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KOMMENTAR/002: Paralympics - Integration statt Emanzipation (SB)



Vorbei die Zeiten, als sich radikale Mitglieder der Krüppelbewegung in den 1970er und 80er Jahren vehement gegen die Vereinnahmung ihrer emanzipatorischen Anliegen durch Integrationsangebote und -veranstaltungen wehrten. Einer der streitbarsten Vertreter der Krüppelbewegung, Franz Christoph, hatte einmal anläßlich einer Messeeröffnung 1981 in Dortmund dem damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens mit seiner Krücke gegen das Schienbein geschlagen, um gegen die mißlungene und entwürdigende Rehabilitationspolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Doch selbst das provokante Störmanöver sowie die Besetzung der Bühne, die die Feierstunde der Honoratioren unter dem harmonischen Titel "Miteinander leben - einander verstehen" zum Platzen brachte, wurde von vielen weniger als entschiedenes Zeichen des Widerstandes begriffen, sondern eher als ein "Programmteil der Gesamt-Show", wie Christoph später einräumte. "Vielleicht sind kritische und ein bisserl aufmüpfige und noch halbwegs lebendig wirkende Behinderte eher als ein Beweis einer gelungenen Rehabilitationspolitik zu benutzen", schrieb Christoph einst seine Erfahrungen nieder.

Fällt es streitbaren, von der Gesellschaft als "Behinderte" disqualifizierte Menschen schon schwer, sich Gehör für ihr politisches Anliegen zu verschaffen, ohne von den etablierten gesellschaftlichen Kräften sofort vor ihren Karren gespannt zu werden, so gilt dies erst recht für Menschen, die sich selbst als "behindert" einstufen und sich damit vollständig die Werte und Normen der sogenannten Nicht- Behinderten zueigen machen.

Ein Extrembeispiel hierfür sind sicherlich die Paralympischen Spiele der körperlich oder geistig behinderten Sportler, die zwei Wochen nach den Olympischen Spielen in Peking um die Anerkennung ihrer sportlichen Leistungen wetteiferten. In ihrem Streben, trotz ihrer Behinderung als normal und von allen akzeptiert zu gelten, unterzogen sie sich einem fast identischen Wettkampfprogramm wie die "Funktionskrüppel" des normalen Hochleistungssports, nur daß sie sich noch weitgehender als die Normalos, die bekanntlich ebenfalls klassifiziert und nach Sportarten, Disziplinen, Geschlecht oder Gewichtskategorien getrennt werden, in verschiedenste Schadensklassen einsortieren ließen. Dies dient dazu, gleiche Bedingungen zu suggerieren, mehr aber noch, die Sportler in Konkurrenzverhältnisse zu bringen, um ihre Leistungen messen und Rangfolgen aufstellen zu können. Aus der Hierarchisierung der Leistungen dürfen die Sportler dann soziale und materielle Anerkennung, Freude oder Verdruß schöpfen. Zugleich demonstrieren die Athleten mit ihrer Teilnahme die grundsätzliche Bereitschaft, sich den Regeln, Normen und Werten der Gesellschaft zu unterwerfen.

Vom einstigen politischen Ansatz der Krüppelbewegung, nicht die ihnen auferlegte Integration in eine Leistungsgesellschaft anzustreben, die mit normativer Gewalt ihre soziale und körperliche Diskriminierung und Ausgrenzung betreibt, sondern die nichtbehinderte Öffentlichkeit mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten zu konfrontieren, scheint nicht einmal mehr die Erinnerung geblieben zu sein - so sehr dominiert in den Medien und unter den Funktionären sowie erfolgreichen Athleten die Sichtweise, daß sportliche Leistungen gesund und normal, nützlich und wertvoll machen.

Bezeichnenderweise wurden in den Medien nicht nur jene paralympischen Sportlerinnen und Sportler besonders bejubelt und zu Helden erkoren, die mit ihren Medaillen die staatlichen Fördergelder für den Behindertensport rechtfertigten, sondern die das Ausbeutungsprinzip des Hochleistungssports, trotz angeschlagener Physis noch wettkampftauglich und leistungsbereit zu sein, am vehementesten verkörperten. Höchste Wertschätzung in der bürgerlichen Sportpresse erntete folglich der oberschenkelamputierte Wojtek Czyz vom 1. FC Kaiserslautern, der trotz Operationen am Stumpf und am Kiefer, eines Pfeiffer'schen Drüsenfiebers zu Beginn des Jahres und eines kurz vor der Abreise nach Peking diagnostizierten Mittelfußbruchs am "gesunden Bein" (Süddeutsche Zeitung) unter beträchtlichen Schmerzen 6,50 m weit sprang und damit Weltrekord erzielte.

An dem Ex-Profifußballer hätten sich die erkrankten, verunfallten, verletzten und halbinvaliden deutschen Elite-Leichtathleten, die aus nämlichen Gründen bei den Olympischen Spielen nicht an den Start gegangen waren, gefälligst ein Beispiel nehmen sollen - so die versteckte Botschaft nicht nur an das Team des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, das von der Olympiade lediglich mit einer Bronzemedaille heimkehrte und mithin für das schlechteste Ergebnis seit 104 Jahren gegeißelt wurde, sondern an alle Menschen mit welchen körperlichen, geistigen oder sozialen Handikaps auch immer. Diese Botschaft, die aus gesellschaftlicher Ausgrenzung persönliches Versagen und Schuldzuweisungen konstruiert, versucht allerdings zu verschleiern, daß im integrativen Streben nach Anerkennung und Erfolg, zumal auf der leistungssportlichen Schiene der Konkurrenz und Selektion, eben jene Unterschiede schaffenden Wettbewerbsbedingungen zementiert werden, die den nützlichen, starken, wertvollen und erfolgreichen Athleten in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung rücken, während all die minderbemittelten, lahmen, kranken, meist namenlosen Verlierer auf der Strecke bleiben.

Nicht Kritik und Inakzeptanz der krankmachenden, verschleißenden, deformierenden und bis zur eigenen physischen Vernichtung reichenden Ausbeutungsformen bei Arbeit, Produktion und Krieg sowie ihrer reproduktiven Ableger im Leistungssport stehen im Vordergrund der Berichterstattung über die Paralympics, sondern Affirmation und lohnende Teilhabe an den gesellschaftlichen und ökonomischen Verwertungsbedingungen.

Bezeichnenderweise lautet das Credo der knapp zweiwöchigen Leistungsschau, daß die Professionalisierung im Behindertensport zugenommen habe, wie auch der Deutsche Olympische Sport-Bund freimütig resümierte: "Nur wenn die deutschen Paralympioniken professioneller sporten können, wenn auch hier Eliteschulen, neue Trainingszentren, mehr hauptamtliche Trainerstellen geschaffen und die Athleten durchgängig in den leistungsmäßig nahen 'normalen' Spiel- und Wettkampfbetrieb eingebunden werden, können sie international konkurrenzfähig bleiben und Helden werden - und so auch als Repräsentanten einer viel größeren Gruppe deren Wahrnehmung Stück für Stück verändern."

Die verstärkte Einbindung der behinderten Sportler in den normalen leistungssportlichen Verschleißbetrieb läuft offenbar nicht nur auf "Chancengleichheit" bei der funktionellen Zurichtung und Optimierung des Bewegungsapparates in den sportwissenschaftlichen Fitmacherlaboren und orthopädisch-traumatologischen Reparaturwerkstätten der Olympioniken hinaus, ohne die der Leistungssport nicht zu denken wäre, sondern auch auf deren leistungsgerechte Verstümmelung. Das hätte der Silbermedaillengewinner des 100-m-Laufs, der Leverkusener Heinrich Popow, mit seinem Spruch, "mein Handicap ist mein gesundes Bein", nicht besser auf den Punkt bringen können.

Nein, wie die vielzitierte Wahrnehmungsveränderung des Massenpublikums gegenüber Behinderten aussieht, davon legte die gesamte bürgerliche Presse beredtes Zeugnis ab, als sie tagelang Lobeshymnen auf die immer zahlreicher werdenden Kriegsversehrten sang, die nun, nachdem ihnen als Soldaten Beine oder Arme weggesprengt wurden, bei den Paralympics ihre Funktionstüchtigkeit unter Beweis stellen dürfen. "Ich habe für die USA auf dem Schlachtfeld gekämpft, jetzt kann ich für mein Land gewinnen", sagte der gelähmte Kriegsinvalide und Kugelstoßer Scott Winkler. "Wenn der Preis für Demokratie im Irak mein Bein ist, dann zahle ich gern", zitierte "Der Spiegel" die Schwimmerin Melissa Stockwell, eine von rund 800 amerikanischen Soldaten, die im Irak ihre Gliedmaßen, Seh- oder Hörfähigkeit verloren haben. "Die Soldaten sind jung, zäh und diszipliniert, ihre Ausbilder haben sie gedrillt, unerbittlich zu sein mit sich selbst. Das macht sie zu idealen Athleten", schrieb "Der Spiegel", und die "Welt" stimmte ein: "Bei den Paralympics werden Kriegsopfer zu Helden".

Sport und Militär scheinen wieder im Gleichschritt zu marschieren, im Geiste einig, daß das Menschenmaterial auf dem Schlachtfeld und in der Sportarena nach Erfolg, nach Medaillen, nach sozialer Anerkennung strebt. Hauptsache, es funktioniert und läßt sich problemlos integrieren. Dann ernten auch die Behinderten den gerechten Applaus des Publikums. Der Trick ist alt: Ebenso wie die neoliberale Propaganda Freiheit unter Armutsbedingungen verspricht, suggeriert der Hochleistungssport Toleranz unter repressiven Verhältnissen. Schon erschallt der Ruf, auch die behinderten Sportler noch stärker in das Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsregime der Dopingbekämpfung, das die Grundrechte der Athleten mehr und mehr beschneidet und eine Verdachts- und Denunziationskultur etabliert, die jeden Vergleich spottet, einzubeziehen.

Nichts Geringeres als die bewußte, zielsichere und systematische Ausmerzung jedweden emanzipatorischen Ansatzes, eben nicht normal und gesund, sprich unter den Vorgaben des Systems funktionstüchtig und ausbeutbar zu sein, steht auf der Agenda einer Rehabilitationspolitik, die gesellschaftliche Integration predigt, aber Selektion nach leistungssportlicher Verwertungslogik betreibt. Sollte die nahezu entpolitisierte Behindertenbewegung schlußendlich im entpolitisierten Sport angekommen sein und vollends die Interessen der sie ausgrenzenden Kräfte vollziehen? Die Ziele der paralympischen Athleten scheinen indessen immer bescheidener auszufallen. "Bisher durften wir im Fernsehen allenfalls bei Aktion Mensch auftreten. Aber das reicht uns nicht. Wir wollen ins Sportstudio", sagte Sprintstar Heinrich Popow in Peking. Er hätte nicht deutlicher ausdrücken können, wie sehr ihn das Verlangen, ausgerechnet dorthin zu gelangen, wo die Show des Leistungsfetischismus die ärgsten Gemeinplätze produziert, umtreibt.

6. Oktober 2008