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GESCHICHTE/342: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 161) (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 17 / 24. April 2012
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1985/VI: Richard von Weizsäcker: Grundsätze und Grenzen des Sports
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 161)

Eine Serie von Friedrich Mevert



Bundespräsident Richard von Weizsäcker war im Frühjahr 1985 von NOK-Präsident Willi Daume gebeten worden, bei der nächsten Mitgliederversammlung des Nationalen Olympischen Komitees "ein weit gespanntes und fundiertes Wort zur olympischen Bewegung zu sprechen." Daume hatte in seinem entsprechenden Schreiben darauf hingewiesen, dass es "auch außerhalb der nationalen und internationalen Politik Gebiete (gibt), wo es vor allem dem olympischen Sport an weisem Rat fehlt". In seinem Zusagebrief unterstrich dann der Bundespräsident, dass es ihm auch darum gehe, "im Europäischen Jahr der Jugend ein Wort an unsere junge Generation zu richten."

In der Hauptversammlung am 16.November 1985 im Rathaus von München, in der Oberbürgermeister Georg Kronawitter in seinem Grußwort zunächst an die zahlreichen positiven Einflüsse auf Kultur und Sport erinnerte, die die Olympischen Spiele 1972 in der Stadt München bewirkt hätten, unterstrich Richard von Weizsäcker zunächst, dass er selbst sein ganzes Leben "am Sport leidenschaftlich beteiligt und interessiert" gewesen sei. Er freue sich außerordentlich über die Breite des Sports, seine Vielfalt und die Aktivitäten der Bürger. "Unsere ganze Gesellschaft ist durchwirkt und getragen von einem großen und vielfältigen Netz solcher Sportverbände und Sportvereine.Was dort an sozialem Engagement geleistet wird, wie hier Menschen lernen zusammenzuleben, wie sie sich gegenseitig unmerklich fördern und erziehen, das ist wirklich herausragend."

Nachfolgend Auszüge aus der Grundsatzrede des Bundespräsidenten zum Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Sport:

"Der Stellenwert des Sports nimmt zu. Das gilt nicht nur für die alten Sportnationen, nicht nur für die industrialisierte Welt, sondern weltweit. Bei uns können wir das ganz einfach an der Häufigkeit und dem Umfang von Sportsendungen im Rundfunk und Fernsehen ablesen.Sie steigen von Jahr zu Jahr. In sozialistischen Staaten wird seit jeher dem Sport eine überragende Stellung eingeräumt. Doch auch die Länder der Dritten Welt haben entdeckt, dass sportliche Erfolge das wirksamste und zugleich erschwinglichste Mittel sind, um den Namen des eigenen Landes positiv in der Welt bekannt zu machen.

Der olympischen Bewegung dürfte dies nur recht sein. Die Olympischen Spiele sind keine Veranstaltung, die von einigen weltfremden Idealisten gegen die Regierungen durchgesetzt werden müssen. Vielmehr entsprechen sie einem weltweiten, massiven Bedürfnis der Völker selbst.

Zwar wurden die letzten beiden Olympischen Spiele von einzelnen Staaten aus politischen Gründen boykottiert - aber keine Regierung hat es gewagt, die olympische Idee selbst in Frage zu stellen. Das aber heißt, dass die olympische Bewegung selbst, auf dem Gebiet des Spitzensports, über politische Macht verfügt. Die Boykott-Maßnahmen beider Seiten widersprechen nur scheinbar dieser These.

Die Macht des Sports resultiert aus seiner immer noch steigenden Beliebtheit in allen Gesellschaften dieser Erde. Jede Regierung, die der Sportbegeisterung des Volkes nicht ihre Reverenz erwies, würde sich damit als volksfern darstellen und ihre eigene politische Position schwächen. Und so sehen wir auch weltweit, dass sich der Sport der Wertschätzung und Unterstützung der Politik erfreut.

Der globale Erfolg des Sports ist unglaublich. Auch wenn er sich ganz allmählich entwickelt hat, ist er doch auch für den Sport selbst fast ein wenig zu rasch gekommen. Denn die eigene Rolle des Sports in der Gesellschaft, seine Grenzen, seine Gebote, seine Ethik, kurz, seine geistige Position, erscheint noch nicht ausreichend klar." (...)

"Wenn mit dem Sport politische Ideologie und Macht untermauert oder bestätigt werden sollen, dann hat dies zwei Folgen: Einmal gerät der Sport in die Gefahr, wenn er in den Dienst einer politischen Macht gestellt wird, Eigenständigkeit und eigene Würde zu verlieren. Das bringt ihm Schaden. Die andere Folge ist, dass der betreffende Staat seine Macht, Organisations- und Finanzmittel einsetzt, um für seine Ziele die Wirkung des Sports zu steigern. Die Vereinnahmung des Sports durch Ideologien und Macht führt demgemäß fast immer zu einer weiteren, freilich verzerrten Stärkung der Sportidee bei den Massen der Bevölkerung.

Die heutige global gewachsene Bedeutung des Sports ist ganz gewiss nicht nur, aber auch auf seine politische Instrumentalisierung durch Macht und Ideologien zurückzuführen. Dem Anwachsen der Sportbegeisterung in aller Welt steht eine wachsende Kritik am Sport gegenüber. Diese findet freilich im wesentlichen nur in den demokratischen Industriestaaten statt. In den sozialistischen Ländern gilt alles, was mit Unterstützung der Ideologie geschieht, als gut. Den Ländern der Dritten Welt darf man es nicht verübeln, wenn sie sich die Freude über ihre ersten Erfolge im Weltsport nicht durch selbstkritische Fragen vergällen lassen möchten.

Das Anwachsen der Kritik ist zunächst einmal eine Folge der wachsenden Bedeutung des Sports überhaupt. Das ist ganz normal. Schaut man sich die Kritik am Sport genauer an, so sieht man zwei Quellen, aus denen sie sich vor allem speist. Einmal wird der Sport von bestimmten ideologischen Voraussetzungen her kritisiert. Zum anderen findet man Kritik über negative, extreme Entwicklungen aus den eigenen Voraussetzungen des Sportes heraus. Grundsätzlich sollten wir jede Kritik ernst nehmen, gleichgültig woher sie kommt. Auch Ideologen, Kommunisten können denken. Ihre Gedanken werden nicht durch den bloßen Hinweis, sie seien Kommunisten, erledigt. Gewiss, sie werden in der Regel das gleiche Phänomen anders beurteilen, als wir es tun. Sie werden die Akzente anders setzen. Sie werden unsere Fehler mit dem Vergrößerungsglas sehen. Aber ihre Fehler dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch wir Fehler machen." (...)

"Vor allem von Olympischen Spielen wird erwartet, dass Rekorde fallen. Das Publikum fordert es von den Sportlern, und die Sportler fordern es von sich selbst. Nicht zuletzt diese Erwartung ist es, die Milliarden von Zuschauern vor die Fernsehschirme bannt. Ein Ende des Fortschritts ist nicht abzusehen. Das gilt vor allem für Wissenschaft und Technik. Im Sport aber gibt es eine Größe, die nicht veränderbar ist - oder sagen wir besser: die nicht verändert werden sollte. Das ist der menschliche Körper.

Wo immer auch die Grenze der Leistungsfähigkeit liegen mag, es gibt eine Grenze. Die Frage ist, ob wir zumindest in einigen Disziplinen diese Grenze nicht schon erreicht, vielleicht gar schon überschritten haben. Durch einfaches Training und bloße Willensanstrengungen sind manche Leistungen, die heute von Spitzensportlern erwartet werden, nicht mehr zu erbringen. Diesen Leistungen gehen wissenschaftliche Analysen des Bewegungsablaufs voraus. Sie bilden die Grundlage für einen Trainingsplan der Spezialisten. Trainer, Sportmediziner, Ernährungswissenschaftler und andere sind daran beteiligt, um Höchstleistungen möglich zu machen.

All das hülfe aber nichts, wenn der Sportler nicht selbst von dem Willen beseelt wäre, den größten Teil seiner Zeit dem Training zu widmen. Man kann heute nur Spitzensportler sein, wenn man den Sport als Profession betreibt - Profession als Bekenntnis und volle Beschäftigung." (...)

"Je mehr Olympische Spiele zur Medienschau werden, desto mehr stehen sie in Gefahr, sich den Gesetzen der Medien zu unterwerfen. Die vierten Plätze, auch wenn sie nur eine Hundertstelsekunde hinter dem Gewinner der Bronzemedaille liegen, werden schon heute kaum noch beachtet und rasch vergessen. Das Fernsehen will Stars. Der Starkult aber kann das Gemeinschaftserlebnis der Sportler aus aller Welt, welches im Kern der Friedensabsicht der olympischen Idee liegt, schwer gefährden. Bedenklich ist ferner, dass ein Grundprinzip der Olympischen Spiele, das in der Gleichberechtigung nicht nur aller Nationen, sondern mehr noch aller teilnehmenden Sportler liegt, durch hohe Honorare verletzt wird. Ferner gilt es darauf zu achten, wie man es mit der fernsehgerechten Übertragungszeit oder mit der bevorzugten Auswahl fernsehgerechter Sportarten hält.

Aktive Sportler und auch die sportinteressierte Weltöffentlichkeit haben ein Interesse und, wie ich meine, ein Recht darauf zu erfahren, was mit den durch die Spiele bewegten Geldern geschieht. Man sollte meinen und hoffen, dass sie dem Sport selbst wieder zugute kommen, auch dem Sport in den Entwicklungsländern, die sich vielfach moderne und damit auch kostenintensive Trainingsmethoden noch nicht leisten können und daher auch im Sport in einem dauernden Wettbewerbsnachteil gegenüber den reicheren Ländern stehen. Dies alles fordert die volle Aufmerksamkeit der Verantwortlichen." (...)

"Der Spitzensport hat die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit immer weiter hinausgeschoben. Zu der Zeit, da die Sportbegeisterung weltweit geworden ist, nähert sich der Sport seinen eigenen inneren Grenzen. Die breite Anteilnahme der Bevölkerung am Sport übt einen gewaltigen Druck aus, die Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Der Sport aber wird seine menschenwürdige und humanisierende Wirkung nur behalten können, wenn er in seiner Entwicklung diesem Druck standhält, wenn er seine inneren Gesetze erkennt, wenn er die Grenzen sieht und akzeptiert. Der Sport selbst befindet sich in einer Grenzsituation. Er wird sie letztlich nur bewältigen, wenn er sie als existentielle Frage nach seinen geistig-sittlichen Grundlagen begreift. Sein weltweiter Erfolg zwingt ihn dazu, seine eigenen Grundsätze und Grenzen zu bedenken. Von vier Gefahren habe ich gesprochen:

- von der Gefahr der Vereinnahmung des Sportes durch politische Macht und Ideologien;

- von den Gefahren, die den Friedensabsichten des Sportes durch Kommerzialisierung drohen;

- von den Gefahren einer verwerflichen Manipulierung des menschlichen Körpers;

- von den Gefahren, die der Einbruch von Gewalt für den Sport bedeuten kann.

Die Gefahr der ideologischen und machtpolitischen Vereinnahmung des Spitzensportes ist massiv und allgegenwärtig. Aber an ihren langfristig durchschlagenden Erfolg glaube ich nicht. Gewiss, Macht und Ideologie können den Sportler locken, privilegieren, prämieren oder auch bestrafen. Letzten Endes aber kann eine Höchstleistung im Sport nicht befohlen werden, sie bleibt immer eine höchstpersönliche Leistung." (...)

"Freilich wird der Sport den genannten Gefahren um so leichter und um so wirksamer begegnen können, je klarer, gefestigter und überzeugender seine eigenen inneren Gesetze, seine Grundlagen, seine Ethik sind. Die Gefahren des Doping und anderer Manipulationsformen ebenso wie das Problem der Gewalt im Sport werden sich nur durch eine klare und verbindliche Sportethik lösen lassen.

Die Entwicklung einer solchen verbindlichen Sportethik halte ich heute für das zentrale Gebot einer humanen und verantwortlichen Sportpolitik. Hier vor allem liegen die Aufgaben und Herausforderungen für das IOC. Die geforderte Sportethik darf sich nicht auf luftigen Wolken über die konkreten gesellschaftlichen Zustände in verschiedenen Ländern erheben. Vielmehr muss sie sie ernst nehmen und zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen. Das ist schon deshalb schwierig, weil die Verhältnisse von Land zu Land, von Sportart zu Sportart durchaus verschieden sind. Es kommt nicht darauf an, ein idealistisches Mäntelchen um diese ernsten Probleme zu hängen, sondern aus einem einheitlichen Geist und Ethos des Sportes heraus für die nach Land und Sportart verschiedenen Problemstellungen konkrete Lösungsmöglichkeiten zu finden." (...)

"Die Olympischen Spiele werden den Frieden in der Welt nicht schaffen. Gleichwohl haben sie eine unersetzliche Friedensaufgabe. Man kann sehr wohl um den persönlichen und nationalen Sieg kämpfen und dennoch ein Gefühl der Gemeinschaft gerade bei diesen Wettkämpfen entwickeln. Die Olympischen Spiele erhalten eine Sehnsucht, eine Hoffnung in den Menschen am Leben, deren Symbol die olympische Flamme ist.

Es ist auch diese Sehnsucht und Hoffnung, die die Besten der Welt treibt.Große Sportler können bleibende Zeichen tief in die Herzen der Menschen setzen, insbesondere der jungen Menschen. Der Sport im allgemeinen und die Olympischen Spiele im besonderen nehmen in unserem Leben einen ganz hervorragenden Platz ein. Die Verbreitung des Sports im Alltag und im Vereinsleben übertrifft alle anderen Tätigkeiten unter dem Zeichen Sport für alle."

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 17 / 24. April 2012, S. 31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2012