Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → FAKTEN

GESCHICHTE/278: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 108 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 6 / 8. Februar 2011
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1975/VI: Helmut Schmidt beim Festakt "25 Jahre DSB" in Frankfurt
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 108)

Eine Serie von Friedrich Mevert


In einer sportpolitischen Rede von beachtlicher Bandbreite und erstaunlichem persönlichen Engagement bekräftigte Bundeskanzler Helmut Schmidt bei der 25-Jahr-Feier des Deutschen Sportbundes am 6. Dezember 1975 in der Frankfurter Paulskirche die notwendige loyale, aber kritische Zusammenarbeit zwischen Sport und Staat. Wie für den DSB-Präsidenten Willi Weyer ("Dies ist kein Tag der Erfüllung, sondern neuer Verpflichtung") war auch für Schmidt "der Sport eine Sache der Sportorganisationen und der Vereine" und der Staat nur Hilfegeber.

In scharf formulierten Gedanken und ganz konkreten Darlegungen missbilligte der Kanzler in einer Funktionärsschelte ("Mein Dank den Menschen in den Vereinen") Geltungsdrang, Humorlosigkeit, Medaillenhysterie sowie Hang zu sportlichen Prachtbauten und übertriebener Repräsentation, brandmarkte aber gleichzeitig auf der staatlichen Seite "die Tatsachen im Schulsport". Schmidt wörtlich: "Sie sind für mich unerträglich."

Es war eine kühle, ernste und doch wieder gelöste Feier, der ein sehr persönlicher und in der Sache vor allem höchst glaubwürdiger Kanzler den besonderen Ton gab.

"Der Sport hat sozialerzieherische und damit politische Komponenten, aber er ist kein ideologisches Kampfmittel", sagte Schmidt "Er ist auch und immer noch ein privates Vergnügen. Er kann und soll Spaß machen, er zwingt zum Mannschaftsgeist, dient der Entfaltung der Person, fördert die Solidarität im Verhalten, setzt Maße ganz aus der Natur der Sache." Helmut Schmidt lehnte jeden Vergleich mit Methoden "östlicher Nachbarn" ab, warnte vor sportlichen Ideologien und einer Medaillenhysterie.

Festredner Prof. Ralf Dahrendorf, Direktor der Londoner School of Economics, sprach von der Notwendigkeit einer sinnvollen Tätigkeit des Menschen abseits von Arbeiten, Fernsehen, Biertrinken oder Autofahren.

In seinem Schlusswort betonte Willi Daume, von 1950 bis 1970 Präsident des DSB und seitdem Ehrenpräsident, noch einmal die Notwendigkeit einer echten Partnerschaft zwischen Sport und Staat: "Sport ist keine Sache fürs Regieren." Daume wies dabei auf Erfahrungen alter und junger Staaten hin und beklagte die Lethargie des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) im geistigen Bereich des Sports.


"Haltet mir die Vereine hoch"

Kernsätze aus der Rede des Bundeskanzlers bei der 25-Jahr-Feier des Deutschen Sportbundes am 6. Dezember 1975 in der Frankfurter Paulskirche:

"Es wäre sehr naiv, wollten wir den Sport in einer kommunistischen Gesellschaft nicht als Teil der dort herrschenden politisch-ideologischen Wirklichkeit begreifen. Wer das Ziel hat, hinter dem Leistungsstand der anderen Seite in einigen Disziplinen nicht zurückzubleiben, kann zwar aus den Erfolgen der anderen Antrieb für seinen eigenen Leistungswillen gewinnen, aber er muss aufpassen, dass er nichts verpflanzen will, was sich nicht verpflanzen lässt. Und er muss aufpassen, dass er nicht verschüttet, was hierzulande kräftige Wurzeln hat: nämlich die Freude des Einzelnen, etwas zu leisten in selbstverwalteten und selbstverantwortlichen Verbänden und Vereinen. Sport darf für uns nie zur Speerspitze im ideologischen Kampf werden.

Wir bejahen die volle Unabhängigkeit des Sports. Wir sind Partner, die einander helfen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Wir werden Partner bleiben, weil unser Staat nicht alles allein machen will, weil er die freiwillige Mitverantwortung und tätige Mitarbeit seiner Bürger sucht. (...)   

Sie, Herr Präsident Weyer, haben vor kurzem die Turn- und Sportbewegung als einen Glücksfall für unsere Gesellschaft bezeichnet. Und Sie haben dabei - durchaus im Sinne des politischen Selbstverständnisses, zu dem der DSB sich erfreulicherweise bekennt - von einer gewaltigen Bürgerinitiative gesprochen; Sie haben gesprochen von der freiheitlichen Selbsthilfe des Sports, die den Staat entlastet.

Weil ich dem, was Sie damit im Kern meinten, voll zustimme, will ich heute in meiner Laudatio die nicht vergessen, die diesen Glücksfall recht eigentlich ausmachen, das sind unsere Vereine. Ihnen zu danken, ist mir in dieser Stunde besonderes Anliegen. Haltet mir die Vereine hoch! (...)   

Wirklichkeit des Schulsports ist unerträglich

Über den Schulsport habe ich vor wenigen Tagen mit den Ministerpräsidenten der Länder gesprochen. Ich spreche jetzt nur für meine Person, weil ich nicht ganz sicher bin, ob ich das was jetzt kommt, für die ganze Bundesregierung sagen darf. Aber ich halte das, was wir in Sachen Schulsport in Wirklichkeit vorfinden in unserem Lande, für schlechthin unerträglich.

Ich bin fest überzeugt, es darf so nicht bleiben, dass bei den allgemeinbildenden Schulen im Schnitt gerade zwei Stunden Sportunterricht in der Woche angeboten werden, keineswegs immer auch erteilt werden; und bei den Grundschulen und den Sonderschulen sieht es noch schlimmer aus, bei den Berufsschulen am allerschlimmsten.

Es wird uns Ja durchaus zugegeben, dass der Sport - übrigens zusammen mit den musischen Betätigungen - als Randgebiet vernachlässigt wird. Das hat natürlich auch zu tun mit dem derzeit geltenden Zulassungsverfahren zur Hochschule. Zeugnisse in Sport gehen grundsätzlich in den Notendurchschnitt nicht ein, den man braucht, um den Numerus clausus zu überwinden, Zeugnisse in Musik oder in Malerei oder Zeichnen auch nicht.

Aber ich denke, dass es auch etwas zu tun hat mit falschen, weil nicht zu Ende gedachten Reaktionen auf das Dritte Reich. Als ich zur Schule ging, - ich bin 1936 mitten in der Nazizeit aus der Schule gekommen, - da hatte natürlich die damals in Deutschland allein regierende Partei, ähnlich wie in anderen Diktaturen, auch aus dem Sport ein politisches Instrument gemacht.

Das hat Ressentiments und Widerstand ausgelöst, der sich dann in den Köpfen der Pädagogen nach 1945 nicht sofort verflüchtigte. Wie hätte er das auch tun können? Jeder war doch bemüht, die Konsequenzen zu ziehen aus den Erfahrungen, die man in der Naziära gemacht oder erlitten hatte. Aber es ist ein großes Missverständnis, zu meinen, Sport in der Schule sei ein Attribut einer Diktatur. Im Gegenteil, wer in der Schule nur die geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer paukte und versäumte darüber denjenigen Teil der Erziehung, der nur durch den Sport geleistet werden kann, oder er versäumte darüber denjenigen Teil der Erziehung, der nur durch Musik oder Bildende Kunst und das Einüben derselben geleistet werden kann, der schafft eben dadurch Pennälertum.

Ich werde nie vergessen, was ich auf dem Felde des Sports meiner Schule zu verdanken habe. Vielleicht haben wir Jungens damals nicht ganz soviel Sprachen oder Mathematik gelernt, aber wir haben sechs Tage in der Woche jeden Tag eine Stunde Sport gemacht, und eine von diesen sechs Sportstunden war eine Schwimmstunde. Mit 18 Jahren konnte niemand ein 'genügend' in Sport bekommen, der nicht das Deutsche Sportabzeichen erworben hatte, und 'gut' erhielt man nur, wenn man mindestens 10 Bedingungen fürs Sportabzeichen erfüllte. Ich hatte 21, ich durfte eine 'Eins' kriegen. Ich war jedoch in der Klasse nicht der Einzige mit einer 'Eins', sondern zwei Drittel hatten eine, die hatten alle über 20 mal die Bedingungen des Sportabzeichens in ein und demselben Jahr erfüllt. Das war der Erfolg dieses Schulsports über acht oder neun Jahre!


Dank an Turnlehrer Ernst Schöning

Nie werde ich meine innere Dankbarkeit gegenüber meinem Turnlehrer Ernst Schöning aufgeben - er lebt heute noch, inzwischen wohl 90 Jahre alt - für das, was er uns jungen Leuten an menschlichem Vorbild gegeben hat. Er hat uns in nichts anderem unterrichtet als wie man miteinander Handball spielt, wie man miteinander Faustball spielt, wie man seinen eigenen Körper zu beherrschen lernt im Geräteturnen. Von ihm ist der stärkste pädagogische Einfluss ausgegangen auf uns junge Menschen. Es gibt viele, denen es so gegangen ist.

Deswegen ist es nicht nur ein Irrtum zu meinen, Sport an der Schule und sportliches Spiel an der Schule seien Attribute diktatorischer Gesellschaften. Es ist vielmehr ein schweres Versäumnis an der pädagogischen Aufgabe, wenn Sport und ebenso Erweckung und Einübung musischer Interessen an der Schule zurückbleiben. In diesen Tagen wird der 100. Geburtstag des früheren Reichstagspräsidenten Paul Lobe gefeiert. Er hat vor einem halben Jahrhundert, nämlich 1927, öffentlich die tägliche Sportstunde für die Schulen gefordert. Schauen Sie sich um, wo Sie diese heute finden! Bei den jungen Menschen ist ja eine innere Bereitschaft da, die nur geweckt zu werden braucht. Nicht zuletzt deswegen sind so viele Jungen und Mädchen in Ihren Vereinen, meine Damen und Herren, weil sie an der Schule sportlich im Stich gelassen werden. Deshalb sollte jeder versuchen, in seinem Ort, in seiner Stadt, in den Bereichen, in denen er persönlichen Einfluss hat, die Schule ein bisschen zum Schulsport anzuregen."


*


Quelle:
DOSB-Presse Nr. 6 / 8. Februar 2011, S. 33
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
Herausgeber: Deutscher Olympischer Sportbund
Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt/M.
Tel. 069/67 00-255
E-Mail: presse@dosb.de
Internet: www.dosb.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2011