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GESCHICHTE/489: Blick in die Geschichte - Boxen als Kriegsvorbereitung (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 10 / 11. März 2015
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Blick in die Geschichte: Boxen als Kriegsvorbereitung
Die Militarisierung des Turnunterrichts im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs

Von Prof. Lorenz Peiffer


"Man gebe der deutschen Nation sechs Millionen tadellos trainierte Körper, alle von fanatischer Vaterlandsliebe durchglüht und zu höchstem Angriffsgeist erzogen, und ein nationalsozialistischer Staat wird aus ihnen, wenn nötig, in nicht einmal zwei Jahren eine Armee geschaffen haben". Mit dieser Aussage von Adolf Hitler in "Mein Kampf" war die zukünftige Funktion des Turnunterrichts frühzeitig umrissen. So wie der Grundsatz der "Wehrhaftigkeit" als Ziel turnerischer Arbeit wenige Wochen nach dem 30. Januar 1933 für die Vereine der Deutschen Turnerschaft - Vorgängerorganisation des heutigen Deutschen Turner-Bundes - ausgegeben worden war, wurde die Erziehung zur "Wehrhaftigkeit" Ziel des Turnunterrichts in der nationalsozialistischen Schule.

Nicht mehr die Förderung der Individualität und Selbständigkeit der Schüler stand im Fokus der schulischen Erziehung, sondern die Stärkung der Volksgemeinschaft im Sinne einer rassistisch begründeten Erziehung. "Es handelt sich bei unserer Erziehung um die nächsten Rekruten" - das war der zukünftige politische Auftrag für den Turnunterricht.

Kampf Mann gegen Mann

Für alle preußischen höheren Jungenschulen verfügte der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 14. Oktober 1933 die Einführung des Boxens im Turnunterricht und die Einführung der SA-Kommandosprache bei Geländesport- und Ordnungsübungen. Im Versailler Friedensvertrag war das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht festgelegt und auch in den Schulen die Beschäftigung mit militärischen Brauchformen untersagt worden. Innen- und außenpolitische Rücksichtnahmen veranlassten die Nazis, in den ersten Jahren nach der Machtübernahme ihre Maßnahmen zur Vorbereitung ihrer aggressiven Kriegspolitik noch zu verdecken. Ein Weg war, durch die sukzessive militaristische Ausrichtung des schulischen Sportunterrichts die Militarisierung der männlichen Jugend frühzeitig und konsequent zu betreiben.

Eine dominante Rolle in diesem Aufrüstungskonzept fiel dem Boxen zu. Noch 1926 aus den Schulen mit dem Argument der Gefahr ernsthafter gesundheitlicher Schädigungen und körperlicher Entwicklungsstörungen verbannt, fand das Boxen im Oktober 1933 wieder Eingang an den - zunächst - preußischen Schulen. In dem Kampf Mann gegen Mann, der immer ein Risiko beinhaltet, sahen die Nazis ein geeignetes Mittel, Mut, Härte, Einsatzbereitschaft und entschlossenes Handeln zu fördern - als wesentliche Voraussetzung für den späteren Lebenskampf.

"Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist fördert, blitzschnelle Entschlußkraft verlangt, den Körper zu stählerner Geschmeidigkeit erzieht. (...) Vor allem aber, der junge, gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen lernen". Bereits in "Mein Kampf" hatte Hitler dem Boxen eine herausragende Funktion in der zukünftigen Erziehung zur Wehrhaftigkeit zugeschrieben. Angriffsgeist und Opferbereitschaft waren die Tugenden, die er von seinen zukünftigen Rekruten erwartete und Hitler war offensichtlich davon überzeugt, dass die deutschen Jungen mit Hilfe des Boxens lernen könnten, "auch bei anderen Gelegenheiten mit der Faust zuzuschlagen und sich auf ihre künftige Aufgabe, der Eroberung neuen Lebensraums vorzubereiten".

Mit der Einführung der "Dritten Turnstunde" zum Beginn des Winterhalbjahres 1935/36 wurde das Boxen für die Schüler der Oberstufe obligatorisch. Diese "pädagogische" Maßnahme traf auf nachhaltige Unterstützung durch Reichswehrminister von Blomberg und Reichskanzler Adolf Hitler. Die "Dritte Turnstunde" wurde zur "Reichssache" erklärt und die erforderlichen Mittel zur Umschulung und Vergütung neuer Sportlehrer und zur Anschaffung der notwendigen Sportgeräte durch das Reichsfinanzministerium zur Verfügung gestellt.

Einführung der Dritten Turnstunde

Reichserziehungsminister Rust hatte mit seiner Aussage über die zukünftige Funktion des Sportunterrichts Überzeugungsarbeit geleistet, der sich auch der Reichswehrminister nicht entziehen konnte und wollte: "Da eine geeignete körperliche Erziehung der vormilitärischen Jugend die beste Grundlage für die spätere Ausbildung in der Wehrmacht darstellt, erwarte ich von der dritten Turnstunde eine starke und rasche Hebung der Volks- und Wehrkraft."

Somit wurde die Einführung der "Dritten Turnstunde" als "im militärischen Interesse vordringlich wichtig" erklärt. Die bereitgestellten Reichsmittel - im Haushaltsjahr 1935 fünf (!) Millionen Reichsmark, 1936 4,5 Millionen - sorgten dafür, dass auf einmal "alles da war", wie ehemalige Sportlehrer bestätigten. Neben Boxhandschuhen, Maisbirnen und Sandsäcken verfügten einige Schulen über komplette Boxringe. Lehrfilme wie zur "Methodik des Massenboxens" sorgten für den entsprechenden Anschauungsunterricht und auch in der nationalsozialistischen Schülerzeitung "Hilf mit!" wurde intensiv für das Boxen geworben.

Verletzungen im Boxunterricht

Durch die Konzentration dieser zusätzlichen Sportstunde ausschließlich für die höheren Jungenschulen und mit dem Schwerpunkt Boxen für die Schüler der Oberstufe erwarteten die Verantwortlichen eine bessere körperliche Ausbildung des zukünftigen Offiziersnachwuchses, insbesondere eine Erleichterung der Ausbildungsarbeit in der Wehrmacht, indem "früher mit der individuellen Vorbereitung auf die heutigen Gefechtsaufgaben" begonnen werden konnte.

Blutende Nasen, aber auch schwerwiegende Verletzungen waren im schulischen Boxunterricht jetzt an der Tagesordnung. Geboxt wurde ohne Mundschutz oder andere Schutzvorrichtungen. "Es gab dabei auch mal ein zerbrochenes Nasenbein oder ein geplatztes Trommelfell oder auch einen regelrechten k.o.", erinnert sich ein ehemaliger Schüler. Aber die zukünftigen Soldaten sollten ja nicht nur frühzeitig den Einsatz ihrer Fäuste für den späteren Lebenskampf, sondern auch "Schläge ertragen" lernen.

Eine vorläufige und unvollständige Bilanz der Verletzungen beim Boxunterricht an den Schulen der Provinz Westfalen weist neben zahlreichen Zahn- und Fingerverletzungen und Nasenbeinbrüchen auch Gehirnerschütterungen sowie einen Herzmuskelriss und eine Armsplitterung auf. Alle diese Verletzungen waren nach Ansicht der zuständigen Schulverwaltung aber als Verletzungen "leichter Art" einzustufen. Stärkung der physischen Kraft, Abhärtung, Mut und Tapferkeit, Durchhaltevermögen und Willensstärke, Aggressivität, Befehl und Gehorsam, das waren die Ziele, die die nationalsozialistischen Machthaber dem Sportunterricht verordnet hatten; Ziele, die völlig im Gegensatz standen zu den reformpädagogischen Bestrebungen der zwanziger Jahre.

Zwei Jahre vor Kriegsbeginn wurde das schulische Trainingsprogramm der zukünftigen Rekruten nochmals intensiviert. Mit den "Richtlinien für die Leibeserziehung an Jungenschulen" vom 1. Oktober 1937 wurde die tägliche Sportstunde eingeführt und "Wehrhaftigkeit" als das Ziel des Sportunterrichts ausdrücklich benannt.

Prioritäten verschieben sich

Aber bereits mit der Einführung der zweijährigen Wehrpflicht unmittelbar nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin und der Verkündung des Vierjahresplanes auf dem Reichsparteitag am 9. September 1936, wonach die deutsche Armee in vier Jahren "einsatzfähig" und die deutsche Wirtschaft in vier Jahren "kriegsfähig" sein sollte, verschoben sich die Prioritäten. Das Schulleben wurde durch Sammelaktionen, Beschlagnahme von Schulgebäuden und durch die Einberufung von Lehrkräften - an der Spitze der Rekrutierungslisten standen u.a. die wenigen jungen, sportlich trainierten Sportlehrer immer stärker in die wirtschaftliche und militärische Aufrüstung mit einbezogen. Als im Herbst eine überdurchschnittliche Getreideernte die vorhandenen Lagerräume sprengte, ordnete Göring in seiner Funktion als "Beauftragter für den Vierjahresplan" an, Turnhallen als Getreidelager zu requirieren.

Schulsport tritt in den Hintergrund

Zur Sicherung der kriegswirtschaftlichen Grundlagen müsste der ideologisch so hoch eingeschätzte Beitrag des Schulsports zur Wehrerziehung jetzt in den Hintergrund treten. Mit Beginn des Krieges konnten sich viele Schulen glücklich schätzen, wenn ihnen ein ausgebildeter Sportlehrer verblieben war.

Die tägliche Sportstunde wurde zur Illusion, die Appelle des Reicherziehungsministeriums, den Schulsport aufrecht zu erhalten und auf diese Weise eine "kriegswichtige Erziehungsaufgabe der Heimatfront" zu erfüllen, verhallten weitestgehend. Die Sportlehrer standen an der Front, die Sporthallen waren zweckentfremdet, wie sollte unter diesen Bedingungen die "kriegswichtige Erziehungsaufgabe" realisiert werden?

Trotzdem wurde insbesondere die "vormilitärische körperliche und charakterliche Erziehung der Schüler" weiterhin eingefordert und die Schulen angewiesen, unter allen Umständen den Boxunterricht aufrechtzuerhalten. Dazu sollten Polizeibeamte, Mitglieder von Boxvereinen oder andere des Boxens kundige Männer als Boxlehrer angeworben werden. Aber auch diese Notmaßnahmen griffen nicht mehr.

Die ideologische Überhöhung des Schulsports und insbesondere Boxens als Mittel der Wehrerziehung wich endgültig dem Kriegsalltag. Die erste Generation der im schulischen Boxen ausgebildeten jungen Soldaten lag bereits in den Schützengräben und kämpfte in einem mörderischen Angriffskrieg nicht nur mit den Fäusten für den "Führer" um die Eroberung neuen Lebensraums.

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 11 / 10. März 2015, S. 43
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2015

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