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POLITIK/265: Die friedenspolitische Bedeutung der Olympischen Spiele (DOSB)


DOSB Presse - Der Artikel- und Informationsdienst
des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Der Tibetkonflikt und die friedenspolitische Bedeutung der Olympischen Spiele

Von Prof. Dr. Helmut Digel


Politiker haben in diesen Tagen einen eigenartigen politischen Wettkampf ausgerufen. Moralische Heuchelei und unverschämter Opportunismus heißen dabei die Wettkämpfe und immer mehr Politiker versuchen sich gegenseitig darin zu überbieten, den deutschen Sport zu belehren und die Autonomie des Sports in Frage zu stellen. Ohne ausreichende sachliche Kenntnis, ohne Möglichkeiten zur direkten Beurteilung der Lage, abhängig von Presseberichten, die nicht selten journalistisch fragwürdig, weil einseitig sind und meist unter einem Mangel an Information leiden, sympathisieren die Politiker mit einer tibetischen Unabhängigkeitsbewegung, erwarten Boykottmaßnahmen des DOSB und empfehlen die Nichtteilnahme politischer Repräsentanten bei der Eröffnungsfeier. Sie stellen die Olympische Charta in Frage, ohne diese auch nur annähernd im Detail zur Kenntnis genommen zu haben. Sie unterstützen einseitig politische Meinungsäußerungen von Athleten und kritisieren nicht weniger einseitig Funktionäre, die angeblich autoritär, starrköpfig, vergreist und inkompetent sind. Sämtliche Vorurteile der in Deutschland üblichen Funktionärsschelte werden dabei gebetsmühlenhaft wiederholt. Diese Art der Kritik kann der Aufmerksamkeit von Medien sicher sein, Massenmedien und Politik spielen ein Ping-Pong-Spiel der moralischen Heuchelei und des politischen Opportunismus.

Angesichts dieser Situation scheint es angebracht, dass man zunächst und vor allem die Fakten sprechen lässt. Dabei muss wohl zuerst über die Fakten des olympischen Sports gesprochen werden, damit jene, die offensichtlich von diesem zu wenig oder nichts verstehen, etwas genauer nachvollziehen können, über was zu sprechen ist. Zu allererst muss dabei festgestellt werden, dass Olympische Spiele an Städte vergeben werden, die sich gemeinsam mit ihren Nationalen Olympischen Komitees beim IOC für die Ausrichtung der Spiele beworben haben. Die Vergabe der Spiele ist dabei nicht an eine Überprüfung der Menschenrechtssituation in den Bewerberländern gebunden. Dies ist durchaus im Sinne von Pierre de Coubertin. Würde man die Einhaltung der Menschenrechte zur Bedingung machen, so gäbe es diese Spiele nicht. Weder hätten jemals Olympische Spiele in den Vereinigten Staaten stattfinden können, noch hätte man die Olympischen Spiele in der ehemaligen Sowjetunion oder in Japan ausrichten dürfen. Folgt man den Erkenntnissen von Amnesty International, so gibt es überhaupt nur wenige Länder in der Welt, in denen die Menschenrechte konsequent zur Anwendung kommen. Die Verletzung von Menschenrechten ist in fast allen Nationen dieser Welt zu beobachten. Der Wunsch, dass in allen Gesellschaften der Welt die Menschenrechte zu beachten sind, hat deshalb durchaus eine aktuelle Relevanz. Wichtig ist allerdings in diesem Zusammenhang, dass die Menschenrechte dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Die Menschenwürde ist unantastbar, sie ist in gewisser Weise aber auch nicht teilbar. Der Vollzug der Todesstrafe in einem Land ist deshalb nicht weniger gewichtig als die eingeschränkte Meinungsfreiheit oder die Religionsfreiheit in einem anderen Land.

Die Planung, Vergabe und Durchführung Olympischer Spiele sollten dennoch im Zusammenhang mit der Menschenrechtssituation gesehen werden. Im Sinne Coubertins sollte es dabei darum gehen, mit den Olympischen Spielen eine Situation zu erzeugen, in der der internationalen Öffentlichkeit die Menschenrechtslage in dem jeweiligen Gastgeberland offengelegt wird. Dabei sollten die Olympischen Spiele möglichst so ausgerichtet werden, dass sie zu einer Verbesserung der Lage jener Menschen beitragen, die unterdrückt werden und deren Menschenrechte bedroht sind. Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser Sichtweise die Situation Chinas und die Vergabe der Spiele an die Olympiastadt Peking, so können wir erkennen, dass die Entscheidung des IOCs zu Gunsten von Peking und für die Durchführung der Olympischen Spiele im August genau diesen Beitrag geleistet hat und leistet, den Coubertin gewünscht hat. Ohne die Vergabe der Spiele an die Stadt Peking gäbe es die aktuelle Diskussion über den Tibetkonflikt nicht, ohne die Vergabe der Spiele hätten die chinesischen Minderheiten und das buddhistische Tibet keinen Bezugspunkt, mittels dessen die aktuelle Diskussion erst ermöglicht wurde. Über das Vehikel der Olympischen Spiele ist in China eine interne Diskussion entstanden, die in ihrer Reichweite heute noch gar nicht zu beurteilen ist. Allein die Tatsache der Vergabe der Spiele hat bereits in den vergangenen acht Jahren eine Internationalisierung innerhalb der chinesischen Bevölkerung, insbesondere in den Großstädten, erbracht, die ihresgleichen sucht. Für die erwünschten Demokratisierungsprozesse in China ist dieser Sachverhalt ausgesprochen bedeutsam. Durch die Schulungsprogramme aus Anlass der Olympischen Spiele hat sich die Verständigungsmöglichkeit der Chinesen ganz wesentlich verbessert, Fremdsprachenkenntnisse wurden erweitert, die internationale politische Kompetenz hat sich erhöht. Der Austausch mit den vielen internationalen Beratern hat ein Übriges geleistet.

Nicht weniger wichtig ist ein zweiter Aspekt der olympischen Idee, so wie sie Pierre de Coubertin geschaffen hat. Olympische Spiele sind nach seinem Verständnis ein Politikum ganz besonderer Art: Es geht dabei um die Realisierung einer friedenspolitischen Idee. Im Gefüge der Weltpolitik haben die Olympischen Spiele ihre politische Funktion darin zu erfüllen, dass sie sich selbst jeder politischen Äußerung im engeren Sinne enthalten und sich als eine Institution auf Zeit definieren, in der alle Beteiligten sich während der 16-tägigen Dauer der Spiele jeder politischen, religiösen und rassistischen Äußerungen enthalten. Schelsky sprach in diesem Zusammenhang vom "Frieden auf Zeit". Es werden damit die Voraussetzungen geschaffen, dass sich Athleten und Athletinnen aus der Welt kennenlernen und sich gegenseitig achten. Dies alles hat ausdrücklich ohne jede Gewalt zu geschehen. Diese Idee mag aus der heutigen Sicht belächelt werden und doch ist diese Idee nach wie vor das konstitutive Merkmal der Olympischen Spiele der Neuzeit. Wer diese Idee verletzt, der gefährdet die Olympischen Spiele und stellt sie in Frage. Deshalb ist es wichtig, dass die Regeln, wie sie über die Charta vorgegeben werden, nach wie vor ihre Gültigkeit haben und von allen Beteiligten eingehalten werden. Wie es für alle übrigen Regeln des Sports gilt, wird zur Teilnahme an den Olympischen Spielen niemand gezwungen. Wer jedoch daran teilnimmt, verspricht, dass er jene Regeln beachtet, die man gemeinsam vereinbart hat. Deshalb können politische Äußerungen während der Wettkämpfe nicht erlaubt sein, deshalb müssen rassistische Artikulationen unterbunden werden, deshalb können religiöse Bekundungen keinen Platz bei den Olympischen Spielen finden. Damit wird keineswegs die freie Meinungsäußerung der Athleten, Trainer und Funktionäre in Frage gestellt. Jeder kann als Individuum seine Meinung äußern, jeder ist mündiger Bürger und kann sich in seiner Mündigkeit sich parteipolitisch artikulieren, Ideologien verfolgen oder für religiöse Minderheiten einsetzen. Dieses Engagement ist jedoch nur außerhalb des olympischen Dorfes und nur außerhalb der olympischen Sportstätten möglich. Es kann vor, nach und während der Wettkämpfe stattfinden. Es ist jedoch territorial von der olympischen Stätte zu trennen, in der die Olympischen Spiele veranstaltet werden. Aus gutem Grund ist es deshalb auch verboten, dass teilnehmende Funktionäre, Betreuer, Trainer und Athleten während der Olympischen Spiele für Massenmedien tätig sind, und aus ebenso gutem Grunde sind die olympischen Sportstätten eine werbefreie Zone und ist die Werbung am Körper des Athleten mit Ausnahme der Logos der Ausrüster limitiert. All diese Regeln sind nicht Resultat geistloser Funktionärsentscheidungen, sie wurden vielmehr in einem 100-jährigen Regel-Entwicklungsprozess zwischen allen Beteiligten ausgehandelt. Athleten, Trainer und Funktionäre haben sich auf diese Regeln verständigt und dabei vereinbart, dass Verstöße zu sanktionieren sind.

Aus der Sicht des Sports ist allerdings nicht nur die besondere politische Qualität der Olympischen Spiele herauszustellen, wenngleich dies die vorrangige Aufgabe des Sports selbst ist. Diesbezüglich sind in den vergangenen Wochen und Monaten ohne Zweifel Versäumnisse zu beklagen. Zum politischen Mandat des Sports gehört, dass er sich aus einer autonomen Haltung heraus auch zu den politischen Fragen äußert, die außerhalb der Olympischen Spiele diskutiert werden und die Spiele direkt oder indirekt betreffen. Bezogen auf die Olympischen Spiele von Peking müssen damit alle Konflikte angesprochen werden, die in Bezug auf die Spiele derzeit zu beobachten sind. Es muss dabei der Darfour-Konflikt zur Sprache kommen, das Verhältnis von Taiwan zu China ist kritisch zu bewerten und die problematische Menschenrechtssituation in allen Provinzen Chinas steht auf dem Prüfstand. Nicht zuletzt muss über den Tibetkonflikt gesprochen werden. Auffällig ist, dass die allgemeine politische Diskussion dabei nur noch den Tibetkonflikt im Zentrum hat. Alle anderen Konfliktlagen und übrigen Menschenrechtsprobleme in dieser Welt, wie sie beispielsweise in Afrika, in Palästina, Israel, im Kosovo oder in Afghanistan anzutreffen sind, werden ausgeklammert und von jenen Politikern als weniger bedeutsam erachtet. Zumindest ist nicht ein vergleichbares Engagement zu erkennen. Leider hat der Sport selbst in der Vergangenheit und auch in diesen Tagen bei all diesen Fragen selten sein politisches Mandat in Anspruch genommen, das er durchaus als autonomes Partnersystem des Staates in Anspruch nehmen darf.

Nimmt man in Bezug auf den Tibetkonflikt dieses Mandat in Anspruch, so sollte der Sport die Politik fragen, warum sich die Politik in Bezug auf die Menschenrechtspolitik in China ausgerechnet des Sports bedient, das eigene politische System hingegen selbst bislang auf diesem Gebiet eher versagt hat und meist wirkungslos geblieben ist. Zu fragen ist auch, warum nicht die anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereiche, wie z.B. die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Kultur in vergleichbarer Weise beansprucht werden, wenn es um die Durchsetzung der Menschenrechte in China geht. In Bezug auf den Tibetkonflikt ist zu fragen, ob der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und jene Repräsentanten der politischen Parteien, die sich zu Gunsten Tibets zu Wort gemeldet haben, das Ziel eines unabhängigen Tibets verfolgen, obgleich sie damit die Ein-China-Politik in Frage stellen, die sie selbst bislang unterstützt haben. Es muss auch gefragt werden, welche zusätzlichen Schritte sie selbst dabei tun, um dieses Ziel zu erreichen. Denn es darf wohl angenommen werden, dass lediglich durch einen Boykott der Olympischen Spiele dieses Ziel nicht erreicht werden kann.

In Bezug auf Tibet sind die Politiker ferner zu fragen, warum und mit welcher Zielsetzung sie die politische Konzeption des Dalai Lama unterstützen, bei der in einem autonomen Tibet die staatliche Führung gleichzeitig das religiöse Oberhaupt wäre. Kirche und Staat sind dabei nicht in jener Weise getrennt, wie dies für alle EU-Staaten üblich ist.

Vielleicht muss der Sport auch die Frage aufwerfen, welches Verhältnis zur Gewalt jene erkennen lassen, die die Proteste zu Gunsten eines autonomen Tibets unterstützen, die politischen Bekundungen während des Fackellaufes begrüßen und sich dafür einsetzen, dass auch bei den Spielen selbst politische Bekundungen erlaubt sind. Die Frage des Verhältnisses zwischen Gewalt und Gegengewalt spielt in der Beurteilung der aktuellen politischen Lage in Tibet derzeit eine entscheidende Rolle. Ohne Zweifel handelt es sich bei China um einen autoritären Staat, dessen Staatsgewalt gegen Minderheiten eingesetzt wird. Das Massaker auf dem "Platz des himmlischen Friedens" spricht eine eigene Sprache. Inner- und außerhalb Tibets ist jedoch schon längere Zeit eine buddhistische Gewalt zu beobachten, die zu Recht auf die Ablehnung des Dalai Lama stößt. Muss diese Gewalt nicht im gleichen Maße als religiös bedingte Gewalt verurteilt werden, wie dies zu Recht gegenüber islamistischer Gewalt geschieht?

Der Sport könnte gewiss noch viele Fragen an die Politik in diesem Zusammenhang richten. Eines wird dabei deutlich: Die derzeit in der Öffentlichkeit über die Olympischen Spiele geführte Diskussion wird von gefährlichen Vorurteilen, Missverständnissen und Unwissen geprägt. Es wird eine opportunistische Moraldebatte geführt, die von Heuchelei geprägt ist und deren eigentliche Ziele nicht offengelegt werden. Gleichzeitig wurde dadurch eine Krise innerhalb der olympischen Bewegung hervorgerufen, die eine Bestandsgefährdung der Olympischen Spiele bedeutet. Ohne oder wider besseres Wissen wird dabei eine wichtige gesellschaftliche Institution in einer globalen Welt in Frage gestellt, für die es gute Gründe gibt, dass man sie auch zukünftig erhält. Die Spiele werden meines Erachtens dringender denn je benötigt.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 16/15. April 2008, DOKUMENTATION I-IV
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2008