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GESCHICHTE/296: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 123 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 22 / 31. Mai 2011
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1979/11: Sportjugend fordert Bewegungserziehung im Jahr des Kindes
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 123)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Schon zu Beginn des von den Vereinten Nationen proklamierten Internationalen Jahres des Kindes 1979 hatte die DSJ-Vorsitzende Erika Dienstl in einem Aufruf darauf hingewiesen, dass die Sportjugend als größte Kinderorganisation in der Bundesrepublik Deutschland sich in den letzten Jahren besonders darum bemüht habe, die Rolle und Situation der Kinder besser zu erkennen und zu verbessern. Dennoch bleibe "auch in unserem Lande des Wohlstandes und der Perfektion noch viel zu tun". Vor allem gelte es, "künftig den Sport im Elementarbereich weiter zu entwickeln, den Schulsport zu verbessern, den Leistungssport im Kindes- und Jugendalter gefahrlos und human zu gestalten und den Kindern ausländischer Arbeitnehmer Integrationshilfen durch den Sport zu geben."

Im Sommer 1979 konnte die DSJ auch die Ergebnisse einer umfangreichen Bestandserhebung zur Bewegungserziehung bei drei- bis sechsjährigen Kindern in Sportvereinen und Kindergärten vorlegen und in einer dringlichen Erklärung auf Defizite aufmerksam machen. Die DSJ rief alle staatlichen, kirchlichen, kommunalen und politischen Instanzen sowie die Träger von Einrichtungen frühkindlicher Erziehung auf, an der Verbesserung der Bewegungserziehung im Primarbereich mitzuwirken und stellte das erarbeitete Material dazu zur Verfügung.

Die Ergebnisse der Bestandserhebung zur Bewegungserziehung im Elementarbereich wurden seinerzeit von Ulrich Eysel und Anne-Dorothea Stübing ausgewertet und in der August-Ausgabe der Zeitschrift "Olympische Jugend" unter der Überschrift "Vorschulkinder werden in der Bewegungserziehung sträflich vernachlässigt" veröffentlicht.


Ergebnisse der Bestandserhebung

"Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zeigen die Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sport für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes auf. So stellen Mediziner bei bis zu 80 % der Kinder Haltungsschwächen und -schaden fest. Diese sind häufig auf Mangel an Bewegung zurückzuführen. Aus der Sicht der Entwicklungspsychologie ist Bewegung das entscheidendste Moment in der frühkindlichen Entwicklung, da Kinder ihre Umwelt ausschließlich durch aktive und zielgerichtete Bewegung erobern und erfahren. (...)

Die defizitären Situationen konnten bislang jedoch noch nicht mit objektiven Daten belegt werden. Die Deutsche Sportjugend (DSJ) führte eine Bestandserhebung zur Bewegungserziehung bei 3 bis 6jährigen Kindern in Sportvereinen und Kindergärten mit dem Ziel durch, die. derzeitige Situation zu erfassen, um somit einerseits die Defizite zu verdeutlichen und um andererseits von sinnvollen, kindgemäßen Bewegungsangeboten sowie von verschiedenen Kooperationsformen, die zwischen Kindergärten und Vereinen bereits praktiziert werden, Kenntnis gewinnen zu können. Die Untersuchung setzte sich schwerpunktmäßig mit folgenden Fragen auseinander:

- Welche zeitlichen, räumlichen und materialen Voraussetzungen sind gegeben?

- Welche Bewegungsangebote bestehen in den Kindergärten und Sportvereinen für 3 - 6jährige?

- Wie ist der Ausbildungsstand der Erzieherinnen und Übungsleiter hinsichtlich der Bewegungserziehung im Elementarbereich zu bewerten?

- Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit bestehen zwischen Sportvereinen und Kindergärten zur Verbesserung der Angebote in der Bewegungserziehung?

- Welche Schwierigkeiten und Hindernisse stehen einer solchen Kooperation im Wege?

Zu diesem Zweck wurden im Rhein-Main-Taunus-Gebiet sieben verschiedene und charakteristische Orte ausgewählt - vom städtischen Ballungszentrum bis zur Landgemeinde -, in denen ein Sportverein Übungsstunden für 3 - 6jährige anbietet und möglichst in räumlicher Nähe zum Kindergarten liegt. Die Auswahl der Orte, Kindergärten und Vereine erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Landes-Jugendamt Hessen und den hessischen Sportverbänden.

Um die Untersuchung regional nicht einseitig auf das Rhein-Main-Taunus-Gebiet zu beschränken, was die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse vermindern würde, führte die DSJ zu gleicher Zeit Beobachtungen und Befragungen in anderen Städten verschiedener Bundesländer durch: Kiel, Osnabrück, Wuppertal, Duisburg, Schweinfurt, Memmingen. Ein Arbeitsteam von Soziologen und Pädagogen erfasste mit Hilfe von Videoaufnahmen, Tonbandaufnahmen, Befragungen, Einzelinterviews und Gruppengesprächen die Situation der Bewegungserziehung in den ausgewählten Kindergärten und Vereinen. (...)"


Bei der Bestandserhebung wurden folgende Problemschwerpunkte berücksichtigt und dazu entsprechende Befunde erhoben:

"- Die sozialökologischen Bedingungen in den untersuchten Orten, Vereinen und Kindergärten

- räumliche und materiale Voraussetzungen in Kindergärten und Vereinen

- Ablauf der Bewegungsangebote in Kindergärten

- Qualifikation der Erzieherinnen für Bewegungsangebote im Elementarbereich

- Ablauf der Übungsstunden für 3 - 6jährige in Sportvereinen

- Qualifikation der Übungsleiter hinsichtlich frühkindlicher Bewegungserziehung

- Soziale Benachteiligung und individuelle Behinderungen

- Bereitschaft der Eltern zur Mitarbeit

- Kooperationsbereitschaft der Kindergärten und Vereine

- Vorhandene Kooperationsmaßnahmen (...)"


Eysel und Stübing stellten im Beitrag die wichtigsten Befunde zu den genannten Problemschwerpunkten dar und kamen zu folgendem Fazit:

"Die Bestandserhebung bestätigt die bisherige Annahme einer defizitären Situation der Bewegungserziehung 5 - 6jähriger Kinder. Sie zeigt, dass die Situation der Bewegungserziehung weder in Kindergärten noch in Vereinen als zufriedenstellend angesehen werden kann. Im Gegenteil! Bei den 3 - 6jährigen wird dieser Teil der Erziehung sträflich vernachlässigt. Die Bestandserhebung zur Situation der Bewegungserziehung liegt bei der Deutschen Sportjugend vor und kann angefordert werden."


Aufruf der DSJ zur Verbesserung der Bewegungserziehung für Kinder

"Kinder haben ein natürliches Bewegungsbedürfnis. Im Alter bis zu 6 Jahren sammeln sie grundlegende Erfahrungen mit sich und ihrer Umwelt durch Bewegung. Eine Einengung ihrer Bewegungsfreiheit hat vielfach gesundheitliche, psychische und motorische Schäden zur Folge, die im späteren Leben kaum wieder ausgeglichen werden können.

Die Deutsche Sportjugend hat in einer Bestandserhebung zur Situation der Bewegungserziehung in Kindergarten und Verein festgestellt, dass gerade in diesem wichtigen Abschnitt der kindlichen Entwicklung wesentliche Voraussetzungen für die Bewegungserziehung fehlen. So fehlen in vielen Einrichtungen notwendige Bewegungsräume völlig oder sind unzureichend ausgestattet. Selbst Turnhallen genügen diesen Anforderungen nicht. Darüber hinaus wird offenkundig, dass die in vielen Kindergärten und Vereinen tätigen Erzieher und Übungsleiter nicht ausreichend ausgebildet sind.

Da die notwendige Verbesserung der Situation der Bewegungserziehung im frühkindlichen Alter nur möglich ist, wenn alle an der Bewegungserziehung beteiligten Kräfte sinnvoll zusammenarbeiten, ruft die Deutsche Sportjugend alle staatlichen, kirchlichen, kommunalen, politischen Instanzen und Träger von Einrichtungen frühkindlicher Erziehung, die Vereine im Deutschen Sportbund und alle Bürger auf, bei der Verbesserung der Situation der Bewegungserziehung mitzuwirken.

Sie sollen mithelfen, dass

- Kinder auf Höfen, Wohnstraßen, Schulplätzen, Grünflächen und Wiesen spielen dürfen,

- Kinder auf Spielplätzen vermehrt mobile Materialien vorfinden, die zum Gestalten und Bewegen auffordern,

- Kinder im Elternhaus, Kindergarten und Verein kindgerecht ausgestatteten Raum zum Spielen und Bewegen nutzen dürfen - sofern der Raum fehlt, dass kindgerechte Bewegungsräume geschaffen werden und sie diese mit ausgestalten können,

- Kindern von fachlich qualifizierten Erziehern und Übungsleitern vielfältige Bewegungsformen vermittelt werden,

- Kinder, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, in die allgemeinen Bewegungsangebote einbezogen werden oder spezifisch Bewegungsgelegenheiten erhalten,

- Kinder ausländischer Arbeitnehmer gleiche Chancen haben und die verschiedenen Bewegungsangebote wahrnehmen können.

Jeder Erwachsene - Eltern sowie Nachbarn und Erzieher - muss erkennen, dass alle Kinder Bewegung und den dazugehörigen Raum benötigen. Nur so ist es möglich, die Gesundheit der Kinder zu halten und zu verbessern, ihre körperliche und seelische Entwicklung positiv zu beeinflussen, um somit ihre Lebensfreude zu steigern."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 22 / 31. Mai 2011, S. 20
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2011