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GESCHICHTE/261: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 95 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 41 / 12. Oktober 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1973/III: Bundespräsident zur gesellschaftlichen Bedeutung des Sports
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 95)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Im Rahmen des Deutschen Turnfestes 1973 in Stuttgart konnte der Deutsche Turner-Bund zahlreiche prominente Ehrengäste begrüßen, darunter auch Bundespräsident Gustav Heinemann und IOC-Ehrenpräsident Avery Brundage. Bei der Schlussveranstaltung am 17. Juni hielt der Bundespräsident eine Grundsatzrede zur gesellschaftlichen Bedeutung des Sports, in der er auch davor warnte, "die begrenzten Mittel vor allem dem Spitzensport zuzuwenden und den Breitensport darüber zu vernachlässigen". Nachfolgend die Ansprache im Wortlaut:

"Turnerinnen und Turner, liebe Mitbürger!

Dieses Deutsche Turnfest 1973 in Stuttgart zeigt wieder einmal, dass Turnen weit mehr ist als das Üben am Gerät in einer Halle. Turnen ist eine Leibesübung in ihrer ganzen Vielseitigkeit. Es ist zugleich eine fröhliche Sache. Beides hat dieser Vormittag hier deutlich gemacht. Ich beglückwünsche Sie alle, die Sie heute hier an diesem Bilderbogen zum Schluss des Deutschen Turnfestes teilnehmen können. Eine Veranstaltung, die 60 oder 70.000 Menschen aus dem In- und Ausland zusammenführt, wobei jeder Einzelne Opfer an Zeit und Geld bringt, ist für sich schon ein großes Ereignis. Sie alle nehmen - dessen bin ich sicher - von hier Anregungen für ihre weitere Arbeit in den heimatlichen Vereinen mit.

Das Turnen ist geschichtlich im deutschen Volk in Generationen gewachsen. Es lebt auch heute noch aus der Erinnerung an den Turnvater Friedrich Ludwig Jahn, der 1811 mit Schülern den ersten Turnplatz in der Hasenheide in Berlin einrichtete und die Leibesübungen als ein Mittel zu einer vollkommenen Volksbildung begriff.

Der Turnvater Jahn war nie, auch zu seinen Lebzeiten nicht, unumstritten. Seine prägende Wirkung, namentlich auf das Turnvereinsleben, ist jedoch auch heute noch spürbar.

Ich habe von meinem Vater viel von dieser Tradition erfahren. Mein Vater war zeit seines Lebens ein begeisterter Turner, der sich erst mit 64 Jahren vom aktiven Turnen zurückzog. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass der alte Turnergeist ihm ein treuer Wegbegleiter und Wegbereiter gewesen ist: 'Ein gut Heil auf meinem Lebensweg'. Als eifriges Mitglied des Turnvereins Eschwege von 1861 wurde er Gauturnwart des Werragaues. Im Jahre 1889 nahm er am Deutschen Turnfest in München teil. Dieses sportliche Ereignis gab meinem Vater zum ersten Male die Gelegenheit für eine größere Reise und gehörte zeitlebens zu seinen schönsten Erinnerungen. Zu jener Zeit lebte in der Deutschen Turnerschaft der Geist von 1848, geprägt von der Sehnsucht nach einem einigen Deutschland. Das 48er Turnerbanner Schwarz-Rot-Gold wurde auf jenem Deutschen Turnfest in München begeistert begrüßt.

Die Männer und Frauen, die heute die Wortführer des Sportes sind, haben nach dem Krieg lange Zeit und schließlich mit Erfolg um die gesellschaftspolitische Anerkennung des Sports gerungen. Seine vielfältige Bedeutung für die Qualität des Lebens wird in unseren Tagen weithin anerkannt, aber noch längst nicht von jedermann begriffen.

Vor etwa drei Wochen konnten wir in unseren Zeitungen einige Auszüge aus dem Ernährungsbericht der Bundesregierung lesen. Da gab es Schlagzeilen, dass viele Bundesbürger langsam aber sicher Selbstmord mit Messer und Gabel begehen, weil sie zu fett, zu süß oder zu reichlich essen. Damit war unausgesprochen zugleich die gesellschaftliche Bedeutung des Sportes berührt. Den Selbstmördern mit Messer und Gabel kann dieses Turnfest ein Hinweis dafür sein, dass es gesündere Lebensfreuden als Vielesserei gibt.

Heute ist der Sport ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Schon deshalb kann er keine unpolitische Oase sein. Er ist es weder unter uns noch im internationalen Spannungsfeld. Das haben die Tage von München bewiesen, als die ganze Welt zunächst freudig Anteil an den Spielen der XX. Olympiade nahm und der heitere Traum vom Frieden auf Zeit so jäh durch die Grausamkeiten des Terrors unterbrochen wurde. Diese tragischen Ereignisse verdeutlichen, ob man es wünscht oder nicht, dass der Sport sich vom politischen Bereich nicht abgrenzen lässt. (...) Der gegenwärtige Rang des Sports, wie er für das 19. Jahrhundert noch unvorstellbar war, bringt zahlreiche neue Aufgaben für die Sportorganisationen mit sich. Ich begrüße es, dass der Grundsatz der Freiwilligkeit im Deutschen Turner-Bund noch immer den Vorrang vor der berufsmäßigen Ausübung hat.

Die Bereitschaft der hier tätigen Frauen und Männer verdient deshalb Dank und Anerkennung. Nur die Hingabe und Ehrlichkeit, mit denen die manchmal geschmähten Sachwalter Art und Wesen des Sports zu bewahren versuchen, schützen ihn vor einem Abgleiten ins Geschäftliche. Das Festhalten an Traditionen und Idealen schließt indessen Fortschritt nicht aus. Beispiele für Ideenreichtum und Regsamkeit sind vor allem die Stiftung Deutsche Sporthilfe, die Trimm-Dich-Bewegung und der Schulmannschaftswettbewerb 'Jugend trainiert für Olympia'.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht unterlassen, die oft unterschätzte Bedeutung des Turnens in der Schule für eine allseitige Entwicklung der Jugend besonders zu betonen. Die Erfolge für den Leistungssport, Breitensport und Schulsport beflügeln die Sportorganisationen, sich weiteren wichtigen Zielsetzungen zuzuwenden. Ich nenne dafür den Umweltschutz, die Rehabilitation von Behinderten und die Eingliederung von Gestrauchelten.

Gerade hier haben die Turnvereine eine besondere Aufgabe. Ihre Mitglieder stehen mitten in unserer Leistungsgesellschaft, bilden aber eine Gemeinschaft, in der man sich ungezwungen begegnet. Hier findet Mitmenschlichkeit frei von beruflichen und standesmäßigen Bindungen statt. Beim Spiel erlebt jeder Entlastung, Befreiung und Stärkung. Die Erfahrung von Zusammengehörigkeit, Freiwilligkeit und Sympathie führt heraus aus den oft bedrückenden Erlebnissen der Arbeitswelt.

In diesem Zusammenhang muss etwas über Leistung gesagt werden. Leistung passt sicher nicht für alle Leibesübungen. Wohl aber wäre es für weite Bereiche des Sportes unmöglich, auf den Wettkampf als Leistungsanreiz zu verzichten. Wie für unsere gesamte Gesellschaft hätte es auch hier unabsehbare Folgen, wollte man den Grundsatz des Wettbewerbs gänzlich aufgeben. Zur Freude am Sport gehören auch der Stolz und das Selbstwertgefühl, die aus der erbrachten Leistung erwachsen. Das gilt für den sportlichen Wettkampf des Alltags in gleichem Maße wie für Olympische Spiele. Das gilt für Altherrenturner ebenso wie für Spitzensportler.

Die vielfältigen Aufgaben, die der Sport insgesamt für und in unserer Gesellschaft zu erfüllen hat, kann er nicht ohne Hilfe durch den Staat bewältigen. Unsere Gesellschaft steht indessen vor einer Vielzahl wichtiger und zumeist kostspieliger Gemeinschaftsaufgaben. Es ist deshalb sinnlos, wenn die Sportorganisationen dem Staat nur immer lange Listen von Forderungen vorlegen, ohne von sich aus zu sagen, welche Maßnahmen vorrangig sind und was zunächst Wunschtraum bleiben muss. Förderungsprogramme für den Sport sind um so eindrucksvoller, je mehr sie sich an den allgemeinen gesellschaftspolitischen Erfordernissen ausrichten. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn ich von Millionenkosten für aufwendige Stadien, etwa im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft, höre und andererseits erfahre, dass es in vielen Städten unseres Landes z. B. immer noch an Lehrschwimmhallen fehlt, dass Kleinstsportfelder nicht vorhanden sind oder nach Sportplätzen der 'Offenen Tür' gesucht wird. Wir müssen uns hüten, die begrenzten Mittel vor allem dem Spitzensport zuzuwenden und den Breitensport darüber zu vernachlässigen. Um Freude und Erholung zu vermitteln, braucht der Sport keine aufwendigen Denkmäler, sondern zweckmäßige Spiel- und Wettkampfanlagen, die der Freizeitgestaltung, der Gesundheit und dem Leistungsstreben möglichst vieler Bürger aller Altersklassen dienen.

Wenn der Sport seinen Dienst an und in der Gemeinschaft so begreift, dann finden alle Sportler in mir einen guten Freund. Gut Heil!"


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 41 / 12. Oktober 2010, S. 18
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010