Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → FAKTEN

FRAGEN/010: Uwe Seeler - "Unsere Zeit war die schönste Zeit" (SF)


Schwindelfrei - Das Infomagazin der ELBE-Werkstätten GmbH
Ausgabe 35, Sommer 2007

"Unsere Zeit war die schönste Zeit"

Redaktions-Interview mit Uwe Seeler


Das Interview mit Uwe Seeler, das die Schwindelfrei-Redaktion schon vor einem Jahr führen wollte, war aufgrund seiner vielen Reisen und der Fußballweltmeisterschaft bisher nicht zustande gekommen. Dann endlich, im Februar 2007, traf sich "Uns Uwe" mit uns im HSV-Clublokal am Trainingsgelände in Norderstedt. Mehr als zwei Stunden nahm er sich Zeit, um unsere Fragen zu beantworten.


*


Uwe Seeler ... über den Unterschied zwischen Fußball damals und Fußball heute


Uwe, hat sich Fußball verändert, wenn Du Deine aktive Zeit mit der heutigen vergleichst?

Hundertprozentig. Fußball ist ein Geschäft geworden. Fußball heute, das ist eine Erlebniswelt. Ich habe nichts gegen Geschäfte, aber die Relationen sind verloren gegangen, der Verdienst passt oft nicht mehr zur Leistung. Ich muss aber auch sagen, die Spieler wären ja blöd, wenn sie das, was sie kriegen können, nicht nehmen würden. Zu meiner aktiven Zeit waren wir Mannschaften, die sich aus der Vereinsjugend heraus entwickelten. Beim HSV waren wir fast alle Hamburger, Korbjuhn aus Buxtehude galt schon fast als Ausländer. Heute spielen beim HSV nur noch zwei Deutsche, Hamburger gibt es keine mehr. Aber natürlich, das Rad lässt sich nicht zurück drehen. Ich sehe nur, dass die Vielfalt Probleme bringt. Es herrscht ein Legionärsmentalität.


Hat das viele Geld den Fußball verdorben?

Ich habe nichts gegen gute Bezahlung, so lange das Preis-Leistungsverhältnis stimmt. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Vereine den jungen Talenten wieder bessere Chancen einräumen. Aber Fußball ist eben kein Wunschkonzert. Jeder will vorne mitmischen und glaubt, dass er es nur mit Geld machen kann. Diese übertriebene Bezahlerei im Fußball gibt es erst seit dem Bosmann-Urteil. Ich bin schon der Meinung, das ist Gift, das ist ungesund für den Fußball.


... über seine eigene Karriere

Du warst einer der besten Stürmer, die wir je hatten. Deine Spezialität waren diese spektakulären Fallrückzieher. Wie bist Du Fußballer geworden?

Das ergab sich von allein. Mein Vater war ein großer Fußballer, mein älterer Bruder Erwin genauso und seitdem ich auf eigenen Beinen stehe, kicke ich mit dem Ball. In der Nachkriegszeit war das allerdings eher ein Osterei. Bolzen auf der Straße. Scheiben mussten dran glauben, Autos gab's zum Glück nur wenige. Mir hat das immer schon Spaß gemacht. 1946 bin ich in den HSV eingetreten und hab dort vom Anfang bis zum Ende meiner Laufbahn gespielt. Mein Trainer war Günther Mahlmann, der hat nach dem Krieg den Jugendfußball neu koordiniert. Das musste ja erst wieder neu aufgebaut werden.


Wann kam die Idee, Profi zu werden?

Es gab überhaupt keinen Gedanken daran, mit Fußball mal Geld zu verdienen. Und das ist ja auch nicht so doll geworden. In der ersten Mannschaft, in der Oberliga haben wir 320,-- DM Aufwandsentschädigung bekommen. Selbst zu Beginn der Bundesliga habe ich schon als Nationalspieler mit Genehmigung des DFB 1250,-- DM brutto verdient; Das war 1963. Kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Was ich damals im Jahr verdient habe, kriegen die heute als Prämie. Mit dem Fußball hab ich das große Geld nicht verdient.


Deswegen hast Du parallel einen Beruf erlernt?

Ja, und hab dann immer auch die Agentur geführt. Ab 61 bin ich im Jahr 80.000 km im Jahr gereist und hab verkauft, und das als Profifußballer und Nationalspieler. Hamburg, Niedersachsen bis runter nach Hannoversch-Münden. Einen Tag die Woche hatte ich trainingsfrei, hab dann unterwegs selber trainiert. Unser Trainer konnte sich da auf mich verlassen. Der hätte mir auch zwei Tage freigegeben. Wenn ich auf Lehrgängen war oder bei Auslandsspielen, hat meine Frau das Geschäft weitergemacht. Ohne die wäre es gar nicht gegangen. 1972 durften wir dann schon mit Genehmigung eine Treueprämie von 30.000,-- DM brutto kriegen - im Jahr!


Warum bist Du nie zu einem anderen Verein gewechselt, zum Beispiel zu Inter Mailand, als Du 1962 das Angebot dazu bekamst?

Wir haben damals drei Tage intensiv verhandelt. Inter hat immer mehr geboten, weil sie mich unbedingt haben wollten. Aber ich hatte eine gute berufliche Existenz, die Generalvertretung von Adidas für den norddeutschen Bereich und beim HSV fühlte ich mich wohl. Und so habe ich mich für die Sicherheit entschieden und nicht für das Geld. Sicherheit, das war mein Beruf, von dem meine Familie und ich gut leben konnten, und es war meine Heimat hier in Hamburg. Ich bin ja in normalen Verhältnissen aufgewachsen und meine Eltern haben mir immer eingetrichtert, dass man mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen sollte. Mehr als ein Steak kann man nicht essen. Gott sei Dank kann ich auch heute noch sagen: Das war richtig so.


Wärst Du lieber heute Fußballer als früher?

Unsere Zeit, glaube ich, war die schönste Zeit. Im Verein groß zu werden, dort zu bleiben und dieses starke Miteinander zu erleben. Du hattest immer das Gefühl, Du konntest Deine Kollegen nicht im Stich lassen, auch dann nicht, wenn Du schon verletzt warst. Gemeinsamkeit war groß geschrieben, nicht nur auf dem Platz. Wir haben viel zusammen unternommen und auch zusammen gefeiert. Das ist heute vorbei, schon wegen der vielen Nationalitäten und unterschiedlichen Mentalitäten.


Spielst Du heute noch Fußball?

Aufgrund meiner Verletzung geht das nicht mehr. Ich hatte immer meine Knöchel kaputt. Hatte drei Operationen an den Achillessehnen. Ich habe aber noch gespielt, bis ich 61 war. Dann hatte ich einen Knöchelbruch und die Bänder weg und die Ärzte haben gesagt: Jetzt ist Schluss. Beim nächsten Mal können wir nichts mehr machen. Seitdem spiele ich nicht mehr. Ich kann noch gehen, laufen tut schon weh. Deshalb spiele ich jetzt ein bisschen Golf, gelegentlich auch mal Tennis im Doppel, wobei das auch nicht gut ist. Aber mit 70 muss man ja auch keinen Fußball mehr spielen oder?


... über die Weltmeisterschaften

Was war für Dich persönlich die schönste WM?

Die schönste WM war 1970 in Mexiko. Meine letzte Weltmeisterschaft. Warum sie die schönste war, ist schwer zu erklären. Die Mexikaner lieben die Deutschen. Die Stimmung war toll für uns. Hunderttausend Menschen im Aztekenstadion und dann diese Begeisterung, das schafft eine unglaubliche Atmosphäre. Das muss man erlebt haben, so etwas kann man gar nicht in Worte fassen.


Ich habe Dich noch in Erinnerung, wie 1966 mit gesenktem Kopf nach dem verlorenen Endspiel vom Platz gingst. Denkst Du heute noch an diese Niederlage?

Für uns war die Schiedsrichter-Entscheidung zum 3:2 unglücklich. Der Schiedsrichter Dienst, übrigens ein ganz guter Schiedsrichter, hatte schon auf Eckball entschieden, aber der Linienrichter bestand darauf, dass der Ball im Tor war. Und da hat Dienst wohl nicht genug Mut gehabt, dagegen zu halten. Für uns musste in so einem Spiel die Tatsachenentscheidung gelten. Das Tor war irregulär, aber die Engländer waren würdige Weltmeister. Sie hatten eine tolle Mannschaft und wir wurden von den Zuschauern als sportliche Verlierer gefeiert. Das war 1966 in England nicht selbstverständlich! Auch die Königin hat uns gratuliert. Ich bin immer noch für die Tatsachenentscheidung, auch wenn es heute andere technische Möglichkeiten gibt.


... über Mäßigung und Selbstkritik

Du bist ja ein Aushängeschild des Sports. Muss man in so einer Position immer perfekt sein?

Ich glaube, das ist heute nicht anders als früher. Früher gab es schließlich die Bild-Zeitung auch schon und hätte ich damals dummes Zeug gemacht, hätte es am anderen Tag genauso in der Zeitung gestanden. Aber der Typ war ich ja einfach nicht. Ich musste mich nie verstellen, für mich gab es den Beruf und den Sport und da wollte ich etwas leisten und etwas erreichen. Ich habe auch sehr früh geheiratet und bin lieber zu Hause geblieben als los zu ziehen.


Hast Du nie über die Stränge geschlagen?

Nee, das liegt mir gar nicht. Man ist wie man ist. Wenn man den Leuten etwas vorspielt, dann merken sie es ganz schnell und nehmen es Dir nicht ab.


Rätst Du den jungen Fußballern, sich zu mäßigen?

Ratschläge gebe ich keine, höchstens, wenn ich ausdrücklich nach etwas gefragt werde. Die jungen Leute denken schnell, man gönnt ihnen nichts. Da halte ich lieber den Mund. Das gilt auch für die sportliche Seite. Viele junge Talente heben zu schnell ab, wenn sie erste Erfolge haben, und dann stürzen sie plötzlich wieder ab, ohne danach wieder hoch zu kommen. Ich kenne viele, die sich selbst überschätzt haben. Selbstkritik geht immer mehr verloren, das ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. "Ich", "ich" und "ich will" und "ich kann", und dazu noch das viele Geld und dann glauben sie von sich selbst, sie sind Pele. Sind sie aber nicht.


... über die Gründe für die Schwäche des HSV in der laufenden Saison, schlechtes Management und kaufmännisches Denken im Fußball

Der HSV ist in dieser Saison in den Keller gerutscht. Woran lag das?

Anfang dieser Saison hat beim HSV gar nichts mehr gepasst und prompt standen wir ganz unten. Von heute auf morgen war das Mannschaftsgefühl verloren gegangen.


Kann der Trainer, oder wer immer für die Mannschaftsverpflichtungen verantwortlich ist, so etwas nicht voraussehen?

Ob es im Menschlichen zusammenpasst, vielleicht nicht, aber ob jemand ins System passt, das kann man schon sehen.


Bist Du sauer auf Vereine wie Bayern, die tragende Spieler wie zum Beispiel Daniel van Buyten einfach wegkaufen?

Das ist legitim, Fußball ist Geschäft. Jeder kann mehr bieten und damit muss man rechnen. Bremen oder Stuttgart zeigen aber, dass Geld auch nicht alles ist. Davon müssen wir lernen.


Woran liegt es, wenn eine Mannschaft wie der HSV, die gerade noch oben war, plötzlich so abbaut?

Das liegt meistens an der Struktur des Vereins. Der HSV hat in dieser Saison falsch eingekauft. Wer 50, 60 Jahre dabei ist, wie ich, glaubt immer noch nicht, Fußball wirklich zu verstehen. Und dann gibt es Leute, die sind ein halbes Jahr dabei und meinen, sie könnten das alles. Aber Fußball ist nicht kaufmännisch. Das ist kein Handelsverein, sondern eben ein Fußballverein. Da muss man genau abwägen und selbst wenn man das macht, kann man Pech haben. Nur muss man das Pech in Grenzen halten. Bayern München hält es in Grenzen.


Warum bleibt der FC Bayern immer oben?

Weil bei denen an den entscheidenden Stellen Leute sitzen, die Fußball-Erfahrung haben. Wenn sie drei neue Spieler kaufen, haben sie zwei dabei, die einschlagen. Die setzen sich auseinander und dann sagen sie " So machen wir es, das ziehen wir durch". Bei uns ist es nicht so. Ich kann nicht mal eben den einen verkaufen, dafür kaufe ich den andern, das geht so nicht. Du kaufst den und dann passt es doch nicht. So war es in dieser Saison. Wir haben uns völlig verspekuliert und dann geht es im Fußball von heute auf morgen in die Tiefe.


Liegt der Misere des HSV also am Präsidenten und am Manager? Braucht der HSV einen Uli Hoeneß?

Ich habe ja versucht es zu erklären. Aber es kommt noch etwas dazu. In der Saison davor stand der HSV ganz oben. Es ist schwer, immer fest auf den Boden zu stehen. Alle sagten: " Da oben sind wir nun mal, da bleiben wir, das machen wir alles". Und ich sage: "Je besser es rollt, je vorsichtiger muss man sein." Im Fußball gibt es so viele Eventualitäten, die man nicht berechnen kann. Ein großer Fehler und es geht den Bach runter.


... über Felix Magath, Franz Beckenbauer und Günther Netzer

Deine Bundesligakollegen sind z.T. später Trainer geworden. Felix Magath zum Beispiel. Wie schätzt Du den ein?

Der Felix ist ein sehr guter. Aber der hat auch sein Lehrgeld bezahlt. Am Anfang war er immer nur der Retter der Vereine, weil er eine harte Welle gefahren hatte, aber mittlerweile hat er dazu gelernt. Ich selber hatte nie Lust, Trainer zu werden. Als guter Trainer entpuppt man sich, wenn man das Gefühl für die Leute hat. Nur die Peitsche, das geht auch nicht. Zuckerbrot und Peitsche ist das Richtige. Bei 25 Spielern im Kader hat man 25 unterschiedliche Charaktere. Da muss man für jeden das richtige Händchen haben.


Du hast auch noch mit Franz Beckenbauer gespielt, oder?

Ja mit Franz habe ich noch gespielt. Das war aber schon eine andere Zeit. Die haben ja alle im Grunde nur noch Fußball gespielt. In den 70er Jahren haben die schon so viel verdient, dass sie davon auch eine Familie ernähren konnten. Mit 1250 DM brutto hätte ich ja nicht mal die Miete bezahlen können. Wir waren damals gezwungen, unsere Arbeit fortzusetzen oder das Studium fertig zu machen. Das hatte für uns immer Vorrang. Für uns war das einfach so.


Wie ist Dein Verhältnis zu Franz Beckenbauer?

Gut, sehr gut. Der Franz ist auch ein bodenständiger, guter Mensch. Der hilft auch anderen. Er ist anders groß geworden als ich, in Bayern, mit "Kaiser" und so weiter. Aber er selbst ist ein gemütlicher Mensch. Der mag es auch lieber einfacher. Aber er ist nun ja Funktionär, wahrscheinlich hat er auch Lust dazu. Der Franz hat wahrscheinlich mehr Ruhe als ich. Wenn der sein Glas Rotwein hat und seine Zigarre, dann sitzt er bis morgens und unterhält sich. Aber ganz ruhig, nie hektisch.


Günter Netzer ist da ein ganz anderer Typ, oder?

Ja gut, der hat Glück gehabt. Günter war ja schon weg vom Fenster. Die ARD hat ihn wieder bekannt gemacht. Und das macht er ja auch gut. Günter ist ja auch kein Dummer. Der ist mit seiner Firma auch in der Lage, ein Geschäft zu machen. Dafür hat er das Format. Er wusste immer genau, was er machte.


... über soziales Engagement und über die Elbe-Werkstätten

Hast Du Kontakt zu Behinderten?

Den habe ich, allein schon über meine Stiftung. Seit vielen Jahren unterstütze ich zum Beispiel Muskelschwund-Patienten. Dann habe ich gute Kontakte zum Ski-Nationalmannschaft. Ich bewundere sehr, was die da leisten.


Wen genau unterstützt Deine Stiftung?

Seelisch, geistig und körperlich behinderte Menschen. Einzelschicksale, Behindertensport und eben Muskelerkrankte. Das Geld bewilligt ein Ausschuss. Ich muss mich immer nur an meine Präambel halten, das wird bei Stiftungen immer sehr genau geprüft. Es ist genau fest gelegt, was ich entsprechend meiner Stiftungszweck unterstützen darf und was nicht. Ich habe schon immer viel gespendet und dann habe ich zu meinem sechzigsten Geburtstag meine eigene Stiftung eingerichtet. Ich hatte auch schlechte Erfahrungen gemacht mit der Wohltätigkeit. Aber mit der Stiftung ist das jetzt so in Ordnung.


Kennst Du die Elbe-Werkstätten oder andere Behindertenwerkstätten?

Werkstätten kenne ich ganz gut. Ich bin schon in Westfalen und auch anderswo in Werkstätten gewesen. Aber die Elbe-Werkstätten kenne ich nur dem Namen nach.


Dann müssen wir Dich doch unbedingt mal einladen.

Ja ich muss mal kommen, das ist richtig.


... über die Bilanz seines Lebens

Noch eine letzte Frage: Wenn Du auf Deine 70 Jahre zurückblickst, hattest Du ein glückliches Leben?

Ja. Ich kann sagen, dass ich rundum zufrieden sein kann mit meinem Leben. Schwierige Zeiten gehören zu einem glücklichen Leben dazu. Wenn immer nur alles glatt liefe, das würde nicht gut sein. Ja, ich kann das bejahen.


Herzlichen Dank für dieses ausführliche Interview, lieber Uwe. Wir hoffen, wir sehen Dich bald einmal in unserer Werkstatt.


*


Quelle:
Schwindelfrei - Das Infomagazin der ELBE-Werkstätten GmbH
Ausgabe 35, Sommer 2007, S. 52-55
Redaktion: Nymphenweg 22, 21077 Hamburg
Tel.: 040/760 19-217, Fax: 040/760 19-273
E-Mail: schwindelfrei@ew-gmbh.de
Internet: www.ew-gmbh.de

Schwindelfrei erscheint zweimal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2007