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GESCHICHTE/253: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 89 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 35 / 31. August 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1972/II: Lord Killanin neuer IOC-Präsident, Daumes Gipfel in München
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 89)

Eine Serie von Friedrich Mevert


In Verbindung mit den XX. Olympischen Sommerspielen 1972 in München trat auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) in der bayerischen Landeshauptstadt zu seiner turnusmäßigen Vollversammlung zusammen. Dabei kam es nicht nur zu einem Wechsel an der Spitze des IOC, sondern auch zur Wahl des deutschen NOK-Präsidenten Willi Daume zum Vizepräsidenten der olympischen Dachorganisation.

Der Olympiakorrespondent des Sportinformationsdienstes (sid), Karl-Adolf Scherer, berichtete über die IOC-Konferenz und Willi Daumes Aufstieg:

"Drei Tage vor Beginn der Olympischen Spiele in München ist der 58jährige irische Lord Michael Killanin zum neuen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees gewählt worden. Er löst in diesem Amt den 84jährigen Amerikaner Avery Brundage ab, der 20 Jahre lang an der Spitze des IOC gestanden hat. Wie Killanin nach seiner Wahl am Mittwoch vor der Presse bekanntgab, wird Brundage, der vom IOC zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde, noch bis zum Ende der Münchner Spiele die Amtsgeschäfte führen.

Gegen Killanin, der Präsident des irischen Olympischen Komitees ist, hatte der französische Graf Jean de Beaumont kandidiert. Das Abstimmungsergebnis wurde entsprechend den Regeln des IOC nicht bekanntgegeben.

Zum neuen Vizepräsidenten wählten die 76 IOC-Mitglieder, die 130 nationale olympische Komitees vertreten, den Präsidenten des NOK der Bundesrepublik und Chef des Organisationskomitees, Willi Daume. Zweiter Vizepräsident ist Graf de Beaumont, der dieses Amt schon bisher ausübte.

Lord Killanin, der das Amt in den nächsten acht Jahren führen wird, war seit 1968 erster Vizepräsident dieses obersten Gremiums der olympischen Bewegung. Bereits vor 20 Jahren wurde er IOC-Mitglied. Der wohlhabende Aristokrat, der in Cambridge und Paris studierte, war viele Jahre als Journalist tätig. Er arbeitete unter anderem für die britischen Zeitungen Daily Mail und Daily Express und war 1937 und 1938 Korrespondent in China. Gegenwärtig ist er Direktor von zwei Mineralölfirmen in Irland. Eine seiner Hauptaufgaben beim IOC waren der Vorsitz in der Pressekommission und das Abhalten von Pressekonferenzen.


Neue Amateurregeln

(...) Lord Killanin erwartet in nächster Zeit Änderungen oder zumindest Modifizierungen einiger besonders umstrittener IOC-Regeln. In einem längeren Gespräch mit Aktiven und früheren Spitzensportlern - darunter dem Österreicher Karl Schranz, der von den Olympischen Winterspielen in Sapporo ausgeschlossen worden war - sagte der irische Lord eine Fülle entsprechender Anträge für die IOC-Session 1974 in Wien voraus.

So sei er sich völlig der Tatsache bewusst, dass im Zusammenhang mit der IOC-Regel 26 (über die Kriterien der Zulassung zu den Spielen) 'einige Sportler gegen ihren Willen gezwungen werden, Erklärungen zu unterschreiben, die unwahr sind'. Lord Killanin stellte allerdings in der Unterhaltung auch klar, dass Gesprächspartner für das IOC nur die nationalen olympischen Komitees, nicht aber einzelne Sportler oder Sportlergruppen seien.

Ohne es ausdrücklich zu sagen, ließ Lord Killanin doch durchblicken, dass er die Ansichten seines Vorgängers Avery Brundage in der Frage, wer Amateur ist und wer nicht, in dieser Unbeweglichkeit nicht teilt. So erwartet er bei der Wiener IOC-Session eine ausführliche Debatte über die Frage finanzieller Unterstützungen von Athleten. Außerdem werde es vermutlich zu einer Diskussion um die Frage kommen, ob nicht Sportler, die Profis in einer Sportart sind, gleichzeitig Amateure in einer anderen Disziplin sein können: 'Ich sehe zum Beispiel keinen Hinderungsgrund, dass etwa ein berufsmäßiger Jockey nicht gleichzeitig olympischer Boxer sein kann.'


Daumes Gipfel in München

Vor vielleicht zehn Jahren sagte Willi Daume einmal, er könne sich einen 60jährigen DSB-Präsidenten Daume nicht vorstellen. Nun, jetzt haben wir uns mit einem bald 60jährigen olympischen Vizepräsidenten Daume auseinanderzusetzen.

Der bedeutendste deutsche Sportführer seit 1945 hat am 23. August 1972 seine vierte Karriere begonnen, es ist die höchste und wird die letzte sein. Ein Sportführer deutscher Zunge kann mehr nicht erreichen. Dies sei als Glückwunsch verstanden!"



Daume nach den Münchner Spielen: "Stehe zur Verfügung"

"Wenn man mich ruft, werde ich zur Verfügung stehen", erklärte Daume im Aktuellen Sportstudio des Zweiten Deutschen Fernsehens auf die Frage, ob er an neuen Entwicklungen im bundesdeutschen Sport mitarbeiten wolle. Allerdings könne es für ihn kein solches Engagement mehr geben wie im Organisationskomitee für die Münchner Spiele.

In einem Rückblick auf München meinte Daume, der Sport der Bundesrepublik habe gegenüber den westeuropäischen Konkurrenten große Fortschritte gemacht, doch gegen die DDR an Boden verloren. Diesen gelte es aufzuholen.

Nach 25 Jahren Nachkriegsaufbau seien jetzt neue Strukturen im Sport notwendig. Die Möglichkeit, dass es einen Bonner Sportminister Daume mit Staatssekretär Josef Neckermann gebe (so eine Frage des ZDF-Redakteurs Werner Schneider), wies Daume von sich.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 35 / 31. August 2010, S. 30
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2010