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GESCHICHTE/096: Dr. Jochen Staadt - Verklärung des DDR-Sports ist ein Reflex (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 41 / 7. Oktober 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Dr. Jochen Staadt: Verklärung des DDR-Sports ist ein Reflex
Eigeninitiative und Bereitschaft konnte sich kulturell nicht entwickeln

Von Holger Schück


Erinnerung bewahren und Geschichte verstehen: Diese Leitgedanken sollten auch für den Sport gelten, wenn über den Prozess des Zusammenwachsens von Deutschland-Ost und Deutschland-West und die gelebte Einheit 18 Jahre nach der Vollendung der deutschen Einheit nachgedacht und diskutiert wird. Endlich volljährig: Am Feiertag 3. Oktober, als die deutsche Einheit in das Erwachsenenalter eintrat, war dazu Gelegenheit. Diese Rückschau-Gebote sind hochaktuell, weil in den letzten Wochen in Umfragen zwischen Rügen und dem Erzgebirge ein Mangel an Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft ermittelt wurde. Unbestritten leistet der Sport in den neuen Bundesländern seinen gesellschaftlichen Beitrag, unsere freiheitliche Gesellschaft zu stabilisieren und ihr wichtige Impulse zu geben. Dies ist eminent wichtig, denn immer mehr Enttäuschte kultivieren die nostalgische Stimmung, in der DDR sei doch trotz aller Schattenseiten real ein menschliches Leben möglich gewesen. Für dieses freundliche DDR-Bild zeuge der damalige Hochleistungssport, heißt es immer wieder.

Der Politikwissenschaftler Dr. Jochen Staadt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, deutet dieses Phänomen so: "Die Verklärung des DDR-Sports durch ehemalige DDR-Bürger hängt damit zusammen, dass es nach wie vor in der deutschen Einheit bestimmte Probleme gibt, die dazu führen, dass sie sich als Bürger zweiter Klasse fühlen. Wenn man in diesem Bewusstsein lebt und sagt, wir werden hier schlechter bezahlt als die Bundesbürger in den Altländern, welche die gleiche Leistung im Arbeitsalltag bringen, dann möchte man sich an etwas aufrichten. Und man richtet sich daran auf, wenn man feststellt: Wir waren damals leistungsstärker als die Bundesrepublik - zumindest im Sport."

Fragezeichen bleiben, wie sich der Vereinssport in den neuen Bundesländern weiter entwickeln wird. Während beispielsweise im Saarland 41 Prozent der Bevölkerung in Sportvereinen organisiert sind, liegt die Quote in Brandenburg noch nicht einmal bei elf Prozent. Dieses Gefälle ist in der ökonomischen Schwäche privater Haushalte begründet. Doch es gibt nach Ansicht des Politologen Staadt auch andere Gründe: "Das Vereinswesen, wie es sich traditionell mit seinem historischen Hintergrund in der alten Bundesrepublik entwickelt hat, fördert das Engagement der Bürger. Hingegen hat die staatlich durchorganisierte Struktur des DDR-Sports eigentlich dazu geführt, dass die Eigeninitiative und Bereitschaft, sich für etwas zu engagieren, kulturell gar nicht entwickelt ist und sich nicht entwickeln konnte. Die Bevölkerung wurde eingebunden; es wurde alles gelenkt und gesteuert; man wurde gerufen oder nicht gerufen; man konnte gefördert werden oder nicht gefördert werden. Freie Sportvereine leben davon, dass sie Bürger gewinnen, die einfach Spaß an der Freude haben und die nicht vom Staat gerufen oder von irgendeiner Aufsichtsperson ausgesucht werden müssen. Das Engagement muss in den neuen Bundesländern neu entstehen. So etwas ist leider ein langer Prozess."

Ein weiterer Indikator für den vergleichsweise niedrigen Organisationsgrad des Vereinssports sei der demographische Wandel und die spezielle soziokulturelle Situation, unterstrich Staadt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: "Die Aktiven, die Jungen, die eine Zukunft in Leistung und in der Bereitschaft sehen, etwas zu tun, sind zu Hunderttausenden in die alten Bundesländer abgewandert. Das ist ein Problem, was in vielen Regionen der neuen Bundesländer besteht. Die Kräfte, die Sportvereine tragen und sich dort engagieren, haben ihr Leben woanders gesucht." In der Rückschau des Untergangs der DDR wird festgehalten, dass mit der friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein Staatssportsystem abgeschafft wurde und als Effekt seit 1992 der gesamtdeutsche Medaillenerfolg kontinuierlich zurückgeht. Das Ende der Versorgungsdiktatur DDR und der Gewinn der Freiheit hatten dies zur Folge. Jochen Staadt resümiert: "Der Sport zur DDR-Zeit war eines der wenigen gesellschaftlichen Felder, in denen es wirkliche Identifikationen mit dem System gab. Das wirkt bis heute bei den Bürgern in den neuen Bundesländern nach, die die DDR-Zeit noch bewusst erlebt haben. Die erfolgreichen DDR-Sportler wurden von der Bevölkerung hoch geschätzt. Das Regime hatte es erreicht, dass eine sehr weitreichende Identifikation mit dem bestand, was die DDR an Außenrepräsentation im Sport geschafft hat. Insofern hört man, wenn man sich mit früheren DDR-Bürgern unterhält, auch häufig diesen etwas ironischen Hinweis, wie gut die DDR im Sport war und wie sehr das nach der Wiedervereinigung zusammengebrochen ist. Empfohlen wird dann, dass doch heute die Bundesrepublik, die Sportverbände und die Trainer von den Errungenschaften des DDR-Sports lernen sollten. Das ist meines Erachtens eine fatale Empfehlung."

Zu den aktuellen Stichworten Zentralisierung und Leistungssteuerung, überhaupt zum Nachdenken im deutschen Spitzensport über Strukturveränderungen, um eine Effektivitätssteigerung für die Olympischen Spielen 2012 in London zu erreichen, stellt der Berliner Politikwissenschaftler und DDR-Experte prinzipiell fest: "Sportorganisationen können natürlich darüber nachdenken, ob man etwas zentralisiert. Aber ich meine, grundsätzlich sollte man daran erinnern: Nicht nur die DDR, sondern die anderen sozialistischen Diktaturen und auch andere Diktaturen wie der Nationalsozialismus hatten diese Hybris entwickelt, dass man durch den Sport die Überlegenheit des Systems zeigen könnte. Ich finde, man sollte sich nicht darauf einlassen, dass sich ein Land wie die Bundesrepublik unbedingt an einem großen Staat wie China oder auch an bevölkerungsreichen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Russland misst."

Selbstverständlich sei, dass Deutschland im inoffiziellen Medaillenspiegel der Olympischen Spiele nicht die Nummer eins oder die Nummer zwei werden könnte. Das sei wegen der relativ kleinen Bevölkerungszahl von 83 Millionen Einwohnern gar nicht möglich. Jochen Staadt, der im Forschungsverbund SED Staat etliche Details über die Durchherrschung des Sports durch die kommunistische Partei erforscht hat, unterstreicht die Schattenseiten des damaligen zentralistischen Sportsystems: "Die DDR hat es mit einem gewaltigen System der Durchorganisation, aber auch durch einen Zwangsapparat erreicht, dass sie im Hochleistungssport an der Spitze der Welt stehen konnte. Die Erfolge in den internationalen Sportarenen standen dabei in keinem Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl. Aber ein solches System kann man sich nicht wünschen. Es war nämlich verbunden mit allen möglichen Zwängen. Eng verknüpft war es auch mit der Hintergehung des Sportgeistes. Das flächendeckende Staatsdoping und der systematische Missbrauch von Jugendlichen sind beredte Zeugen hierfür. Oberstes, unumstößliches Gebot ist: Der Sport muss frei sein. Deshalb kann sich eine freie Gesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland nicht an solchen Staatssystemen orientieren."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 41 / 7. Oktober 2008, S. 13
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2008