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GESCHICHTE/127: Vor vierzig Jahren in Berlin - Jugend in der Mitverantwortung (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 16 / 14. April 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Vor vierzig Jahren in Berlin: Jugend in der Mitverantwortung
Helmut Schmidt Hauptreferent bei der Jahrestagung der Deutschen Sportjugend

Von Friedrich Mevert


Die Position der Sportjugend in Politik und Jugendarbeit stand im Mittelpunkt der Beratungen der führenden Mitarbeiter der Deutschen Sportjugend vor vierzig Jahren am 26. und 27. April 1969 in Berlin. Im Europa-Genter wurde zunächst die turnusmäßige Jahrestagung unter dem Thema "Jugend in der Verantwortung" durchgeführt. Anschließend befasste sich eine außerordentliche Vollversammlung der DSJ mit dem gespannten Verhältnis der Sportjugend zu den anderen Mitgliedsorganisationen des Deutschen Bundesjugendringes (DBJR).

Der DSJ-Vorsitzende Dieter Buchholtz begrüßte zu Beginn der Jahrestagung zahlreiche Gäste aus Politik und Sport, an ihrer Spitze den Berliner Senator für Jugend, Sport und Familie, Horst Korber (SPD), den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Helmut Schmidt, den Staatssekretär im Bundesministerium für Familie und Jugend, Dr. Heinrich Barth (CDU) und das Mitglied des Präsidiums des Deutschen Sportbundes (DSB), Gerhard Schlegel. Buchholtz bezeichete dabei Staatssekretär Barth als Vertreter des Ministeriums, "von dem zwar nicht unser Wehe, aber unser Wohl abhängt". Er bezeichnete es als die Aufgabe der Berliner Tagung, für die 70er Jahre neue Schwerpunkte der Jugendarbeit in den 37.000 Turn- und Sportvereinen zu setzen. Senator Korber sprach sich für eine "sinnvolle und behutsame Sportpolitik" und eine systematische Sportförderung auf dem Weg der Zusammenarbeit von Sportverbänden und Staat "in gleichberechtigter Partnerschaft" aus. Trotz Mexico und München, so betonte er, spiele der Sport in unserer Gesellschaft noch nicht die ihm gebührende Rolle. Zur Auseinandersetzung der DSJ mit dem Bundesjugendring sagte Korber, er könne nicht Partei nehmen oder Verhaltensmaßregeln erteilen, sei aber der Ansicht, dass eine Organisation von der Größe der DSJ das Recht habe, "im Bundesjugendring angemessen, das heißt stärker, vertreten zu sein".

Die Zusammenarbeit der Sportjugend mit dem Jugendministerium beruhe auf der "gediegenen Grundlage" gegenseitiger Achtung und persönlicher Wertschätzung, versicherte Staatssekretär Dr. Barth in seiner Begrüßungsrede. Dass die Sportjugend die mit Abstand größte Jugendorganisation sei, sollten auch jene bedenken, die meinten, die DSJ leiste keine vollwertige jugendpflegerische Arbeit. Die Themenstellung der Berliner Tagung der DSJ nannte der Staatssekretär "politisch bedeutungsvoll". Zur Auseinandersetzung mit dem Bundesjugendring sagte er, wie Senator Korber wolle er Zurückhaltung üben und keine "Empfehlung oder Mahnung" aussprechen. Er fügte aber hinzu: "Was immer Sie morgen tun werden, wir werden ihre Entscheidung respektieren. Auch dann werden Sie auf uns bauen können."

Für den DSB-Präsidenten Willi Daume und das Präsidium des DSB sagte das Präsidialmitglied Gerhard Schlegel, in der Jugendarbeit sei gewiss nicht immer die große Zahl entscheidend, aber wenn hinter der großen Zahl - wie bei der Sportjugend - auch die große Leistung stehe, dann müssten entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Wörtlich sagte er: "Die Deutsche Sportjugend braucht ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen". Die bevorstehenden Entscheidungen der DSJ würden "tief in die bisherigen Beziehungen der deutschen Jugendverbände eingreifen".

Hauptreferent der Jahrestagung der DSJ war der spätere Bundeskanzler und damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Helmut Schmidt. In seinen Ausführungen zum Thema "Jugend in der Verantwortung" vermied Schmidt jede Stellungnahme zur Auseinandersetzung zwischen DSJ und Bundesjugendring, lobte aber die Arbeit der DSJ, insbesondere ihre Verdienste um die Olympiafahrten der deutschen Jugend und den deutsch-israelischen Jugendaustausch. Er bedauerte, daß es noch nicht zu einem regen gesamtdeutschen Jugend- und Sportaustausch gekommen sei. Schmidt plädierte für internationale Sportveranstaltungen und Meisterschaften ohne politische Auflagen und sagte, die deutsche Frage könne "nicht vom Stadion aus gelöst" werden. Was dort an politisch gemeinten Demonstrationen oder Manifestationen geschehe, bedeute völkerrechtlich keine Änderung der Tatbestände. Die Teilnahme von Sportlern aus beiden Teilen Deutschlands an internationalen Sportveranstaltungen und Wettkämpfe zwischen Sportlern der Bundesrepublik und der DDR hätten "dem Miteinander und nicht dem Gegeneinander der Deutschen" zu dienen. Schmidt sprach die Erwartung aus, dass nach dem Ja zu den Olympischen Spielen 1972 die Länderinnenminister in Kürze eine Empfehlung erhielten, das Zeigen der DDR-Flagge und das Spielen der DDR-Hymne nicht länger als "Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" anzusehen und zu ahnden.

Auch Helmut Schmidt befürwortete, wie Senator Korber, eine ständige Zusammenarbeit zwischen Staat und Sport. Er schlug vor, diese Zusammenarbeit in einem Deutschen Sportrat zu institutionalisieren und in diesem Gremium den dauernden Meinungsaustausch zu pflegen. Es bedürfe einer "Koordinierungsfläche zwischen dem sich selbst verwaltenden Sport einerseits und den Behörden und Parlamenten von Bund und Ländern andererseits". Unter dem Beifall der Tagungsteilnehmer plädierte Schmidt auch für eine Zusammenfassung aller Kompetenzen von Jugend und Sport in einem einzigen Bundesministerium.

Im Hauptteil seines Referats würdigte Helmut Schmidt dann die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports. Für die Jugendarbeit sei die Erkenntnis wichtig, dass Demokratie nicht abstrakt gelehrt und gelernt werden könne, sondern konkret geübt werden müsse. So seien z. B. die Resultate des politisch-theoretischen Unterrichts der höheren Schulen gewiss nicht im Sinne der Erfinder. Hingegen könne Demokratie in gesellschaftlichen Gruppen, und hier besonders im Sportverein, erfahren werden. Im Sport gehe es um das Gebot der Fairness, um mitmenschliches Verhalten, um Mannschaftsgeist und um "Gegnerschaft statt Feindschaft". Was der Sportler als Fairness erlerne, kenne der Politiker unter dem Begriff der "Toleranz". Es sei eine wichtige Aufgabe, die Jugend "zur Teilnahme und damit zur Mitverantwortung in unserer Gesellschaft zu bringen". Dies erfordere auch eine Demokratisierung der Turn- und Sportbewegung. Die Entsendung gewählter Jugendsprecher in die Vereinsvorstände bezeichnete Schmidt als überfällig und dringend nötig. Im Prinzip sei die verantwortliche Beteiligung der Jugend "unausweichlich", nur ihre Formen könnten noch experimentell erprobt werden.

Zum Verhältnis zwischen dem Staat und den freien Trägern auf dem Gebiet der Jugend- und Sportarbeit betonte der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion abschließend, der Staat solle im wesentlichen "nur anbieten und möglichst wenig selbst machen", jedoch seien die Angebote des Staates auf dem Gebiet der Bildung und Ausbildungsförderung noch weithin unzureichend und müssten wesentlich verbessert werden.

Im Anschluss an das mit viel Beifall bedachte Grundsatzreferat des - damals 50-jährigen späteren Bundesverteidigungsministers (1969 - 1972), Bundesfinanzministers (1972 - 1974) und Bundeskanzlers (1974 - 1982) berieten die Delegierten in vier Arbeitskreisen die Themen "Sportjugend und Politik" (Referent Dr. Clemens Gzwalina), "Sportugend im geteilten Deutschland" (Referent Willi Knecht), "Sportjugend in der Gemeinschaft der Jugend""(Referent Hans Hansen) und "Sportjugend und eigene Führung"(Referent Dr. Jürgen Dieckert) und verabschiedeten dazu jeweils entsprechende Entschließungen.

Der Arbeitskreis 1 (Sportjugend und Politik) bekräftigte die bereits früher erarbeitete Stellungnahme über das Verhalten der Deutschen Sportjugend zu politischen Prägen. Er war der Auffassung, dass die Deutsche Sportjugend als Organisation Stellung nehmen soll:

1. Zu jugendpolitischen Fragen
Hierunter fallen Fragen, die das Wohl der jungen Menschen betreffen, z. B. Regelung des Jugendarbeitsschutzes, Fragen der Leibeserziehung der Jugend, übrige außerschulische Bildung.

2. Zu politischen Fragen moralisch-ethischer Art
Eintreten für die Verwirklichung der Menschenrechte und Verurteilung einer Verletzung. Die Deutsche Sportjugend hat entsprechend den Grundsätzen ihrer Jugendordnung in ihrer Erziehungsarbeit parteipolitische, konfessionelle und rassische Neutralität zu wahren. Dieser Grundsatz entbindet sie jedoch nicht davon, sich zu den oben aufgeführten Fragen auch dann zu äußern, wenn diese von den Parteien kontrovers behandelt werden.

Im Arbeitskreis bestand ferner Übereinstimmung, dass Stellungnahmen zu politischen Fragen im übrigen auch nur dann abgegeben werden sollen, wenn das beurteilende Gremium hierzu die erforderliche Sachkenntnis besitzt.

Im Arbeitskreis 2 (Sportjugend im geteilten Deutschland) gaben Referat und Diskussion der anwesenden Experten den übrigen Teilnehmern wertvolle Informationen und die Erkenntnis, dass für die Führungskräfte in der Turn- und Sportbewegung Sport und Politik zusammengehören müssen.

Dabei empfahl der Arbeitskreis, die nächste Vollversammlung unter das Thema "Die gesellschaftspolitische Stellung des Sports in der BRD und der DDR - Standort und Folgerungen" zu stellen.

Im Arbeitskreis 3 (Sportjugend in der Gemeinschaft der Jugend) "begrüßte die Sportjugend die Unruhe in der Jugend. Sie lehnte aber anarchistische Zeiterscheinungen ab und bekannte sich ausdrücklich zur Notwendigkeit von Auseinandersetzungen auf der Basis der Toleranz". Vom Bundesjugendring forderte die DSJ bei der Beschlussfassung über jugendpolitische Erklärungen eine Berücksichtigung der Größenordnungen und Aktivitäten der Verbände. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass eine Minderheit der organisierten Jugend das in der Öffentlichkeit als Auffassung der deutschen Jugend ausdrücke, was die Mehrheit gar nicht wolle. Der Arbeitskreis 4 (Sportjugend und eigene Führung) unterstrich in seinen Ergebnissen, dass eine Jugendordnung Basis aller Jugendarbeit auf allen Ebenen des Sports sein müsse, dass diese Jugendordnung auch das Wahlverfahren der Jugendvertretungen (Jugendwarte und Jugendsprecher) klar bestimmen müsse und dass dem Drängen der Jugend nach Mitbestimmung und Mitverantwortung in allen Vereinen und Verbänden des Sports entsprochen werden müsse.

In der abschließenden außerordentlichen Vollversammlung appellierten die Delegierten der DSJ an die Mitgliedsverbände des Deutschen Bundesjugendringes, "die dringend notwendige Reform des DBJR gemeinsam mit der DSJ durchzuführen". Sie würde es im Interesse der Jugendpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bedauern, wenn eine Ablehnung der Vorschläge der DSJ zum Austritt aus dem DBJR führen müsste. Da die in den folgenden Wochen fortgeführten Verhandlungen mit dem DBJR zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führten, erklärte als folgerichtige Konsequenz die Deutsche Sportjugend mit ihrem Beschluss vom 23. Juni 1969 den Austritt der DSJ aus dem DBJR.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 16 / 14. April 2009, S. 28-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2009