Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → FAKTEN

GESCHICHTE/247: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 85 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 28 / 13. Juli 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1971/V: Kirche und Sport: Die "Sozialdiakonischen Aufgaben"
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 85)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Mit einem neuen Begriff, der zugleich künftig eine weitere Aufgabe des modernen Sports darstellen sollte, stellte Martin Hörrmann, der damalige Sportpfarrer der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Rahmen der "Werkwoche Kirche und Sport" 1971 in der südbadischen Sportschule Steinbach die Probleme eines "Sozialdiakonischen Sports" zur Debatte. In seinen sechs Thesen, die von der Sozialisation von Jugendlichen in gesellschaftlichen Randgruppen durch Sport ausgingen, sah sich der gesamte Sport mit einem neuen Aspekt seiner sozialen Funktion konfrontiert, der mehr als bloßes Überdenken, vor allem aber neue Wege forderte:

"1. Der Sport bekommt in einer hochentwickelten Industriekultur mehr und mehr sozialdiakonische Aufgaben. Industriekulturen haben auf allen Gebieten Gewinnmaximierung zum Ziel. Der daraus resultierende Leistungs- und Erfolgsdruck verstärkt die Tendenz zur Randgruppenbildung, das heißt die Entstehung von Gruppen, die aus den verschiedenartigsten Gründen dem Leistungs- und Erfolgsdruck nicht gewachsen sind. Diese Feststellung ist objektiv gemeint. Es wird also die Frage nach einer eventuellen Schuld der Gruppenmitglieder ausgeklammert. Untersuchungen, die dazu vorliegen, weisen darauf hin, dass meistens nicht von einer Schuld im üblichen Sinne gesprochen werden kann. Solange es nicht möglich ist, ein Gesellschaftskonzept zu entwerfen und durchzusetzen, das die Entstehung solcher Randgruppen weithin unmöglich macht beziehungsweise auf eine kleine Zahl reduziert - und ich sehe diese Möglichkeit nicht -, sind alle Gruppen einer solchen Gesellschaft verpflichtet, sich um diese Randgruppen zu kümmern.

2. Der Sport als Großgruppe unserer Gesellschaft profitiert insgesamt wie alle anderen Gruppen auch, die dem Leistungs- und Erfolgsdruck gewachsen sind, vom allgemeinen Fortschritt. Umso mehr muss er sich um die kümmern, die einen besonders hohen und schmerzlichen Preis für den Portschritt bezahlen, die Randgruppen. Innerhalb des Sports entfällt in einer vernünftigen Aufgabenteilung die Fürsorge für jugendliche Randgruppen auf die Deutsche SportJugend.

3. 1966 bei der Verabschiedung der 'Charta des deutschen Sports' war diese Aufgabe so klar noch nicht erkennbar. Die Charta nennt als Aufgabe für die siebziger Jahre vier Hauptgebiete: Schulsport, Breitensport, Spitzensport und Sportwissenschaften. Die Charta verlangt eine gleichwertige Förderung. Die Charta fordert zur Erfüllung der Aufgaben eine partnerschaftliche Zusammenarbeit des Sports mit anderen Gruppen der Gesellschaft aus der Erkenntnis, dass die Aufgaben so groß sind, dass der Sport allein sie nicht erfüllen kann.
Wir stehen heute vor der Notwendigkeit, den Aufgabenkatalog der Charta fortzuschreiben und um die Aufgabe 'Sozialdiakonischer Sport' zu ergänzen. Diese Ergänzung muss gleichgewichtig und partnerschaftlich mit den schon festgelegten Aufgabenbereichen erfolgen. In Parallelität zu den entsprechenden Aussagen der Charta. Auf der Werkwoche 1970, die der Deutsche Sportbund mit den kirchlichen Akademien und den Arbeitskreisen 'Kirche und Sport' in Hannover abhielt, ist auf dieses wichtige Gebiet bereits in einer Resolution hingewiesen worden.

4. Gruppen, für die sozialdiakonischer Sport besonders wichtig ist, sind unter anderem körperlich und geistig Geschädigte, Verhaltensgestörte, Milieugeschädigte, Strafgefangene. Es müssen genaue Vorstellungen und Pläne entwickelt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es bis jetzt nur vereinzelt. Sie müssen weitergeführt und verbreitert werden. Eine enge Zusammenarbeit in gezielten Projekten zwischen Juristen, Medizinern, Psychologen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Übungsleitern und Sportwissenschaftlern ist zu gewährleisten.

5. Sozialdiakonischer Sport ist kein Alibi für die Investitionen im Hochleistungssport und dessen Fragwürdigkeiten. Wenn sozialdiakonischer Sport aus schlechtem Gewissen, als Feigenblatt gegenüber der Gesellschaft getrieben wird, ist er nicht richtig motiviert.

6. Hochleistungssport und sozialdiakonischer Sport sind die beiden Extreme in den Erscheinungsformen des heutigen Sports. Dabei ist offen, welches das positive und welches das negative Extrem ist. Sicher ist, dass es sich beide Male um spezifische Grenzfälle, um Randgruppen handelt, wobei vielleicht letztlich die wesentlichen Unterschiede nur darin bestehen, dass der eine Grenzfall Schlagzeilen macht, Unterstützung erfährt, umworben wird von Politik und Wirtschaft, und der andere Grenzfall an einem chronischen Mangel an Verständnis, Geld und öffentlicher Aufmerksamkeit leidet.
Beide Extreme gehören zum modernen Sport. Man soll keine falschen Alternativen aufstellen. Aber man muss heute sehen, dass wir mit beiden Extremen fertig werden müssen und beide gleichwertig beachten, verantwortlich entwickeln und unterstützen. Extreme fordern heraus. Bis jetzt haben wir nur - und nicht einmal sehr gut - die Herausforderung des einen Extrems angenommen. Es wird Zeit, sich auch um das andere zu kümmern. Es könnte sein - und ich hoffe das -, dass sich aus der Beschäftigung mit den Randgruppen, von denen hier die Rede ist, auch Orientierungen und Korrekturen für das andere Extrem Hochleistungssport ergeben. Die sportliche fürsorge bei unseren Randgruppen muss und wird ihre Auswirkung auf den gesamten Sportbereich haben."


Martin Hörmanns Aufruf verhallte seinerzeit nicht ungehört. Insbesondere bei der Deutschen SportJugend als Jugendorganisation des DSB standen im vorolympischen Jahr 1971 äugend- und gesellschaftspolitische Aktivitäten im Vordergrund. So wurden u. a. mit der Sporterziehung im Elementarbereich, dem Einsatz von Zivildienstleistenden auch im Sport, der Resozialisierung jugendlicher Straffälliger durch Sportprojekte, der Integration von Gastarbeiterkindern, dem Verhältnis von Sport und Umweltschutz sowie der Jugendarbeit auch im Behindertensport neue soziale Aufgabengebiete in die Arbeit der DSJ aufgenommen und mit Modellprojekten gefördert. Diese gewannen dann in den Folgejähren für die gesamte Sportbewegung - auch über Deutschland hinaus - wichtige Bedeutung und wurden später als Beginn der "Sozialen Offensive des Sports" bewertet.


*


Quelle:
DOSB-Presse Nr. 28 / 13. Juli 2010, S. 25
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
Herausgeber: Deutscher Olympischer Sportbund
Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt/M.
Tel. 069/67 00-255
E-Mail: presse@dosb.de
Internet: www.dosb.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010