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GESCHICHTE/403: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 210) (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 22 / 28. Mai 2013
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1994/I: Bundespräsident Von Weizsäcker eröffnet Deutsches Turnfest
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 210)

Eine Serie von Friedrich Mevert



Deutsche Turnfeste haben eine lange und auch wechselvolle Geschichte. Schon vor über 150 Jahren trafen sich 1860 in der traditionsreichen Stadt Coburg auf Einladung von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha erstmalig über tausend Turner aus den deutschen Landen zu ihrem ersten Fest auf nationaler Ebene, um über ihre künftigen Ziele im turnerischen und politischen Bereich zu beraten und oft auch zu streiten. Doch in Coburg gab es einen neuen Aufbruch in der deutschen Turnbewegung, der ab 1860 auch zur Gründung zahlreicher Turnvereine führte.

Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches, der Auflösung der Deutschen Turnerschaft und der Gründung des Deutschen Turner-Bundes 1950 fand drei Jahre später in Harnburg das erste offizielle Deutsche Turnfest des DTB statt. Mehr als 40 Jahre später war im Mai 1994 die norddeutsche Hansestadt erneut Gastgeber für die deutschen Turnerinnen und Turner aus dem 1990 wiedervereinigten Deutschland und erfreute die Gäste mit einem schwungvollen Fest in moderner Gestalt.

In einer seiner letzten Amtshandlungen würdigte der scheidende Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnung des Deutschen Turnfestes am 15. Mai 1994 in Harnburg die Bedeutung sportlicher Betätigung und sportlichen Gemeinschaftserlebens. Dabei führte der Schirmherr des deutschen Sports unter anderem aus:

"Sport verbindet Herzen und Sinne der Menschen auf der ganzen Welt. Wer für seinen Körper, Geist und Charakter etwas Kräftigendes tun will, der kann sich nichts Besseres wünschen als sich selbst sportlich zu betätigen. Der Mensch ist kein isoliertes Einzelwesen, sondern ein soziales, auf das Zusammenleben angestelltes und angewiesenes Geschöpf. Wer diese Gemeinschaft ursprünglich und wahrhaft erfahren will, für den gilt es, den Sport so zu betreiben, wie er gemeint ist: gemeinsam mit anderen! Sport vermag alle zu erreichen, gerade auch die Mitmenschen, die es schwer haben und oftmals so herzlos und leichtfertig ausgegrenzt werden, weil sie unseren Schablonen nicht entsprechen - sei es in der Familie, im beruflichen Alltag oder weil sie ausländische Mitbürger sind.

Den notwendigen Raum für diese integrative Kraft des Sports bieten die über 80.000 Vereine mit ihren mehr als 24 Millionen Mitgliedern im deutschen Sport insgesamt. Das ist die bei weitem größte säkulare Gemeinschaft von Menschen bei uns in Deutschland - und dazu die wertvollste und schönste. Ganz entscheidend sind die Turnvereine, zu deren fester Tradition es gehört, über den eigentlichen Sportbetrieb hinaus eine wahre Heimstatt für ihre Mitglieder zu sein. Die Chance zur Gemeinsamkeit mit dem Nächsten bietet in besonderer Weise der Mannschaftssport. Die menschlichen Erlebnisse, die er vermittelt, sind von unersetzbarem Wert. Daran sollten wir angesichts von Tendenzen zur Individualisierung denken, die inzwischen auch manche Sportarten erfassen.

Die zweite unerlässliche Säule des gemeinschaftlichen Lebens im Sport ist das ehrenamtliche Engagement der Mitglieder im Verein. Ohne dieses Netz ist der Sportverein und im Grunde jedes organisierte, lebendige, von seinen Mitgliedern selbst getragene Zusammenleben von Menschen nicht denkbar. Die für unsere Gesellschaft so nachhaltige Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements wird in der Öffentlichkeit zunehmend erkannt. Ich möchte dazu mit allem Nachdruck ermuntern, und nicht nur deswegen, weil ohne diesen Einsatz der Verein eben nicht "funktionieren", geschweige denn "leben" würde.

Ehrenamtliche Mitarbeit schafft die entscheidende Voraussetzung für ein soziales Leben. So ist es auch unsere gemeinsame Aufgabe, in den östlichen Bundesländern die Voraussetzungen für ein lebendiges Vereinsleben im Sport zu schaffen. Dazu bedarf es der notwendigen Hilfe für Sportstätten und Vereinsanlagen. Gerade für die jungen Menschen wird dies eine wichtige Stütze und Heimstatt werden können.

Bei alledem will ich selbstverständlich die aktuellen großen Probleme des Sports, Kommerzialisierung, Doping, Vereinnahmung für politische oder privatwirtschaftliche Zwecke, nicht verkennen. Im Gegenteil, erst wenn uns diese Probleme bewusst sind, werden wir die Wohltat des Sports, so wie er gedacht ist, für jeden einzelnen wie für die Gemeinschaft um so mehr erfahren.

Lassen Sie mich wenige Wochen vor Ende meiner Amtszeit noch ein Wort sagen, was ich selbst im Sport an wahrhaft Ermutigendem während der vergangenen zehn Jahre erleben konnte:

  • Es ist gelungen, die behinderten Mitmenschen nachhaltig in den Sport einzubeziehen. Willen und Können ihrer Leistungen sind bewundernswert. Die Gesellschaft begreift dies zunehmend und bezieht endlich diese Leistungen als gleichberechtigten Sport ein. Dem entsprechen die internationale Spitzenstellung des deutschen Behindertensports und seine großartigen Erfolge bei den Paralympics. Ausdruck dieser selbstverständlichen Einbindung des Behindertensports in das allgemeine sportliche Leben ist es auch, und darüber freue ich mich persönlich außerordentlich, dass es gelungen ist, die herausragenden behinderten Sportler für ihre Spitzenleistungen, ebenso wie alle anderen Spitzensportler, mit dem Silbernen Lorbeerblatt auszeichnen zu können.
  • Der Zusammenhalt zwischen den Athleten aus Ost- und Westdeutschland und ihre frühe Gemeinschaft in den Olympiamannschaften von Albertville, Barcelona und Lillehammer geben Mut und Zuversicht, dass es uns mit vereinten Kräften und gutem Willen gelingt, zu dem einigen Gemeinwesen in Deutschland zu finden, das wir uns alle wünschen.
  • Schließlich konnte ich in den vergangenen zehn Jahren eine eindrucksvolle Reihe von uns alle motivierenden sportlichen Erfolgen unserer Spitzenathletinnen und -athleten miterleben. Sie haben uns damit nicht nur spannende Stunden beschert, sondern die Ermunterung gegeben, selbst aktiv zu sein. Spitzensport und Breitensport gehören untrennbar zueinander. So war und ist für mich - der ich es ganz gewiss niemals zum Spitzensportler brachte - das Deutsche Sportabzeichen stets Ansporn, Freude und Wohltat.

Seien Sie versichert, dass ich nicht nur mit meinem Herzen, sondern mit allen meinen Kräften auch künftig dem Sport verbunden bleibe."

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 22 / 28. Mai 2013, S. 44
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2013