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GESCHICHTE/115: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 19 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 6 / 3. Februar 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1955/III: Einführung des Lotto bereitete dem deutschen Sport Sorgen
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 19)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Große Sorgen hatte die bevorstehende Einführung des Zahlenlottos neben dem Fußballtoto in den Bundesländern den DSB-Verantwortlichen und den Vorständen der Landessportbünde bereitet. DSB-Präsident Willi Daume hatte deshalb im Hinblick auf Befürchtungen über einen Rückgang der Zuschüsse aus den Toto-Erlösen im Oktober 1955 den folgenden Brief an die Ministerpräsidenten der Bundesländer geschrieben:

"Sehr verehrter Herr Ministerpräsident,

es verdichten sich die Nachrichten, daß in Kürze mit der Einführung des Lottos in allen Bundesländern zu rechnen ist. Ich bin auch darüber informiert worden, daß nahezu alle Länderkabinette diesen Beschluß nur nach schweren Bedenken und aus dem Grunde gefaßt haben, weil es nicht gelungen ist, Berlin zur Einstellung des dort schon betriebenen und das ganze Bundesgebiet abschöpfenden Lotto-Glückspiels zu bewegen. Wenn das zutrifft, so werden Reaktionen ausgelöst, auf die rechtzeitig hinzuweisen ich für meine staatsbürgerliche Pflicht halte.

Die Einstellung der breiten Schichten des Volkes zum Staat beruht bekanntlich nicht auf der Wirkung ethischer Traktate, sondern auf handgreiflichen praktischen Erfahrungen. Was soll der "Mann auf der Straße" - in diesem Falle besonders der einfache Sportler oder Turner - davon halten, daß eine Maßnahme generell durchgeführt werden muß, obwohl sie von nahezu allen Länderregierungen "eigentlich" abgelehnt wird und obwohl jedes einzelne Kabinett, wenn ich die Dinge richtig sehe, diese Maßnahme in alleiniger Zuständigkeit ablehnen könnte. Wenn ein Land alle übrigen Länder praktisch zwingen kann, etwas durchzuführen, was diese für falsch halten, so mag das möglicherweise - jedenfalls geht es mir so - als eine Diskreditierung des föderalistischen Staatsprinzips empfunden werden; bedenklich ist aber, daß die breiten Schichten mutmaßen werden, die Länder hätten sich, aus fiskalischen Gründen allzugern dem 'Zwang' gebeugt. Im Gesamtergebnis wird dem im Volk aus vergangenen Zeiten sowieso noch immer latent schlummernden Verdacht einer 'Staatsmoral mit doppeltem Boden' neue Nahrung zugeführt. Mit einer ebenso höflichen wie dringlichen Bitte gestatte ich mir daher die Anregung, Ihre Entscheidung noch einmal zu überprüfen.

Sollten Sie aber auf Ihrem Kabinettsbeschluß bestehen, so muß ich Sie auf folgendes aufmerksam machen: Seit einem halben Jahr etwa ist von der deutschen Öffentlichkeit endlich die akute Gefahr des biologischen Verfalls des Volkes erkannt worden. Die Statistiken über die bereits eingetretenen Schäden haben den Bundestag, die Länderparlamente, die Parteiführungen alarmiert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist ebenso überzeugt davon, daß etwas Entscheidendes geschehen muß, wie alle Arbeitgeberverbände und die Träger der Sozialversicherungen. Die Kultusminister aller deutschen Länder haben Maßnahmen eingeleitet, durch eine Intensivierung der Leibeserziehung an den Schulen der bedrohlichen Entwicklung vorzubeugen. Wohn- und schulnaher Übungsstättenbau ist die Voraussetzung für den Erfolg aller

dieser Bestrebungen. Der Übungsstättenbau ist bisher getragen worden von den Mitteln, die den Ländern und den Sportverbänden aus dem Ertrag des Totos zugeflossen sind. Es ist erwiesen, daß die Erträge des Fußball-Totos nach Einführung des Lottos empfindlich zurückgehen. Es ist also mit Sicherheit zu erwarten, daß die bisher den Sportverbänden und den Ländern für die Sportförderung zur Verfügung stehenden Mittel erheblich absinken werden.

Eines kritischen Vergleichs zwischen Fußball-Toto und Lotto muß ich mich enthalten. Eine solche Kritik stünde in der Gefahr, als Interessenurteil gewertet zu werden, obwohl der Deutsche Sportbund weder unmittelbaren noch mittelbaren Anteil an Toto-Ausschüttungen hat; bekanntlich verbleiben diese Mittel ausschließlich in den Ländern. Die Gesunderhaltung der Jugend und des Volkes und die Bekämpfung der ständig wachsenden Zivilisationsschäden aber sind nicht nur allgemeinnützige Aufgaben, sondern Bestrebungen von offensichtlicher staatspolitischer Bedeutung.

Bitte, verstehen Sie daher meine eindringliche Bitte, die ich im Namen von fünf Millionen Turnern und Sportlern der Bundesrepublik ausspreche, daß die bisher für die Förderung des Sports und des Übungsstättenbaus aufgewendeten Mittel sowohl den staatlichen Stellen wie den Sportverbänden in gleicher Höhe weiter zur Verfügung gestellt werden. Sollte das durch den Rückgang der Totoeinnahmen infolge der Einführung des Lottos nicht mehr möglich sein, so bitten wir um eine Abänderung des derzeitigen Verteilungsschlüssels oder um andere geeignete Maßnahmen, die die Bereitstellung der Mittel in bisheriger Höhe sicherstellen.

Ich unterbreite Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, diese Bitte in dem Bewußtsein, damit nicht für eine Interessengruppe zu sprechen, sondern als Sachwalter einer volkspolitisch wichtigen, gemeinnützigen Aufgabe. Ich weiß, daß der größte Teil der deutschen Öffentlichkeit hinter dieser Bitte steht. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich wissen ließen, ob ich auf die Erfüllung meiner Bitte rechnen kann.

Unter freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Willi Daume - Präsident des Deutschen Sportbundes."


Doch die Befürchtungen der Sportführer traten nicht ein, brachten doch alle Regierungschefs in ihren Antwortschreiben zum Ausdruck, dass die Sportförderung durch die Einführung des Lottospiels nicht beeinträchtigt werden sollte. Wie wir heute wissen, hielten die Ministerpräsidenten Wort, und die Sportförderung auf der Länderebene wurde durch die zusätzlichen Lottomittel in den folgenden Jahren sogar erheblich verstärkt.


Die Leibeserziehung in der Schule und die deutschen Kultusminister

Mit welcher kritischen und berechtigten Besorgnis die führenden Persönlichkeiten des Sports in den Nachkriegsjahren auf die Erklärungen der Kultusministerkonferenz und die dann tatsächlich folgenden konkreten Ergebnisse schauten, macht der Beitrag von Heinrich Sorg vom Sommer 1955 deutlich:

"Seit Jahrzehnten wird im deutschen Volke um grundsätzliche Veränderungen und Verbesserungen in der Lebensauffassung gerungen. Schwankungen, die von einem Extrem ins andere gingen, können reichlich verzeichnet werden. Den richtigen Weg ausfindig zu machen, wäre nie schwer gewesen, wenn Erfahrungen und Beispiele anderer Länder mitbeachtet worden wären. Es schien aber immer so, als seien die deutschen Intellektuellen zu stolz, Wissen aus anderen Ländern mit heranzuziehen. Die Folge davon war schon immer, daß notwendige Veränderungen unter dem Drucke der Ereignisse erfolgten, nicht aber aus freier Erkenntnis.

Die 'Demokratie' wurde nicht von dem deutschen Volk aus eigener Erkenntnis und aus freien Stücken übernommen, sondern jeweils von außen aufgedrängt. Wie schlecht dies ist, bestätigte der Zusammenbruch der Weimarer Republik, und wie bitter es ist, der Weltentwicklung zu trotzen, hat das deutsche Volk erneut erfahren. Man kann annehmen, daß auf diesem Gebiete der Erfahrungsprozeß eine endgültige Entscheidung gebracht hat. Genauso wie bei der 'Demokratie' liegen in Deutschland die Verhältnisse, wenn es sich um 'Leibeserziehung' handelt. Auch hier geht es fortgesetzt auf und ab. Zu einer festen Haltung und klaren Überzeugung ist es in der deutschen Pädagogik in der Präge der Leibeserziehung nie gekommen. Auch die Organe des öffentlichen Lebens haben Leibeserziehung nur als fünftes Rad am Wagen angesehen, das man je nach Bedarf oder nach Ausnützungsmöglichkeit einmal auswechseln kann. In dem Land, in dem die Leibeserziehung ihre Geburtsstätte hat, konnte sie bis heute nicht den Rang erreichen, der ihr in vielen anderen Ländern längst aus innerer Überzeugung eingeräumt wurde.

Die Katastrophe scheint also noch nicht groß genug zu sein. Noch können unsere Kinder auf ihren Beinchen stehen. Heute, im Jahre 1955, steht das gleiche Thema auf der Tagesordnung, wann endlich in der deutschen Schule Leibeserziehung zu einem festen Bestandteil der Gesamterziehung werden soll. Das ist ein äußerst blamabler Zustand, aber er ist vorhanden. Die deutschen Turn- und Sportorganisationen haben seit eh und je um die Einführung der Leibeserziehung in der deutschen Schule gekämpft. Sie sind auch jetzt wieder auf den Plan getreten, weil sie sich für die körperliche Gesundheit unserer Kinder verantwortlich fühlen. Die deutschen Sportorganisationen erfüllen damit ihre staatsbürgerliche Pflicht, wenn sie dem deutschen Volke die Bedeutung der Leibeserziehung nachweisen. Für die deutschen Schulen sind die deutschen Kultusministerien zuständig und verantwortlich.

An diese Ministerien gingen deshalb die ersten Aufforderungen, der Leibeserziehung in den Schulen endlich mehr Beachtung zu schenken. Allgemeine Forderungen hatten jedoch keinerlei Erfolg. Nachweise, daß in anderen Ländern enorme Erfolge durch die Leibeserziehung in den Schulen auf gesundheitlichem und erzieherischem Gebiet erzielt wurden, machten keinen Eindruck. Genau wie bei dem Problem 'Demokratie'; man störte sich einfach nicht an guten Beispielen anderer Völker. Außerdem waren ja die materiellen Interessen unserer Menschen durch den Zusammenbruch so wichtig geworden, daß man für kulturelle und erzieherische Probleme kaum Interesse hatte. Die Leibeserziehung war bis jetzt uninteressant, trotz aller billigen Versicherungen, daß man 'Verständnis' hierfür habe.

Die deutschen Sportorganisationen griffen nun zu ihrem stärksten Argument und legten Ziffern über den Gesundheitszustand unserer Kinder vor, die erschreckend sind, Diese Ziffern wurden durch Statistiken deutscher Versicherungsträger, die auch das enorme Absinken des Gesundheitszustandes der Erwachsenen darlegten, ergänzt. Erst diese Ziffern veranlaßten unsere deutschen Kultusminister, nun doch wenigstens das Gespräch mit den deutschen Sportorganisationen aufzunehmen. Am 29. April 1955 fand die erste große Unterhaltung zwischen Vertretern der deutschen Sportorganisationen, einschließlich ihrer wissenschaftlichen Zweigorganisationen, wie Sportärzte, Leibeserzieher, Institute für Leibeserziehung, Lehrerverbände, und den deutschen kommunalen Spitzenbehörden statt.

Es war ein reiches Aufgebot an Persönlichkeiten, denen allerdings zu einer umfassenden Aussprache keine entsprechende Zeit zur Verfügung stand. Die dreieinhalb Stunden währende Zusammenkunft konnte nur ausgefüllt werden mit Darlegungen, die von beiden Seiten zur Erläuterung des Problems notwendig waren. Aber unbeschadet dessen, daß am Ende eine gemeinsame Fassung gefunden wurde, die als Ausgangspunkt zu betrachten ist, muß mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, daß diese Aussprache keine Heldentat war. Wenn im Jahre 1955 deutschen Kultusministern erst der Nachweis erbracht werden muß, daß Leibeserziehung an den Schulen notwendig sei, dann ist dies ein blamabler Zustand. Die deutschen Kultusminister müssen begreifen, daß Leibeserziehung international als ein absoluter Bestandteil der Gesamterziehung anerkannt ist. Hierzu bedarf es nicht mehr der Zustimmung der deutschen Kultusminister. Die deutschen Kultusminister haben lediglich die Wahl, sich dieser Entwicklung schnell und freudig anzuschließen oder weiterhin die blamierten Rückständigen zu spielen.

Dies muß den deutschen Kultusministern klar und deutlich gesagt werden, denn aus dem Verlauf der Tagung konnte man unschwer entnehmen, daß in unseren deutschen Kultusministerien nach wie vor die innere Überzeugung fehlt, daß Leibeserziehung ein fester Bestandteil der Gesamterziehung sein muß. Wäre es anders, dann hätte am Beginn der Darlegungen des Sprechers für die Kultusminister klar und deutlich der Satz stehen müssen: 'Jawohl, wir stellen uns bedingungslos hinter Ihre Forderung nach Gleichstellung der Leibeserziehung in den Schulen, laßt uns gemeisam beraten, wie wir am schnellsten hierzu kommen.'

Stattdessen gab es langatmige Darlegungen, die mit Wenn und Aber ausgefüllt waren und immer wieder andere Bedürfnisse als wichtiger hinzustellen versuchten. Das ist dieselbe Platte, die jeder in Anspruch nimmt, wenn er bessere Entschuldigungen nicht zur Hand hat. In das gleiche Horn blies der Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, und ihm schloß sich der Vertreter des Deutschen Landkreistages an, der nun gar noch behauptet, auf dem Lande seien die Kinder alle gesund. Die Vertreter der deutschen Sportorganisationen hatten sich vorgenommen, diese Tagung in der freundschaftlichsten Weise durchzuführen und verhielten sich auch demgemäß. Man hatte auch während der Tagung die Hoffnung, daß am Ende eine bedingungslose Zustimmung von den Kultusministern erreicht werden würde, daß Leibeserziehung ein fester Bestandteil der Gesamterziehung werden soll.

Als in dem Kommuniqué jedoch ein solcher Hinweis fehlte und der Präsident Daume um die Hinzufügung bat, erfolgte sofort Widerspruch eines Kultusministers, so daß sich der Versammlungsleiter gezwungen saß, zu erklären, daß die Beschlüsse der deutschen Kultusministerkonferenz nur einstimmig gefaßt werden können. Hier offenbart sich die ganze Tragik, mit der wir es zu tun haben. Daran ändert auch nichts, daß schließlich der Ausweg gefunden wurde, wie er in dem nachfolgenden Kommuniqué zum Ausdruck kommt, denn dem Hinweis, daß die Kultusminister schon vor einigen Jahren entsprechende Beschlüsse gefaßt hätten, folgte die berechtigte Frage, was denn zur Durchführung inzwischen getan worden sei.

Die deutschen Turn- und Sportorganisationen müssen der wahren Situation nach wie vor ins Auge sehen und ihren Kampf um die Anerkennung der Leibeserziehung unbeirrt weiterführen. In den einzelnen Ländern müssen die Landessportbünde mit aller Energie darauf dringen, daß in den Landesregierungen Entscheidungen in dieser Frage gefällt werden. Die Kultusminister sind in den einzelnen Ländern selbständiger in ihren Entscheidungen als es eine Kultusministerkonferenz ist. Das Schwergewicht bleibt demnach auf der Landesebene. Die Probe aufs Exempel, ob die Konferenz in Koblenz einen wirklichen Fortschritt darstellt, werden die Ergebnisse zeigen, die durch die zu bildenden Arbeitsausschüsse erarbeitet werden sollen. Wir lassen uns überraschen."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 6 / 3. Februar 2009, S. 35-38
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009