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GESCHICHTE/442: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 243 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 8 / 18. Februar 2014
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1998/II: Die Bedeutung des Sports für die Erziehung unserer Kinder
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 243)

Eine Serie von Friedrich Mevert



Als Gast des Bildungswerks der Konrad-Adenauer-Stiftung hielt DSB-Präsident Manfred von Richthofen am 16. Januar 1998 im Rathaussaal in Bückeburg eine Grundsatzrede zum Thema "Die zunehmende Bedeutung des Sports für die Erziehung unserer Kinder" und setzte sich eingangs auch mit Fehlsteuerungen auseinander, die in der breiten Öffentlichkeit aber zu einem "bedenklichen Zerrbild der tatsächlichen Verhältnisse" führten. Von Richthofen kritisierte aber auch Versäumnisse beim Schulsport, der "bekanntlich kein Hätschelkind der Bildungspolitik" sei.

Das Referat des DSB-Präsidenten wird im Folgenden in Auszügen wiedergegeben:

"Das Thema Ihrer heutigen Veranstaltung und auch meines einführenden Referates lautet: "Die zunehmende Bedeutung des Sports für die Erziehung unserer Kinder." Man ist spontan geneigt, dieser Devise zuzustimmen und Nachdruck zu verleihen, ihr vielleicht sogar mit Euphorie zu begegnen. Doch ich will zu Beginn meiner Ausführungen ganz bewusst auf Negativ-Schlagzeilen und kritische Diskussionen der letzten Zeit eingehen, die gewisse Bereiche des Kindersports ins Zwielicht rücken.

Da ist von Auswüchsen, viel zu früher Leistungsorientierung, überehrgeizigen Eltern, unverantwortlichen Trainingsanforderungen, sexueller Nötigung, Gesundheitsgefährdungen, Ausbeutung von Schutzbefohlenen und sogar von gestohlener Kindheit die Rede. Und wir haben, das will ich ausdrücklich betonen, allen Grund, uns mit gewissen Entwicklungen in einigen Sportarten intensiv und selbstkritisch auseinanderzusetzen. (...) Wir dürfen auch nicht zulassen, dass diese geballten Negativaspekte das kindliche Sporttreiben zur latenten Gefahrenquelle machen. Eine solche Fixierung vernebelt nämlich ganz andere Dimensionen von Gefährdung - und, die haben mit unzureichender körperlicher Bewegung oder gar sträflicher Sportabstinenz im Kindesalter zu tun. Nach jüngsten medizinischen Reihenuntersuchungen stellt sich die Situation bundesweit mehr als besorgniserregend dar. Schon in der ersten Schulklasse haben 40 Prozent der Kinder Haltungsschwächen, ebenfalls 40 Prozent Übergewicht, und bei 30 Prozent der Kinder wurden Koordinationsstörungen festgestellt. Lenkt man nun den Blick auf die sechste Schulklasse, dann werden bereits bei 80 Prozent der Jugendlichen Haltungsschwächen registriert, von anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen - oft als Folge des Bewegungsmangels - ganz zu schweigen. (...)

Ungezählt sind schließlich die Anläufe und Bemühungen, den Bereich der Körperbildung im gesamten Bildungssystem krisenfest und dauerhaft zu etablieren. Seit Jahrzehnten werden dazu Grundsatzprogramme verabschiedet, Memoranden verfasst, Resolutionen formuliert. (...)

Gemessen an der allgemeinen Aufmerksamkeit und am ungeteilten Zuspruch musste der Schulsport also eigentlich eine glanzvolle Sonderstellung im breiten Fächerkanon einnehmen. (...)

Doch der Schulsport ist solchen oberflächlichen Eindrücken zum Trotz bekanntlich kein Hätschelkind der Bildungspolitik. Er hat sich ganz im Gegenteil als ihr Sorgenkind einen unrühmlichen Namen gemacht; als Garant für Negativmeldungen, die inzwischen eine Endlosschleife bilden. Das Verwirrstück ist komplett. Die angebliche Unantastbarkeit einer angemessenen Wochenstundenzahl steht bei jeder sogenannten Reformdiskussion und anderen Gelegenheiten in Frage. So bricht die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer wieder neu auf. Nicht nur große Worte erweisen sich als Schall und Rauch, auch eindringliche Expertenurteile werden bei Bedarf ignoriert und verwerfen. (...)

Der Sport jedenfalls wird sich als bewährter Rufer in der Wüste einmal mehr seiner Mitverantwortung nicht entziehen. Ich benenne dabei gern unseren Bundespräsidenten als Kronzeugen. Roman Herzog hatte in einer vielbeachteten Grundsatzrede von der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gesprochen und dabei die Bildung insgesamt als das "Mega-Thema" schlechthin apostrophiert. Keine Frage, dass die körperliche Bildung junger Menschen mit all ihren positiven Begleiterscheinungen dazugehört. Sie ist unverzichtbar, muss in angemessenem Umfang gewährleistet werden und hat hohen Qualitätskriterien Rechnung zu tragen.

Versäumnisse bedeuten immerhin die Vernachlässigung der physischen Leistungsfähigkeit unserer Jugend wider besseres Wissen. Und das hat ja nicht nur individuelle, sondern letztlich auch gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. (...)

Und dazu will ich auf einige Rahmenbedingungen hinweisen. Wir sehen das Zweite Aktionsprogramm für den Schulsport, das 1985 mit der Kultusministerkonferenz beschlossen wurde, als die entscheidende bildungspolitische Grundlage an. Die pädagogischen, medizinischen und sozialen Erkenntnisse über den Wert des Schulsports im allgemeinen und die Bedeutung des Sportunterrichts im besonderen wurden im Einvernehmen mit den Ländervertretern formuliert und als gemeinsamer Wegweiser festgeschrieben. Immer wieder aber sind dann einseitige Abweichungen von diesem Beschluss in einzelnen Ländern vorbereitet worden. Abgesehen von dem schlechten politischen Stil, Vertragspartner weder frühzeitig noch überhaupt von derartigen Überlegungen in Kenntnis zu setzen, waren und sind wir permanent gefordert, im nachhinein zu reparieren oder Schlimmeres zu verhindern. Regelmäßig dann also, wenn "das Kind in den Brunnen gefallen ist", muss der Sport seinen partnerschaftlichen Verpflichtungen gemäß die Alarmglocken läuten. (...) Der Öffentlichkeit gegenüber wird immer wieder behauptet, so schlimm sehe es doch gar nicht aus mit dem Sport in der Schule. Selbst wenn der dreistündige Sportunterricht die Messlatte nur dort bildet, wo er als Sollgröße in der Stundentafel steht, rangiert der Ist-Bereich irgendwo darunter. In manchen Ländern spricht man von allenfalls 2,5 Stunden, die tatsächlich erreicht werden. Die Frage jedoch, wie es flächendeckend in Deutschland aussieht, hat nicht selten ein Schulterzucken zur Folge. (...)

Warum sich der DSB für den Schulsport und einen dreistündigen Sportunterricht als Mindestpflichtprogramm einsetzt, sollte deutlich geworden sein: Er sieht sich in der Verantwortung für die Jugend unserer Gesellschaft. Diese Verantwortung für die Entwicklung junger Menschen leitet sich auch aus dem im Kinder- und Jugendhilfegesetz formulierten Auftrag ab, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern. Hierzu gehört eine qualifizierte Jugendarbeit, deren Schwerpunkt nach der Gesetzesformulierung auch in Sport, Spiel und Geselligkeit liegen soll. Der Sport in der Schule soll dabei mit einem entsprechend ausdifferenzierten und qualifizierten Angebot Schülerinnen und Schüler nicht nur an eine gesunde Lebensweise heranführen, sondern auch Impulse für eine sinnvolle, sportorientierte Freizeitgestaltung geben. (...)

Wir sind also mit allen unseren Mitgliedsorganisationen darin einig, dass der Schulsport ein breites Fundament legen muss, um Schülerinnen und Schüler im Sinne individueller Gesundheitsorientierung anzuregen und zu befähigen, ihren Interessen, Neigungen und Begabungen innerhalb und außerhalb von Sportvereinen nachzugehen. Die Bedeutung von Gesundheits-, Sozial- und Leistungserziehung im Rahmen des Schulsports ist demnach unbestritten. Der gute Sportunterricht mit seiner Systematik darf also ohne Übertreibung und mit dem Segen der Fachwelt als ein Schlüsselfach im Bildungssystem eingeordnet werden. Dem hohen Anspruch sollte jetzt endlich auf allen Ebenen und auch dauerhaft entsprochen werden.

Die Sportvereine jedenfalls mit ihren eigenständigen großartigen Leistungen für Jugendliche sind keine "Ersatzschulen" und können auch keine werden. Sie haben weiterführende Anliegen auf der Basis der Freiwilligkeit. Die Aufgabe der Gesundheits-, Sozial- und Leistungserziehung mit dem Sportunterricht als unaustauschbarem Pflichtfach kann nur in der Schule erfüllt werden. Wir müssen mit allen unseren Möglichkeiten dazu beitragen, die Schule in die Lage zu versetzen, diesem Auftrag gerecht zu werden! (...) Wer die Bedeutung des Sports für die Erziehung unserer Kinder immer noch falsch einschätzt und die Dimension segensreicher Wirkungen verkennt, der lebt nicht auf dem Boden der gesellschaftlichen Realitäten. Alle jedenfalls, die es besser wissen, sollten sich - auf welcher verantwortlichen Position auch immer - dauerhaft herausgefordert fühlen. (...)"

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 8 / 18. Februar 2014, S. 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2014