicher formuliert: Ein kopfloser Spieler wird keine Qualitätssprünge machen können. Das Befolgen der mental geübten Taktik und strategischen Marschrouten erfordert den intelligenten Spieler. Nicht von ungefähr wird von Spielintelligenz als Sonderform von Intelligenz überhaupt gesprochen. Diese Art der Intelligenz wird vor allem, freilich nicht nur, den Spielmachern abverlangt, den Gestaltern des Spiels, die in Abwehr und/oder Angriff in der Lage sind, die entscheidenden Weichen zu stellen. Intelligentes, vernünftiges Verhalten ist also allemal vonnöten, soll die Qualität des Spielens zu einem hochwertigen gesteigert werden, wozu außerdem auch ein implizites Körperwissen gehört.

Am Handballspielen ist aber nicht nur der Kopf beteiligt, sondern auch dasjenige, was mit einer Metapher, als Herz bezeichnet wird. Im Herzen "sitzt" der Wille genauso tief wie die Emotionen, mehr noch: Es ist ein Privileg des Spielens, auch des Handballspielens, dass sich hier sämtliche Emotionen entfalten und entladen können. Ein herzloses Spiel ist ein solches, das die Emotionen eher verbirgt und nicht freisetzen kann, ist selten genug ein gutes Spiel. Ein Zuviel an Kopf und Verstand kann demnach dem guten Spiel schaden. Ein Spiel voller Herz und Leidenschaft, das die Spieler mitzureißen vermag und von großer Spielfreude zeugt, eines, das ansteckend auf die Zuschauer wirkt und "den Funken überspringen lässt", intensiviert das Leben der Akteure.

Manchmal, wenn die Emotionen Oberhand gewinnen, steigern sich die Beteiligten in einen wahren Spielrausch (CAILLOIS). Man erinnert sich an Spielszenen, in denen gewissermaßen alles fließt, alle taktischen Zwänge und andere Hindernisse aufgelöst und bedeutungslos sind, man längst die Ernsthaftigkeit des Alltags hinter sich gelassen hat (flow) - obwohl auch das Handballspiel eine ernsthafte Angelegenheit ist, die kein Infragestellen duldet.

Oft wird gesagt, dass sich der "Spieler von seinen Emotionen leiten ließe", die Vernunft, der Kopf erscheint dann wie ein lästiger Störenfried, der den guten Spielverlauf beeinträchtigt. Jedoch: Es sind nicht bloß die positiv besetzten Emotionen, die sich im Spiel Geltung verschaffen; es können auch negative sein, wie Ärger, Wut und Zorn, die, unter Ausschaltung der Vernunft, zu Handgreiflichkeiten oder verbalen Entgleisungen führen. Mit anderen Worten: In einem Handballspiel kann die gesamte emotionale Bandbreite entfacht werden bis hin zur Zerstörung von Spielaktionen.

Neuerdings macht ein weiteres, besonders akzentuiertes Qualitätsmerkmal eines Handballspiels die Runde und erfreut sich dabei wachsenden Zuspruchs: Trainer loben und rühmen einige ihrer Schützlinge dafür, dass sie als herausragende Spieler in der Lage seien, "ein Spiel (besonders gut) lesen zu können" (so Bundestrainer Brand über seine ehemaligen Spieler Baur und Stephan). Auch dies ist eine Metapher, eine freilich dem Fußballspiel entlehnte, die auf eine bedeutsame Fähigkeit hinweist: Die Kunst der Spielauslegung, der Interpretation. Es wird also das basale menschliche Deutenkönnen als Tugend eines guten Handballspielers demonstrativ hervorgehoben. Der Spieler wird als interpretierendes Wesen begriffen, als jemand, der sich auf etwas versteht, in diesem Fall auf das Lesen des Spiels (in kollektiver Form nahm dieses Können beispielsweise Gestalt an, als, bedingt durch eine Änderung der Regel nach einem Torerfolg des Gegners, Spitzenmannschaften mit dem angriffstaktischen Mittel der "schnellen Mitte" reagierten). Zuvorderst sind es wieder die "großen Spielgestalter", welche die Semantik des Handballspiels beherrschen, die fähig sind, sie zu deuten. Wenn aber jemand ein Spiel lesen kann, dann wird damit auch unterstellt, dass Spielen Sinn macht. Der gute Spieler, um bei dieser Metapher zu bleiben, ist der Sinn entziffernde Spieler. Nur ein sinnvolles, ein sinnerfülltes Spiel kann ein gutes Spiel werden. Das ist eine unverzichtbare Bedingung.

Doch kann der Ausnahmespieler nicht auch "sinnstiftend" agieren? Das schließt ein, dass er auch "zwischen den Zeilen" zu lesen vermag, in denen für viele ja das eigentlich Bedeutsame steht - ein Raum des Unsichtbaren, Unausgedrückten. Derjenige also, der ein Handballspiel lesen kann, gibt dem Unsichtbaren, dem mehr Geahnten durch seine Interpretation gewissermaßen Gestalt. Je versierter ein Spieler die Interpretationsfähigkeit beherrscht, desto näher kommt er dem Ideal eines guten Handballakteurs, der mit dazu beitragen kann, dass ein Spiel gelingt. Handball spielen drückt etwas aus, was den Spieler selbst und andere wiederum beeindrucken kann.

Damit erschließt sich ein weiteres Phänomen der anthropologischen Verfasstheit des Menschen, seine Expressivität. Der spielende Mensch ist ein expressives Lebewesen par excellence. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass das Handball spielende Subjekt exemplarisch für anderes menschliches Handeln genuin Menschliches offenbart. Nach PLESSNER sind wir genötigt, unser Leben zu führen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen unser Dasein führen, ansonsten würde es uns durch die Finger gleiten. Lebensführung bedeutet, dass sich der Mensch in ein Verhältnis setzt zur Welt. Bildung, Lernen und Entwicklung sind Modalitäten des Wechselverhältnisses zwischen Individuum und Welt, was zwangsläufig impliziert, dass sich der Mensch auszudrücken hat. Er ist von Haus aus ein expressives Wesen. Seine Weltoffenheit ist der Grund dafür, dass sich Menschen ganz vielfältig expressiv verhalten: Tanzen, Schreiben, Musizieren, Malen - all das und vieles mehr sind solche expressiven Verhaltensweisen, auch das Handballspielen gehört dazu. All diesen Ausdrucksformen ist gemeinsam, dass sie eine Selbstdarstellung beinhalten und Selbstbeherrschung erfordern. Auch Handballspieler inszenieren sich. Sie sind Darsteller, die sich gegenüber einem Publikum, mag es noch so klein sein, präsentieren und ein echtes Schauspiel aufführen (mit Regisseur, Statisten, Haupt- und Nebenrollen).

Gute Handballspieler beherrschen sich und ihren Körper mit einer bisweilen ganz erstaunlichen Souveränität, obwohl sie letztlich doch nicht restlos über den Körper verfügen können. Sie sind Künstler im Umgang mit dem eigenen Leib. Ihre Kunst besteht in einem besonderen Können. Was einen Handballspieler zu einem guten macht, ist der Befund, dass Handball spielen als Kunst im Sinne von Können, als "achte Kunst" (LENK) zelebriert wird. Handball spielen als eine Kunst nicht am, sondern mit dem Körper, erfordert eben ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, das indes nicht mit zwanghafter Disziplinierung verwechselt werden darf. Diese expressive Selbstbeherrschung muss genügend Freiheit lassen, mit der spielerisch umgegangen werden kann. Nur so, auf der Grundlage von Freiheit und Weltoffenheit, kann sich ein Handballspiel als Kunst, ja geradezu als flüchtiges Kunstwerk ausdrücken, vermag sich ein begabter zu einem genialen (Weltklasse-)Spieler zu entwickeln.

Anders formuliert: Man mag es sehen wie man will - ein faszinierendes Handballspiel ist zumal auch ein ästhetischer Genuss; Karabatic, Balic und andere gefallen durch ihren nur bedingt erlern- und trainierbaren Zauber. Es ist dies bemerkenswerte Gemisch aus Intuition, Phantasie, Esprit, Spontaneität, Kreativität, Antizipation und Gestaltungswillen, das ein Handballspiel in ein mitunter einzigartiges Schauspiel wandelt (phasenweise vermochte das WM-Endspiel zwischen Frankreich und Kroatien daran anzuknüpfen). Derartige als Augenweide wahrgenommene Spiele sind gut, weil sie von kreativer Schöpferkraft zeugen. Dieses Schöpferische, das im Übrigen die harten Mühen des Übens und Schmerzes voraussetzt, antwortet auf völlig unvorhersehbare Spielsituationen.

Ein gutes Handballspiel ist von hohem ästhetischen Reiz, auch weil es schön anzusehen ist und einen gewissen Glanz verbreitet, der Spieler und Betrachter gleichermaßen fesselt. Viele, die die Kunst des Handballspielens beherrschen, finden dermaßen Gefallen an der Schönheit dieser Praxis, dass sie das Ziel des Gewinnens ganz aus den Augen verlieren; sie, so eine altbekannte Phrase, "sterben in Schönheit" auf Kosten der Überbietung des Gegners. Dabei "gibt es im Handball keinen Schönheitspreis zu gewinnen", bzw. "kann man sich für Schönheit nichts kaufen." Andererseits: Wäre es nicht ein immenser Verlust für das gute Handballspiel, würde sich auch hier ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül tatsächlich durchsetzen? Ist es nicht so, dass man zu Recht von einer Handballkultur spricht, weil daran maßgeblich auch die "schöne Kultur" beteiligt ist?

Ein Handballspieler, mag er auch ein noch so anerkannter Filigrantechniker oder brillanter Spielgestalter sein, ist auf andere angewiesen, um sein Können und sich selbst angemessen darzustellen, worin sich ein anderes Grundphänomen des Menschen zeigt: Seine co-existenziale Verfassung. Als Handballspieler durchbricht er im Spiel fortwährend seine Eigenperspektive, er ist abhängig von anderen. Zwar kann ein Balic gut spielen, aber wenn die anderen Mitspieler einen schlechten Tag erwischt haben, kann sich kaum ein qualitativ hochstehendes Spiel entwickeln. Die Angewiesenheit auf andere ist eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen eines guten Spiels. Die darauf gerichteten Interaktionen während des Spielverlaufs sind vielfältig. Sie gelten zum einen den Mitspielern, wobei je nach Position und Rolle des Spielers die Kontaktaufnahmen differieren. Das Handballspielen verlangt eine große Rollenflexibilität der Spieler, die ihr Rollenverständnis und ihre Empathiefähigkeit beständig erweitern müssen, denn die vorübergehende Übernahme verschiedenartiger Rollen und das Hineinversetzen in diese gebietet eine ausgeprägte soziale Kompetenz. Wenngleich sich im internationalen Handball allenthalben eine positionale Spezialisierung (Spieler, die u. a. nur in Angriff oder Abwehr eingesetzt werden) durchzusetzen scheint, gilt dies nach wie vor.

Außerdem benötigt das spielende Subjekt die anderen zur Unterstützung und Hilfe seiner Aktionen, um sich individuell in Szene setzen zu können. Ein gutes Spiel zeichnet sich durch ein Füreinander aus, das wechselseitige Abhängigkeiten leibhaftig erfahrbar macht, ohne dabei aufkommenden Neid völlig ausschließen zu können. Der viel beschworene Teamgeist trägt erheblich zum Gelingen eines Handballspiels bei, selbst der Könner, der Star ist darauf angewiesen, allerdings auch auf den Gegner, dem er sein Spiel aufzwingen möchte. Doch nur, wenn die gegnerische Mannschaft ein offenes Spiel zulässt, nicht bloß ergebnisorientiert agiert und sich taktischen Zwängen unterwirft (kommt wegen der weitaus geringeren Torausbeute beispielsweise im Fußball häufiger vor), kann es zu einem qualitativ wertvollen Handballspiel kommen.

Der co-existenziale Charakter des Handballspiels erstreckt sich also gleichermaßen auf Mit- und Gegenspieler, aber auch auf die "Tagesform" des Schiedsrichtergespanns, das durch "falsche", missverständliche oder gar parteiische Regelauslegungen ein gutes Handballspiel verhindern kann. Eine indirekte, weil am direkten Spielgeschehen unbeteiligte, Angewiesenheit besteht auch zum Trainer. Sollte dieser nämlich seine Taktik beispielsweise so einstellen, dass er angesichts eines starken Gegners von vornherein eine knappe Niederlage einkalkuliert und deshalb eine rein destruktive Ausrichtung wählt, so wird die mögliche Rollenflexibilität der Spieler unterdrückt und ein gutes Handballspiel beträchtlich erschwert.

Die Spieler sind aber ebenso auf das Zuschauerverhalten angewiesen; denn nachweislich können Zuschauer die Spielqualität nicht unerheblich beeinflussen. So gibt es typische "Heimmannschaften", denen der Nimbus der Unbesiegbarkeit anhaftet, die in vertrauter Umgebung und nur vor den eigenen Fans ihre Spielfreude und Spielkunst "abrufen" können, also gut spielen. Andererseits: Vor leeren Rängen zu spielen, wird nur selten zu spielerischer Improvisation und Erfindungsreichtum motivieren. Darin steckt zugleich der Hinweis, dass ein gutes Handballspiel nicht nur von den anderen abhängt, sondern auch von der sachlich bestimmten Umwelt, der Beschaffenheit der Halle oder anderen äußeren Bedingungen.

Das Angewiesensein auf das andere findet seinen inspirierenden Fixpunkt allerdings erst im Spielobjekt, im Handball. Dieser besondere Ball ist es, dem dieses Sportspiel seine eigentliche Attraktivität mitverdankt und Spieler wie Zuschauer mehr oder weniger in Atem hält. Die durch den Ball vorprogrammierte unkalkulierbare Mobilität entscheidet mit über die Dynamik, die Beschleunigung, also die Temporalisierung/ Timing des Spiels, dessen Lebendigkeit bedingt Kurz- oder Langeweile. Aber nicht nur das: Der Ball erzeugt Spannung im Spiel; er ist nicht durch und durch berechenbar, er eröffnet Raum für Unvorhersehbares; selbst Techniker wie Balic oder Kraus, die ihres exzellenten Ballgefühls wegen gerühmt werden, müssen sich ab und an vom Ball überraschen lassen, um dann wiederum blitzschnell der Überraschung Herr zu werden und ihrerseits durch einen gekonnten Umgang mit dem Ball für Überraschungen beim Gegner zu sorgen.

Alles oder fast alles wird im Handballspiel durch das Spielobjekt möglich und eröffnet trotz aller rationalen Vorkehrungen dem Zufall Tür und Tor, wobei auch die Spielregeln dafür sorgen, dass der Zufall stets seine Chance erhält. Ein gutes Handballspiel ist ein zufalloffenes, in dem also auch das Glück eine Rolle spielen kann.

Eine vom Subjekt ausgehende Anthropologie des Handballspiels kann, wie angedeutet, für ein qualitativ gutes Spiel ganz entscheidende Voraussetzungen ans Licht heben, indem sie diese auf Prinzipielles und Existenzielles des Menschen so rückbezieht, dass das Bild vom ganzen Menschen als Bewertungsmaßstab fungiert. Freilich müssen nicht sämtliche der hier angesprochenen Bedingungen gegeben sein, um eine gute Spielqualität zu garantieren. Dennoch sei an die vielfach belegte, empirische Aussage von Spielern und Trainern erinnert, die ein perfektes Spiel im Nachhinein so kommentieren: "Heute hat einfach alles gepasst!"

In dieser schlichten Feststellung zeigt sich, dass offenbar viele Faktoren i. S. der zuvor erörterten Voraussetzungen zusammentreffen müssen, um sich an einem guten Handballspiel begeistern zu können. Ja, es spricht sehr viel dafür und wenig dagegen, dass ein gutes Handballspiel nur unter diesen Prämissen abläuft. Wenn das zutrifft, zeichnet sich ein Bild vom gelingenden, guten Handballspiel ab, das dem "halbierten" Menschen, der z. B. nur vom Verstand, vom Kopf her bestimmt wird, zuwider läuft. Es konnte gegenteilig demonstriert werden, dass ein gutes Handballspiel möglichst einen Alleskönner verlangt. Auch dafür gibt es gute empirische Gründe, die in der Aussage anklingen: "Dieses Spiel hat mir alles abverlangt!" Auf dieses "alles" kommt es an. "Alles" umfasst nicht nur die Kondition, sondern weitaus mehr! Der "ganze" Mensch wird gefordert: der Wille, seine Antizipationsfähigkeit, sein Vorstellungsvermögen, die Spielintelligenz, die Emotionen, die Anderen, seine Koexistenz, seine Fitness, vor allem seine Geschicklichkeit der Hand und Hände, aber auch die Kontingenz im Sinne des Glücks.

Dieser Gedanke legt einige Schlussfolgerungen nahe, zu denen primär folgende gehören.


Systematische Weiterführungen

Die vorangegangenen Ausführungen beabsichtigten, Umrisse einer möglichen Anthropologie des Handballspiels freizulegen, die in der Gegenwart wie auch in der Vergangenheit innerhalb der Sportspielforschung ein absolutes Desiderat darstellen und Zeugnis dafür ist, dass diese Forschung sowohl an einem verengten Forschungs- und Wissenschaftsverständnis leidet, wie auch der Tatsache der komplexen Spielwirklichkeit unrecht tut. Eine Anthropologie, die in ihrer Mitte das Handballspiel hat, fragt allgemeiner und grundsätzlicher als die hochgradig spezialistische detailversessene Sportspielforschung nach der Bedeutung der Handballspielpraxis für den Menschen und dem, was sich als genuin Menschliches in diesem Spiel artikuliert, was jedoch nur eine anthropologische Ansatzmöglichkeit von anderen ist.

Da sich in der philosophisch-anthropologischen Forschung alles um das Selbstverständnis des Menschen dreht, ist und war es nur konsequent, Bilder vom Menschen zu entwerfen, die teilweise, in normativer Absicht, den Status von Leitbildern erhalten, die menschliches Verhalten insgesamt orientieren wollen und daher auch eine kritische Beurteilungsinstanz abgeben. Ein solches ist das Bild vom "ganzen Menschen", das erstmalig eine Führungsrolle in Schillers Zugang zum "homo ludens" übernahm, welches allerdings nicht hinreichend ausformuliert wurde. Einmal ausgeklammert, dass das Modell vom "ganzen Menschen" in den wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskursen länger schon, sowohl in der Medizin, in der Ökologie, der Philosophie, wie auch in anderen Bereichen Konjunktur hat, ist es geeignet, als ein Anknüpfungspunkt für eine Anthropologie des Handballspiels zu dienen.

Weiterführende Überlegungen, denen am Ausbau einer solch spezifischen Anthropologie gelegen ist, müsste es darum zu tun sein, die Besonderheiten der Hand im Handballsport als anthropologisches Datum zu würdigen. Die Hand, vornehmlich die geöffnete Hand, symbolisiert die Weltoffenheit des Menschen. Es ist zu vermuten, dass das letzte Geheimnis der Faszination dieses Spiels in den eigentümlichen Aktivitäten der Hand besteht oder auf den eigentümlichen Aktivitäten der Hand beruht. Die Hand ist in dieser Praxis das, was der Fuß dem Fußballsport. Die verblüffende Bildsamkeit der Hand, dem gekonnten Einsatz und Umgang mit dem Ball, Abbild der menschlichen Plastizität überhaupt, gewährleistet einen unübersehbaren Andrang von Spielsituation und Spielelementen. Obwohl in nahezu allen Sportarten die Hand in irgendeiner Form "mit im Spiel ist", man sogar von handorientierten Sportarten sprechen könnte, die nebenbei eine Klassifizierung gemäß der Gebrauchsweisen der Hand gestatten würde (z. B. die Hand in Verbindung mit Instrumenten, wie dem Ball oder auch ohne, wie im Kampfsport), wo das Handballspiel eine Art Königsdisziplin ist, ist eben diese Hand als Charakteristikum, als anthropologische Herausforderung noch nicht erkannt worden. Nur wenn dies geschieht, kann die Handballspielpraxis als tiefes sinnliches Geschehen, das freilich "geistig" durchtränkt ist, als ein letztlich ästhetisches Phänomen in der Sportlandschaft angemessen gewürdigt werden.

Außerdem wäre es reizvoll, einen Vergleich der anthropologischen Elemente zwischen den verschiedenen Sportarten vorzunehmen, mit dem Ziel, anthropologische Strukturen der jeweiligen Sportarten aufzuzeigen. Vielleicht könnte sich ja herausstellen, dass es so etwas wie eine anthropologische Strukturähnlichkeit zwischen den Sportarten gibt, etwa zwischen dem Handball und dem "großen Bruder" Fußball. Liegt deren möglicher anthropologischer Strukturunterschied "nur" im Fuß und in der Hand?

Und vorerst zu guter Letzt: Die auf Schiller zurückgehende Interpretation des "homo ludens" als Prototyp des "ganzen" Menschen wurde bei ihm in ein spezifisches Konzept von ästhetischer Erziehung und Bildung eingelagert, das nachweislich durch Bausteine, sowohl einer pädagogischen wie auch philosophischen Anthropologie, eingerahmt wird (vgl. MEINBERG 2008).

In systematischer Fortführung und Reformulierung sowie Akzentuierung dieses Ansatzes könnte es recht lohnend sein, eine Anthropologie des Handballspiels mit einer ästhetisch orientierten Bildungsforschung zu verknüpfen, die sowohl reflexiv wie auch empirisch verfahren könnte.


Literatur bei den Autoren.


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Prof. Dr. Dr. h. c. Eckhard MEINBERG ist, nach einem zweijährigen "Gastspiel" als Professor an der Universität Bochum, seit 1979 ordentlicher Professor für Pädagogik und Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik am Institut für Pädagogik und Philosophie der DSHS Köln. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen (Monographien und Aufsätze) auf den Gebieten der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, der Anthropologie, der Angewandten Ethiken und der sportpädagogischen Grundlagenforschung vorgelegt. Sein jüngstes Forschungsinteresse gilt u.a. der Dopingprävention bei Kindern und Jugendlichen.
E-Mail: meinberg@dshs-koeln.de


Dr. Carsten KRUSE, Diplomsportlehrer, ist, nach einer dreijährigen Assistenzzeit an der Universität Bochum, seit 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik und Philosophie. Neben seinem besonderen Interesse für das erziehungswissenschaftliche Schwerpunktstudium im Rahmen der Sportlehrerausbildung beschäftigen sich seine Forschungsarbeiten u.a. mit den Themen Sport und Gesundheitsbildung, Schul- und Schulsportentwicklung sowie Vorbilder im Sport, was auch in entsprechenden Veröffentlichungen zum Ausdruck kommt.
E-Mail: c.kruse@dshs-koeln.de


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Quelle:
F.I.T.-Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln
Nr. 1/2009 (14. Jahrgang), Seite 30-36
Herausgeber: Univ.-Prof. mult. Dr. Walter Tokarski
Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln
Deutsche Sporthochschule Köln
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F.I.T. Wissenschaftsmagazin erscheint zweimal pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2009